Der 1. Mai 2021 in Berlin –
Der Wahlkampf wirft seinen Schatten voraus

Korrespondenz

„Begonnen hatte der 1. Mai am Vormittag mit einer Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Brandenburger Tor – eine Gelegenheit zum Fototermin für Franziska Giffey, SPD-Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl im September, und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. Harmonischer wurde es an diesem 1. Mai nicht mehr.“ Das berichtete der ‚Tagesspiegel‘ am 2. Mai von der DGB-Mini-Kundgebung mit 250 Teilnehmer:innen und dem Wahlkampfauftritt der SPD-Spitzenkandidatin, die als Livestream übertragen wurde. Die Berliner:innen und die Medien nahmen nur wenig Notiz von dieser Demonstration der Harmonie. Sie steht im krassen Gegensatz zu den sozialen und politischen Zuständen in der Hauptstadt.

Erster Mai 2021 in Berlin

Auch wenn der DGB auf den traditionellen Maiumzug vom DGB-Haus zum Brandenburger Tor verzichtet hatte; es gab dennoch eine gewerkschaftliche Demonstration. Organisiert wurde sie von den Initiativen, die sich seit Jahren als eigener ‚Klassenkampfblock‘ am offiziellen DGB-Umzug beteiligt hatten. Sie wollten damit am Maifeiertag in die sozialpartnerschaftliche, auf Harmonie ausgerichtete Gewerkschaftspolitik ihre kämpferischen Inhalte und Losungen tragen. So zogen in diesem Jahr bis zu 2.000 Teilnehmer:innen vom DGB-Haus nicht zum Brandenburger Tor sondern aus Solidarität mit den Pflegekräften zum Urbankrankenhaus in Kreuzberg. „Wir vom Arbeitskreis Internationalismus, aber auch etliche andere IG Metaller waren sichtbar vertreten. Kein Abwälzen der Krisenkosten auf die Beschäftigten! Endlich konsequenter Gesundheitsschutz, Bildung, Klimaschutz und Verkehrswende. Gegen Militarisierung und Faschisierung! Für eine solidarische nicht profitgetriebene Gesellschaft. Ohne zu kämpfen wird sich nichts bewegen!“[1]

Fahrrad-Demo in’s Villenviertel der Vermögenden nach Grunewald

In den Mittagsstunden startete ein Fahrradkonvoi von Kreuzberg nach Grunewald. Über 10.000 Menschen beteiligten sich. Vorbild war ein Satireumzug vom 1. Mai des vergangenen Jahres, der sich gegen die „Ghettoisierung“ des noblen Villenviertels richtete. So wurden die Forderungen nach einer Umverteilung des Reichtums wie auch nach bezahlbaren Mieten für alle Berlin:innen in das Wohnquartier der Vermögenden getragen. „Das war unerwartet, spektakulär und fand ein großes Presseecho. Eine total überforderte Polizei schaffte es kaum, den Verkehr zu regeln. Gesamteindruck: ‚Friedlich und kreativ‘, ‚Polizei konfus‘.“[2]

Foto: Oliver Feldhaus, 2018f

Breites politisches Spektrum auf der „Revolutionären Mai-Demo“

Mit großer Spannung wurde die traditionelle „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ erwartet, die um 17.00 Uhr am Neuköllner Hermannplatz startete. Zwei Tatsachen sind besonders erwähnenswert. Erstens die sensationell starke Beteiligung von bis zu 20.000 Menschen (nach Angaben der Veranstalter). Zweitens die politische Spannbreite der Organisatoren, die in Reden, Losungen und Transparenten zum Ausdruck kam. Neben dem internationalistischen Block an der Spitze, der Migrantifa, der Black-Lives-Matter-Bewegung, der zahlreichen Initiativen gegen ‚Mietenwahnsinn und Verdrängung‘, beteiligten sich auch gewerkschaftliche Gruppierungen, wie die ‚Aktion gegen Arbeitsunrecht‘ und der Arbeitskreis Internationalismus an der Demonstration.

Der AKI berichtete auf seiner website: „Sozial Benachteiligte in ihrer ganzen Vielfalt trafen zusammen. So auch Themen und Anliegen. Wer bezahlt die Krise? Wer verdient daran? Wer spürt im Alltag Rassismus und Sexismus? Wer arbeitet sich krumm und landet in Altersarmut? Oder wer findet keinen bezahlbaren Wohnraum und wem frisst die Miete den Lohn weg? Wer holt sich mehr als Corona im überfüllten Nahverkehr? Bei wem ist Endstation „Sehnsucht“ vor und nach der Ausbildung? Wer steht nackt in Pandemiezeiten ohne Online-Anbindung da? Und wer findet keine Stimme oder erleidet sogar strukturelle Gewalt statt Schutz durch Organe dieses Staates? Gegen das Virus schützen wir uns nur international! Wer Klimakrise und Militarisierung nicht stoppt, verspielt unsere Zukunft!“

 Die Randale: Von den Medien herbeigeredet – von der Polizei ausgelöst

Aber die Inhalte sollten sich in den großen Medien kaum widerspiegeln. Wer die Berichterstattung der Lokal-Medien verfolgte, gewann den Eindruck, sie würden die Straßenschlacht regelrecht herbeisehnen, aus den verschiedensten Gründen – zur Steigerung von Auflagenhöhe und Einschaltquoten, zur Bedienung der Vorurteile gegen Linksradikale und ihr Umfeld oder um den politisch ungeliebten Senatsparteien eins auszuwischen. Beispiel dafür war u.a. der RBB im Verlauf der Live-Berichterstattung durch seine Berliner Abendschau. Der Reporter vor Ort wurde aus dem Sendestudio ständig gefragt, ob denn noch alles ruhig sei; der Unterton war nicht zu überhören: Wann geht’s denn endlich los mit der Randale?

Foto: Oliver Feldhaus, 2018

 „Um 20:30 Uhr meldet der Tagesspiegel: ‚Revolutionäre Demo kommt kaum voran‘ … ‚Grund ist laut Polizei, dass der sogenannte Schwarze Block von Autonomen in der Mitte der Demo sich nicht an die Maskenpflicht hält und deshalb gestoppt wurde.‘ Etliche Bilder und Videos zeigen aber das Gegenteil. Der Mund und Nasenschutz war danach geradezu beispielhaft in diesem Block umgesetzt. Später hieß es allgmein von der Polizei, dass  ‚wegen Verstößen gegen die Abstandsregeln und Maskenpflicht‘ eingeschritten worden sei.“[3]

Durch den Polizeieinsatz provoziert bekamen die Medien ihre Schlagzeilen von der „Straßenschlacht“ (einige Müllcontainer wurden angezündet, viel mehr passierte nicht), und die Parteien erhielten Munition für den Wahlkampf:

Für die Oppositionsparteien, CDU, FDP und AfD, waren die Schlagzeilen ein gefundenes Fressen. „Jedermann hat das Recht sich friedlich zu versammeln, aber für die Berliner Chaoten haben wir Handschellen und Haftanstalten“, so der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU, Hans-Peter Uhl. Von einem völligen Versagen der „Deeskalationsstrategie“ des Senats bis hin zur stillen Unterstützung und Sympathie für linksextreme Gewalttäter aus den Reihen von Linkspartei und Grünen reichten die Vorwürfe.

Für Innensenator Geisel (SPD) war es eine Bestätigung für sein hartes Vorgehen gegen den Linksextremismus und sein Umfeld. Er hatte im Verlauf der letzten Monate zahlreiche selbstverwaltete, autonome Häuser und Projekte räumen lassen. Auch die sozialdemokratische Spitzenkandidatin für den Sessel der Regierenden Bürgermeisterin, Franziska Giffey, dürfte sich bestätigt fühlen. Die innere Sicherheit bildet eines ihrer zentralen Wahlkampfthemen; in den Fragen der Mietenpolitik unterscheidet sie sich nicht von den Positionen der drei Oppositionsparteien. Die Wohnungsfrage soll ohne „staatsdirigistische“ Regelungen im Einvernehmen mit der Immobilienwirtschaft gelöst werden.

So überdeckte die reißerischer Berichterstattung über die »Maikrawalle« und die anschließende Debatte im Abgeordnetenhaus das Anliegen der so zahlreichen Aktivitäten am 1. Mai. Zwei Kundgebungen gehören noch erwähnt: Erstens die der Beschäftigten des rbb (siehe Artikel; »Freie Mitarbeiter*innen des rbb mobilisieren in Berlin zum 1. Mai«) und zweitens die Kundgebung des DGB Neukölln in der Hufeisensiedlung (siehe Korrespondenz: »Der 1. Mai vor der Hufeisensiedlung in Berlin-Neukölln«).

A.B., 10.05 2021


[1]     Website des Arbeitskreis Internationalismus in der IG Metall Berlin (AKI)

[2]     AKI

[3]     AKI


aus Arbeiterpolitik Nr. 4 / 2021

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