Der Neukölln-Komplex:
Neonazis terrorisieren, die Behörden schauen zu

Korrespondenz

Solidaritätskundgebung für die Betroffenen am 3. Februar 2018 vor dem Neuköllner Rathaus
Kappa-Photo / Umbruch-Bildarchiv

Im Berliner Bezirk Neukölln wurden ein Jahrzehnt lang Immigranten und Menschen, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren, attackiert. Sie wurden verprügelt, auf der Straße und am Telefon bedroht, die Scheiben ihrer Häuser, Läden und Cafés und Büros wurden eingeworfen und mit Morddrohungen beschmiert, ihre Autos und Häuser angezündet. Auf Grund des Zeitpunktes, zu dem sie begangen wurden, und der verwendeten Materialien tragen die Taten eine eindeutige Handschrift und können einer bestimmten Gruppe von Neonazis zugeordnet werden, die von Rudow aus operieren, einem Stadtteil im Süden Neuköllns. Die Hauptverdächtigen sind 1. Sebastian T. (34), wegen Gewalttaten vorbestraft, zeitweilig Bezirksvorsitzender der NPD, 2016 aus dem Gefängnis entlassen, kurz bevor die ersten Autos brennen, 2. Tilo P. (37), gehörte dem AfD-Bezirksvorstand an, und 3. Julian B., Wahlkandidat der NPD, auch polizeibekannt.

2011 veröffentlichte diese Gruppe auf ihrer Internetseite ein Foto, auf dem sie sich hinter einem Transparent versammelt hat mit der Aufschrift: „Linke Strukturen Angreifen und Vernichten! Wo bleibt euer Widerstand? Bei uns startet schon der Angriff!“ (Rechtschreibung im Original)

Zwei rassistisch motivierte Morde in Neukölln

Die Morde an Burak Bektas und Luke Holland passen zwar nicht in das Täterprofil der Rudower Bande, sollen hier aber erwähnt werden, weil sie zeigen, was passiert, wenn Rassisten nur einen kleinen Schritt weiter gehen. Beispiele für rechtsextreme Morde gibt es in Deutschland zuhauf, laut Langzeitrecherche des Tagesspiegel vom 1.10.2020 sind es 187 seit 1990.

5. April 2012 in der Gropiusstadt, Rudower Straße: Burak Bektas ist in der Nacht mit Freunden unterwegs. Ein Mann tritt auf die Gruppe zu und schießt ohne ein Wort zu sagen mit einer Pistole. Drei Männer brechen zusammen, der 22jährige Burak überlebt nicht. Der Mörder entkommt unerkannt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nach dem Muster der NSU-Morde „in alle Richtungen“, kann aber keinen Täter präsentieren. Durch welche Waffe Burak getötet wurde, hat die Polizei bis heute nicht bekannt gegeben. Mittlerweile ist das Verfahren praktisch eingestellt, wenn auch die Rechtsanwälte der Familie ab und zu hinhaltende Auskünfte bekommen. Durch ein Denkmal und Demonstrationen wird das Andenken an Burak wach gehalten.

20. September 2015 Nord-Neukölln, Ringbahnstraße: Vor einer Kneipe telefonierte der 31jährige Brite Luke Holland auf Englisch. Der 63jährige Rolf Zielezinski erschoss Luke ohne Vorwarnung mit einer Schrotflinte. Z. und Luke kannten sich nicht und haben auch nicht miteinander gesprochen. Z. hatte sich zuvor abfällig darüber geäußert, dass in seiner Stammkneipe seit geraumer Zeit mehr Englisch und Spanisch als Deutsch gesprochen werde. In der Wohnung von Z. fanden sich Waffen und Nazi-Devotionalien einschließlich einer Hitler-Büste. Die sichergestellte Pistolenmunition könnte zu den Schüssen auf Burak Bektas passen. Eine Verbindung zu diesem Fall wurde aber nicht gezogen. Für das Gericht, das Z. zu 11 Jahren Haft verurteilte, war dieser Neonazi eine Art Antiquitätensammler und seine Tat ein Mord ohne Motiv.

Im Folgenden listen wir einige der über 70 Taten auf, darunter 23 Brandanschläge, die bisher nicht aufgeklärt sind, aber der Gruppe zugeordnet werden.

Juni und November 2011, Britz: Das Anton-Schmaus-Haus, Treffpunkt für Kindergruppen und Jugendliche der Falken, wird angezündet; das erste Mal vermutlich aus Rache für Aktionen von Antifaschisten gegen die NPD, womit allerdings die Falken nichts zu tun hatten.

Ab September 2011, Britz: Insgesamt sieben Mal werden Haus und Auto der Familie S. in der Hufeisensiedlung attackiert, nachdem Frau S. sich geweigert hatte, NPD-Wahlpropaganda entgegen zu nehmen. Das war übrigens der Anlass zur Gründung der solidarischen Anwohnerinitiative ‚Hufeisern gegen Rechts‘, die seitdem sehr erfolgreich antifaschistische Arbeit macht.

Zwischen Juni 2016 und Februar 2018 werden in Rudow, Britz und der Gropiusstadt, den südlichen Stadtteilen von Neukölln, immer wieder Autos zu nächtlicher Stunde angezündet. Betroffen sind Bezirksverordnete der SPD, Aktive in der Flüchtlingshilfe, Mitarbeiter*innen der Falken, ein IG Metaller, ein Kommunalpolitiker der Linkspartei, ein Buchhändler und andere Menschen, die sich links, antirassistisch oder gegen Rechtsextremismus engagieren.

Dezember 2016, Rudow: Bei der Buchhandlung Leporello fliegen Steine in das Schaufenster, das Auto des Eigentümers geht in Flammen auf. In der Buchhandlung hatte Tage zuvor eine Veranstaltung mit dem Titel „Was tun gegen die AfD? Aufstehen gegen Rassismus“ stattgefunden.

Nord-Neukölln: Sechs Häuser werden mit Morddrohungen gegen dort wohnende Antifaschist*innen beschmiert. Nach demselben Muster wurden auch im Februar 2017 sechs Häuser beschmiert und im März 2019 vier Häuser.

November 2017, Britz und Nord-Neukölln: Insgesamt 16 „Stolpersteine“ für Ermordete des Nazi-Regimes wurden in der Nacht vom 6./7. 11. ausgegraben und verschwanden für immer, konnten aber mit Hilfe einer Spendenaktion schnell ersetzt werden.

Zwischen Dezember 2018 und Juni 2020 wurden mehrfach in Nord-Neukölln in der Wildenbruchstr. (viele Anwohner mit Migrationsgeschichte) Hauseingänge, ein Imbiss, ein Späti, Läden und Lokale attackiert, in Brand gesteckt, mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert und Reifen zerstochen.

Oktober 2019 und Juni 2020, Nord-Neukölln: Die bekannte Konditorei Damaskus in der Sonnenallee wird mit Nazi-Symbolen beschmiert, Schaufenster werden eingeworfen, ein Lieferwagen brennt ab.

Sebastian T. – ein Sozialschmarotzer

Das, was alle Rassisten gerne den Asylsuchenden vorwerfen, nämlich dass sie das Sozialsystem ausnutzen, hat T. versucht. Er hat einen nicht-existenten Garten- und Landschaftsbaubetrieb gemeldet und sich im Mai 5000 Euro Corona-Hilfe von der Investitionsbank Berlin auszahlen lassen. (vergleiche Tagesspiegel vom 10.09.2020) Man sollte ihn abschieben! Aber wohin?

Statt aufzuklären – die Ermittler verharmlosen und vertuschen

2005: Auf der Internetseite nw-berlin.net werden Hunderte Namen, Fotos und Adressen von Personen, Läden und Lokalen veröffentlicht, die den Neonazis ein Dorn im Auge sind. Die Polizei sieht „keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung“ und stellt alle Verfahren ein. Betroffenen von Attacken auf ihre Büros, Läden und Wohnungen wurde empfohlen, doch die Jalousien runterzulassen.

2016: Unter dem Innensenator Henkel (CDU) wird die Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus (EG Rex) bestehend aus drei Neuköllner Beamten aufgelöst mit der Begründung, der Überwachungsdruck hätte zu einer deutlichen Reduzierung rechtsextremer Straftaten geführt. Der Tagesspiegel bedauerte: „Die Männer hatten Überblick über die rechte Szene des Bezirks, statten Vorbestraften Besuche ab, waren bei Aufmärschen und kannten Plätze wie den U-Bahnhof Rudow, an denen sich Nazis trafen.“ (05.03.2017) Auch etliche Engagierte, z. B. aus der Anwohnerinitiative ‚Hufeisern gegen Rechts‘, hatten Vertrauen in die EG Rex und forderten ihre Wiedereinsetzung, was auch im März 2017 unter dem neuen Innensenator Geisel (SPD) erfolgte.

Am 13.08.2020 enthüllte die „taz“, dass der Polizist K. der EG Rex wegen einer rassistisch motivierten Gewalttat gegen einen Asylbewerber vor Gericht steht. Dieser Beamte hatte jahrelang Kontakte zu Betroffenen und Unterstützern und konnte jede Menge Informationen sammeln. Da erscheinen die Besuche des Polizisten K. bei den Neonazis in ganz neuem Licht.

2017: Der leitende Staatsanwalt des Staatsschutzes bekundete dem Neonazi P. gegenüber seine Sympathie für die AFD, was diesem natürlich ein heimeliges Gefühl vermittelte. P. teilte sich darüber einem Kumpan der AfD mit. Dieser Chat wurde vom Verfassungsschutz aufgezeichnet und dadurch einem zweiten mit den Neuköllner Fällen befassten Staatsanwalt bekannt. Der wiederum behielt das lange für sich. Als dies herauskam, konnte die Polizeipräsidentin dann nicht umhin, beide Staatsanwälte schließlich im August 2020 zu versetzen, damit nicht weiteres Vertrauen verspielt werde.

2018: Auswärtige Verfassungsschützer, die zur Überwachung bekannter Neonazis unterwegs waren, beobachteten, wie diese das spätere Opfer Ferat Kocac ausspionierten. Die Observierer gaben ihre Beobachtungen zwar an die Polizei weiter, aber der Betroffene wurde nicht gewarnt. Einige Tage später ging sein Auto in Flammen auf, das Feuer griff auf das Haus über. Es konnte gestoppt werden, kurz bevor es die Gasleitung zerstört hätte. Die Familie entging nur knapp der Katastrophe.(vgl. Liste oben: Februar 2018)

2020: Das dürftige Ergebnis der Tätigkeit dreier polizeilicher Ermittlungsgruppen ist eine Anklage gegen T. und P. wegen zwölf nächtlicher Schmierereien („MORD AN HESS“ mit SS-Runen) im August 2017 aus Anlass der Wiederkehr des Todestages von Rudolf Heß, dem Stellvertreter Hitlers. Zum Prozessauftakt im August 2020, immerhin drei Jahre nach den Taten, hatten einige Polizei-Zeugen aber keine volle Aussagegenehmigung ihrer Behörde. Daraufhin brach die Richterin den Prozess ab und die Angeklagten wurden erst mal wieder nach Hause entlassen.

Wenn es gegen Linke geht oder solche, die man dafür hält, zeigt die Staatsanwaltschaft mehr Eifer. Sie schämte sich nicht, im August 2020 zwei Menschen anzuklagen, sie hätten den Zeugen Sebastian T. in seiner Ehre verletzt. Die Angeklagten hätten in Rudow ein Plakat aufgehängt, auf dem T. und ein weiterer Neonazi als verantwortlich für Anschläge, Propaganda, Übergriffe und Mordversuche in Neukölln bezeichnet wurden. Der Versuch der Staatsanwaltschaft den mehrfach vorbestraften Sebastian T. vor „übler Nachrede“ zu beschützen, schlug zum Glück fehl. Die Angeklagten wurden frei gesprochen. (Tagesspiegel, 13.08.20)

Die Berliner Datenschutzbeauftragte M. Smoltczyk stellte fest, dass Beamte des LKA aus dem Polizeicomputer Daten über in Neuköllner wohnende Adressaten rechtsextremer Morddrohungen („für … Kopfschuss“) ohne ersichtlichen dienstlichen Bezug abgefragt hatten. Smoltczyk fand es „
äußerst irritierend“, dass die Polizei die betreffenden Beamten nicht nennen will. (Tagesspiegel, 14.08.20)

Protest gegen rechten Terror und schleppende Ermittlungen am 3. Februar 2016
(Foto: Heba / Umbruch-Bildarchiv)

„Wir wissen doch alle, wer die Autos anzündet. (…)
Aber keiner kann es T. nachweisen.“1

Wenn das der Neonazi Tilo P. einem Ermittler am 5. Februar 2018 nach einer Vernehmung ins Gesicht sagt, dann ist das rotzfrech und spricht dafür, dass sich die Bande sicher fühlt. Wenn aber der Berliner Innensenator Geisel bei der Vorstellung des Abschlussberichts der polizeilichen Untersuchungskommission Fokus nach eineinhalb Jahren ihrer Tätigkeit am 26. September 2020 sinngemäß dasselbe sagt, dann ist es eine Offenbarung. Der Tagesspiegel schreibt:

„Die Ermittler haben mehr als 70 Fälle – Brandanschläge, Schmierereien, Drohungen – aufgerollt. Zwar halten sie die Neonazis Sebastian T., Tilo P. und Julian B. für die Täter, können es aber nicht nachweisen.“2

Anscheinend traut aber der Senator selbst seiner Polizei nicht, denn er hat angekündigt, dass er eine externe Sonderermittlungsgruppe berufen werde, die die Anschlagsserie erneut untersuchen und auch prüfen solle, ob es Netzwerke zwischen Rechtsextremisten und Ermittlern gibt. Die Sonderermittler werden ordentlich zu tun haben, hat doch der Bericht des ARD-Magazins ‚Monitor‘ vom 01.10.2020 aufgedeckt, dass 25 Beamte einer Berliner Polizeiwache über drei Jahre lang rassistische und menschenverachtende Chats ausgetauscht haben. Es dürfte niemanden wundern, wenn es sich dabei um die Rudower Wache handelt, in der der Polizist K. weiter seinen Dienst leistet. (vergleiche Tagesspiegel vom 27.09.2020)

Zehn Jahre Ermittlungsarbeit haben ein mageres Ergebnis, eine Anklage wegen nächtlichen Sprühens. Das macht nicht nur die Betroffenen wütend, damit machen sich die Verfolgungsbehörden unglaubwürdig. Dies kann auch die bürgerlich-liberale Öffentlichkeit nicht durchgehen lassen. Die Linkspartei hat sich deshalb die Forderung der Neuköllner Aktiven nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu eigen gemacht und auch Geisel will einen solchen nicht mehr ganz ausschließen. Darauf zu hoffen, dass das Parlament die Verbindungen des staatlichen Sicherheitsapparats zu den Faschisten vollständig aufdecken wird, wäre eine Illusion. Ein solcher Ausschuss wird bestenfalls so viel Licht in dieses Dunkel bringen, dass das Vertrauen in die Sicherheitsorgane wieder hergestellt ist. Wer dabei hinderlich ist, wer sich allzu offensichtlich mit denen eingelassen hat, die zur Unzeit neue SA spielen, wird aus dem Verkehr gezogen.

Auszüge aus einem Interview mit Ferat Kocak in ‚Marx21!

Du hast den Brandanschlag auf Dich schon erwähnt. Der Verfassungsschutz hatte die mutmaßlichen Täter vorher beobachtet und die Polizei informiert. Diese unternahm aber nichts.

Die mutmaßlichen Täter waren über längere Zeit vom Verfassungsschutz observiert worden. Man wusste die ganze Zeit, dass ich ein Anschlagsziel bin. Es gibt Tonbänder, auf denen festgehalten ist, wie sie versuchen, herauszufinden, wo ich wohne. Und es gibt Tonbänder, die nachweisen, dass sie das herausgefunden haben. Trotzdem wurde ich von der Polizei nicht gewarnt. Die Begründungen dafür sind mir schleierhaft: Die erste lautete, dass ich nicht als gefährdet angesehen worden sei, weil ich mich nicht gegen rechts und für Geflüchtete eingesetzt hätte. Das stimmt nicht, ich bin seit 2016 im Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ aktiv. Die zweite Begründung war, dass der Polizeicomputer mich nicht identifizieren konnte, weil die mutmaßlichen Täter meinen Namen falsch geschrieben hätten. Auch das ist Unsinn, der Polizeicomputer findet auch ähnliche Namen, das hat ein Journalist inzwischen auch überprüft. Die dritte Ausrede hieß dann, beim Verfassungsschutz ginge Quellenschutz vor Opferschutz. Aber der Verfassungsschutz hat nach eigener Aussage freigegeben, dass ich geschützt hätte werden können.

Meine Angst hat sich verschoben von den Nazis hin zu den Sicherheitsbehörden. Das ist ein Riesenproblem. Ich habe Angst, wenn vor dem Haus meiner Eltern ein Polizeiwagen steht. Ich glaube, von Rassismus Betroffene fühlen sich generell nicht sicher gegenüber der Institution Polizei. Das fängt schon beim Racial Profiling bei Polizeikontrollen an. Kürzlich kam heraus, dass ein Polizist, der während der ersten Anschlagsserie Informationen an den Täterkreis weitergegeben hat, einen Geflüchteten zusammengeschlagen und rassistisch beleidigt hat. Der leitende Staatsanwalt hat den Aspekt des Rassismus aus der Anklageschrift gelöscht. Inzwischen wurde der Geflüchtete mit dem Segen des Innensenators abgeschoben, ohne dass der Fall aufgeklärt wurde. Ein Skandal reiht sich an den nächsten und der Innensenator kommt nicht voran mit immer neuen Ermittlungsgruppen. Die logische Folge ist, dass wir uns überlegen, wie wir uns selbst schützen. Ich bin auch deswegen so aktiv, weil ich den Schutz in der Öffentlichkeit suche. Direkt nach dem Anschlag auf mich haben Gruppen wie das Bündnis „Neukölln gegen rechts“ und „Aufstehen gegen Rassismus“ Kundgebungen organisiert und Opferberatungsstellen haben mir erklärt, was sie über die Hintergründe wissen.

Oft werden rechte Beamte von politisch Verantwortlichen als Einzelfälle heruntergespielt. Wie bewertest Du die Verstrickung von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz in die Neuköllner Anschlagsserie?

Über wie viele Einzelfälle müssen wir reden, bis sie keine Einzelfälle mehr sind? Die Frage ist, ob die Einzelfälle in Verbindung stehen. Wir wissen, dass der Polizist, der Infos an die Nazis weitergegeben hat, auch Verbindungen zur AfD hat. Warum bekommen Aktivisten in Berlin Morddrohungen mit der Unterschrift NSU 2.0., die von einem Polizeicomputer in Hessen verschickt wurden? Darum fordern wir einen Untersuchungsausschuss, um diese Verstrickungen unter die Lupe zu nehmen. Es gibt zum Beispiel einen Berliner LKA-Beamten, der zum NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen eingeladen wurde, weil er einen V-Mann geführt hatte, der in Sachsen in den Kauf von Sprengstoff für den NSU verstrickt war. Und es gibt auch in Berlin die Tatsache, dass über den Polizeicomputer Daten abgerufen wurden, mit denen Drohungen versendet wurden. Es ist schon krass, was einzelne investigative Journalisten und Antifa-Recherchegruppen zusammengetragen haben.

Trotz Pandemie-Auflgen und strömenden Regen versammelten sich 700 Menschen zu einer Demonstration in Rudow

Sind Neonazis eine Gefahr für den Staat?

Solange keine fundamentale Krise die politische Herrschaft der Kapitalistenklasse erschüttert, mag das Gebaren der Faschisten wie aus der Zeit gefallen erscheinen. Da können sie noch so viele Sonnwendfeiern veranstalten, mit ihren Reichsfahnen wedeln und dem Tag X entgegenfiebern. Es gibt keine faschistische Massenbewegung, die vergleichbar wäre mit den 1920er und 30er Jahren. Aber die Faschisten haben auch heute eine Funktion; sie vertiefen die Spaltung der Bevölkerung. Als Anknüpfungspunkte dienen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Alle Formen des solidarischen Miteinanders über Grenzen der Herkunft, des Geschlechts, der Religion usw. hinweg sind ihnen verhasst und ihr schlimmster Feind ist die organisierte Arbeiterklasse. Gegen all das richtet sich die Propaganda der heutigen Faschisten, die sich in den Reihen der AfD breit machen. In diesem Rahmen haben Banden wie die Neuköllner Neonazis ihre Funktion. Sie flankieren mit ihrem Terror die Auftritte in den Parlamenten, bei Pegida usw. Sie sollen einschüchtern und die antikapitalistische Linke in Atem halten. Das lenkt diese von ihrem Hauptgegner ab, dem Kapital und seinen politischen Vertretern. Die Gefahr für die bürgerliche Demokratie besteht darin, dass deren Fassade Kratzer kriegt, weil sie ihre Bürger nicht schützt und die Terroristen und potentiellen Terroristen zu lange gewähren lässt und zu milde bestraft.

Was kann man tun?

Auf die Sicherheitsbehörden und die Justiz ist nur bedingt Verlass. Wenn man die Neonazibanden loswerden will, muss man sich selbst helfen. Mit ähnlichen Methoden zurückschlagen wie die Faschisten – damit würde sich die Linke diskreditieren. Den Angegriffenen solidarisch zur Seite stehen, Verflechtungen und Kumpanei von Polizei, Armee, Staatsanwaltschaft usw. mit den Faschisten aufdecken – das ist der richtige Weg. In den vergangenen Jahren hat es zahlreiche Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen von engagierten Antifaschist*innen gegeben. Ohne diese beharrlichen Aktivitäten wären die Verbindungen zwischen den Strafverfolgungsbehörden und den faschistischen Tätern bis heute nicht bekannt geworden. Denn nicht nur Seehofer, auch die Innenminister der Länder und deren Polizeiapparat – selbst im rot-rot-grün regierten Berlin – versuchen rassistische, völkische und faschistische Einstellungen in ihren Reihen und deren Verbindungen unter den Teppich zu kehren.

Einen Nachtrag zu diesem Artikel finden Sie hier.


  1. ‚Tagesspiegel‘, 27.09.20
  2. ‚Tagesspiegel‘, 27.09.20

aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2021

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*