Nach über drei Jahrzehnten – Auf dem Weg zur neuen Blockbildung

Zu Beginn des Ukraine-Kriegs stellte die Bundesregierung die Lieferung von einigen Tausend Schutzhelmen für die ukrainische Armee in Aussicht. Mittlerweile wird die Lieferung von schweren Waffen, u. a. Panzerhaubitzen, versprochen und ukrainische Soldaten werden in Deutschland in diesen Waffen ausgebildet.

Würden die Soldaten stattdessen in der Ukraine an den Haubitzen von deutschem Personal ausgebildet, so wäre Deutschland, also ein Nato-Staat, förmlich-rechtlich an dem Krieg auf ukrainischer Seite beteiligt. Da die Ausbildung auf deutschem Boden erfolgt, gilt die Bundesrepublik als nicht-beteiligt.

Es mutet grotesk an, wie hier die politisch-faktische Kriegsbeteiligung der deutschen Regierung – und insgesamt der Nato – zur juristisch-fiktiven Nicht-Beteiligung verzaubert wird. Dies funktioniert, weil beide Kriegsparteien daran interessiert sind. Eine förmliche Nato-Beistandschaft für die Regierung der Ukraine würde das Risiko einer geographischen Ausweitung des Krieges ungeheuer steigern und den Einsatz nuklearer Waffen in greifbare Nähe rücken. Die Gefahr eines Dritten Weltkrieges läge damit nahe; daran kann die russische Seite kein Interesse haben. Aber auch die US-Regierung und ihre Nato-Verbündeten streben eine solche Auseinandersetzung derzeit jedenfalls nicht an, auch wenn sie militärisch und wirtschaftlich Russland offensichtlich überlegen sind.

Nach nun mehr als zwei Jahren der Corona-Pandemie bewirkt der Ukraine-Krieg für alle beteiligten Staaten eine erhebliche Steigerung der Staatsverschuldung – in Deutschland auch ohne Berücksichtigung des geplanten Sondervermögens für die weitere Aufrüstung der Bundeswehr. Mit dem Ergänzungshaushalt, der zusätzliche Ausgaben und wegfallende Einnahmen vor allem wegen des Ukraine-Kriegs vorsieht, steigt die Nettokreditaufnahme der Bundesregierung in diesem Jahr um 39,2 Milliarden auf fast 140 Milliarden Euro (FAZ, 28.4.2022). Solange die EZB ihr Anleihekaufprogramm weiter betreibt und kaum Zinsen auf die Kredite fällig werden, ist das kein großes Problem. Aber es ist absehbar, dass die – eigentlich verbotene – Staatsfinanzierung, welche die EZB faktisch betreibt (und die juristisch dadurch bemäntelt wird, dass die EZB die Anleihen nicht direkt von den Staaten kauft, sondern auf dem Zweitkäufermarkt von Privatbanken), weniger attraktiv wird, wenn im Zuge der Inflationserwartungen höhere Zinsen verlangt werden. Darüber hinaus ist der Ukraine-Krieg für alle Staaten ein Inflationstreiber – direkt und indirekt. In seinem sehr informativen und materialreichen YouTube-Vortrag vom 22. April 2022 klärt Michael Lüders über die wirtschaftlichen Folgen dieser Auseinandersetzung auf. (Der Vortragstext ist auf unserer Homepage nachzulesen.)

Umso wichtiger ist es zu klären, warum u. a. die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sich einmütig hinter die Politik, und insbesondere die Sanktionspolitik, der USA gegen Russland stellen. Einem Wort von Franz Mehring zufolge sind sich die herrschenden Klassen einer Gesellschaft – im Unterschied zu den beherrschten Klassen – stets ihrer gemeinsamen Interessen bewusst. Warum also opfern sie ihre wirtschaftlichen Vorteile, die ihnen der preisgünstige Bezug der energetischen und mineralischen Rohstoffe von Russland bringen, dem Bündnis mit der US-Wirtschaft, die so gut wie keine Handelsbeziehungen mit Russland unterhält? Die Gründe können ganz sicherlich nicht ökonomischer Art sein. Die Verteuerung dieser Rohstoffe führen zwingend zu höheren Preisen und verschlechtern die Wettbewerbslage auf allen Märkten, wohingegen die US-Konzerne weiterhin günstigen Zugang zu Erdöl und Erdgas haben. Es liegt also nahe, den Hauptgrund in geostrategischen Interessen der maßgeblichen herrschenden Klassen in der EU zu suchen. Tatsächlich ist es für die in Brüssel vertretenen Regierungen eher von Vorteil, wenn sie einem vor allem militärisch geschwächten Russland gegenüber stehen, das nicht mehr Weltmacht, sondern bestenfalls Regionalmacht ist. Das hilft ein wenig, die zentrale Schwäche der EU-Staaten zu kompensieren, dass sie im Allgemeinen über keine gemeinsame Außen- und Militärpolitik verfügen. Stattdessen müssen sie in jedem Konfliktfall langwierig verhandeln, um Kompromisse zu finden. Die Schwächung des Staates mit der weltweit größten Landmasse, Russlands, stärkt somit die künftige Verhandlungsposition der EU mit welcher russischen Regierung auch immer. Das bliebe auch dann so, wenn wieder normale Wirtschaftsbeziehungen aufgenommen würden.

Wir hatten bereits in der Arpo 3-4/2019 geschrieben, dass es das Interesse auch des deutschen Kapitals sein muss, die EU als seine wirtschaftliche Basis zusammenzuhalten. Dazu ist es aber alleine nicht in der Lage: „ …die inneren Widersprüche in der EU treiben geradezu, mit einem äußeren Feind diese Widersprüche zu übertünchen und die EU zu vereinen. Der äußere Feind ist erst einmal Russland.“ Das erklärt die zurzeit vorherrschende Einigkeit in der EU und die Unterwerfung unter die US-Politik.

Dieses Szenario berücksichtigt allerdings nicht, dass die Ziele der US-Politik weiter gehen, als es den herrschenden Klassen in der EU lieb sein kann. Die wechselnden US-Regierungen haben in den letzten Jahren klargemacht, dass für sie die Auseinandersetzung mit dem Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht – und dessen Verhinderung – im Zentrum ihrer Politik steht. Die Schwächung Russlands – militärisch und politisch – ist in diesem Zusammenhang ein Aspekt ihrer Politik, ebenso wie ihre Herrschaft über die Nato nach ihren Fiaskos in Irak und Afghanistan. In diesem Punkt unterscheiden sich die geostrategischen Interessen der EU und der USA, die beide bedeutende Handelsbeziehungen mit China unterhalten. Auch wenn es seitens Frankreichs, auch unter der Präsidentschaft Macrons, immer wieder Versuche gab und gibt, die EU in Richtung eines föderativen Staatenverbunds zu entwickeln, so ist doch ein Kampf um die Position einer politisch-militärischen Weltmacht unter den gegenwärtigen Voraussetzungen wenig realistisch.

Die US-Regierungen konnten die russische Führung erfolgreich mit der Aufrüstung der Ukraine provozieren. Mit einem Militärbündnis mit Taiwan könnten sie jederzeit – analog des Ukraine-Abenteuers – eine kriegerische Auseinandersetzung mit China provozieren – das wissen sie und das weiß die ganze Welt. Es ist wohl nicht davon auszugehen, dass die US-Regierung derzeit einen Dritten Weltkrieg vorbereitet. Aber ein solches Taiwan-Abenteuer mit anschließendem weltweiten Wirtschaftskrieg gegen China – so wie derzeit gegen Russland – würde die Welt faktisch erneut in zwei Blöcke spalten: Auf der einen Seite die „Bösen“ Russland, China, Iran; auf der anderen die „Guten“ USA, Japan, Australien und die europäischen Nato-Mitglieder. Daneben auch wieder ein Block der „Blockfreien Staaten“ Indien, Pakistan, afrikanische und nahöstliche Staaten.

Nach den Erfahrungen mit der Entfesselung des russisch-ukrainischen Krieges im Jahr 2022 ist ein solches Szenario durchaus denkbar. Es liegt im Interesse der lohnabhängigen Klassen und sicherlich auch Teilen der europäischen herrschenden Klassen, dass es zu einer solchen Entwicklung nicht kommt. Tatsächlich ist unter kapitalistischen Konkurrenzbedingungen schwer vorstellbar, dass sich die europäischen Bourgeoisien willentlich und freiwillig einer solchen US-Hegemonie ausliefern. Was hätten die USA ihnen denn zum Ausgleich für die russischen und vor allem die chinesischen Märkte anzubieten? Anders als zur Zeit der Sowjetunion gibt es keinen grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Gegensatz zwischen den Akteuren, wo die politischen die ökonomischen Interessen grundsätzlich überlagerten. So wird nun während des Krieges eine Einigkeit „des Westens“ propagandistisch beschworen. Nach seinem Ende werden die Risse wieder sichtbarer werden, die durch die unterschiedlichen Interessen gegeben sind.

Die wahren Opfer des Krieges sind die lohnabhängigen Klassen auf beiden Seiten – die Kriegspropaganda der beteiligten herrschenden Klassen über die privaten und Staatsmedien, die in ihrer Hand sind, will diese Tatsache durch die Konstruktion von Feindbildern verdecken. Auch nach dem – momentan nicht absehbaren – Ende des Krieges werden die durch Kredite finanzierten Kriegskosten und die Kosten des Wiederaufbaus allein von den Lohnabhängigen bezahlt werden müssen – den (Rüstungs-)Konzernen die Profite, den Lohnabhängigen die Rechnungen. Unsere Forderung muss daher lauten: Schluss mit dem Krieg – keine weitere Osterweiterung der Nato – Finanzierung der Kosten durch Besteuerung der Reichen.

10. 5. 2022


aus: Arbeiterpolitik Nr. 4/5 2022

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