„Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen“

Korrespondenz

Eine Ausstellung in Frankfurt rekonstruiert die rassistischen Morde in Hanau

„Heute ist der 19. Februar (2022, d. Red.) in Hanau. Und die Erinnerung ist kein wenig verblasst. Es gab in den vielen Reden auf dem Marktplatz und auf den Friedhöfen in Hanau, Offenbach und Dietzenbach eine deutliche Botschaft: Sonntagsreden und symbolische Gesten gibt es viele, aber reichen tun sie nicht. Die Angehörigen haben heute erneut deutlich gemacht, dass sich mit Schaufensterpolitik niemand abspeisen lässt. Es gab so viele Anschläge, nach denen die Hinterbliebenen vergeblich darauf warteten, dass die Politik ihnen Aufmerksamkeit schenkt, die Hinterbliebenen hört und Tatorte besucht. Das alles gehört in Hanau zwar mittlerweile zum Alltag und doch ist viel zu wenig geschehen. Wenn die Verantwortlichen glauben, dass sie dieses Mal mit ihren Besuchen darüber hinwegtäuschen können, dass sich nichts ändert, haben sie sich getäuscht.“

So schrieb die Initiative 19. Februar zum zweiten Jahrestag der rassistischen Morde in Hanau (unsere Berichte in Arbeiterpolitik 1/2 2020, 3/2021, 3/2022). Angesprochen ist hier der charakteristische Widerspruch, der das offizielle (kommunale, staatliche) „Gedenken“ durchzieht: Auf der einen Seite die „Sonntagsreden“, in denen von Anteilnahme, moralischer Unterstützung, Verurteilung des Rassismus (der den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft belastet, den „sozialen Frieden“ bedroht, der die Basis der kapitalistischen Vergesellschaftung und Ausbeutung darstellt) die Rede ist; auf der anderen Seite im Gegenzug die hartnäckige Verweigerung substanzieller Konsequenzen in der Aufklärung der Verbrechen in ihren Einzelheiten, der Bestrafung von Beteiligten (der Mörder selbst hat sich ja umgebracht, aber er war kein „Einzeltäter“), die Darstellung der Hintergründe, insbesondere des Rassismus in der Polizei, im weiteren Staatsapparat bis hin zur hessischen Landesregierung, in der Gesellschaft (beispielhaft die Rolle des Vaters als „spiritus rector“ der Anschauungen seines Sohnes).

Fragen nach den Umständen und den Konsequenzen

Die Initiative 19. Februar hat seinerzeit unverzüglich mit konkreten Maßnahmen begonnen, Gedenken, Aufklärung, Konsequenzen wachzuhalten bzw. voranzutreiben, um hiermit nicht nur (aber auch) den Angehörigen Trost und einen Ort zur Verarbeitung des furchtbaren Geschehens zu geben, sondern in der Gesellschaft einen wichtigen und nachhaltigen Beitrag zu antirassistischer Arbeit zu leisten. Dazu gehören die Anmietung eines Treffpunkts in der Nähe des Heumarkts (des ersten der beiden Tatorte), die Beteiligung an den Auseinandersetzungen um Orte des Gedenkens in der Stadt (ein Jahr lang war das Brüder-Grimm-Denkmal am zentralen Marktplatz mit Blumen, Kerzen, Bildern geschmückt, es gibt weitere Orte), Mahnwachen in Wiesbaden am Landtag (mit Unterstützung vieler Initiativen, auch Gewerkschaften), die Forderung der Anhörung der Hinterbliebenen als Zeugen im Untersuchungsausschuss des Landtags, die Gründung der Bildungsinitiative Ferhat Unvar (einer der Getöteten, dessen Mutter Serpil Temiz-Unvar diese Initiative leitet), die ihren Sitz im DGB-Haus am Freiheitsplatz hat; sie erhielt 2021 den Aachener Friedenspreis.

Zur kritischen Öffentlichkeitsarbeit der Angehörigen und der Initiative 19. Februar gehörte von Anfang an die Aufklärung der genauen Abläufe und ihrer Voraussetzungen vor Ort. Dazu wurden immer wieder Fragen gestellt, die von der Polizei sowie dem zuständigen hessischen Innenminister nichtssagend oder mit offensichtlichen Lügen und Vertuschungen beantwortet wurden. Die Initiative zog daraus den richtigen Schluss, dass sie öffentlichen Druck organisieren und darüber hinaus selbst die ausbleibende Ermittlungsarbeit von Polizei und Politiker:innen übernehmen, d. h. etwa die Beschaffung notwendiger Expertise in die eigenen Hände nehmen muss.

Untersuchungsausschuss des Landtags

Im Untersuchungsausschuss UNA 20/2 des Landtags kamen in zunächst vier Sitzungen insgesamt elf Angehörige zu Wort. Sie konnten ihre Erlebnisse vortragen und auch ein erstes Gutachten von Forensic Architecture (s. u.) vorstellen. Aber was dann weiter geschah, wird von der Initiative als „enttäuschend“ bezeichnet: Seit Ende Januar 2022 ging es nur noch zäh voran, immer wieder fielen Termine aus. Es besteht der Eindruck, dass Abgeordnete, insbesondere von der CDU (die zusammen mit den Grünen die Regierung bildet), bewusst verzögern. Geladene Gutachter bekommen keine Akteneinsicht, ein angefertigtes 15-seitiges Gutachten von Professor Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum durfte nicht vorgetragen werden.

Die Initiative schreibt: „Vorläufige Zwischenbilanz: Bislang bleibt der Ausschuss weit hinter den Erwartungen der Betroffenen und Unterstützer:innen zurück. Etwas Hoffnung bleibt, dass mit den Ladungen von verantwortlichen Polizist:innen und Politiker:innen in den kommenden Wochen und Monaten bezüglich der Waffenerlaubnisse des Täters, des Notrufversagens, des verschlossenen Notausgangs sowie zu den Abläufen in der Nacht am Täterhaus doch noch einige weitere Puzzle-Steine zum Versagen der Behörden öffentlich werden.“

Forensic Architecture

Am 3. Juni 2022 eröffnete der Frankfurter Kunstverein in seinen Räumlichkeiten im „Steinernen Haus“ am Römerberg eine Ausstellung von Forensic Architecture in Zusammenarbeit mit der Initiative 19. Februar. Sie heißt „Three Doors“ und soll bis zum 11. September zu sehen sein. Im Internet kann man sie hier sehen.

„Forensic Architecture ist eine 2011 gegründete Rechercheagentur unter Leitung von Eyal Weizman mit Sitz am Centre for Research Architecture, Goldsmiths, University of London. Im Jahr 2021 gründete Forensic Architecture gemeinsam mit der Organisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) ein Recherchezentrum namens Investigative Commons in Berlin“ (Wikipedia). Es handelt sich hier um eine professionell arbeitende NGO (Nichtregierungsorganisation). Weizman ist ein israelischer Architekt, der der israelischen Besatzungsmacht im Westjordanland kritisch gegenüber steht. Aus den Zuständen dort und im Zusammenhang seiner Berufstätigkeit entwickelte er die Idee, dass Architektur in ihrer jeweiligen Besonderheit zur Aufklärung von Verbrechen entscheidend beitragen kann.

So entkräftet in ihrem Gutachten mit aufwendigen Versuchsanordnungen u. a. Aussagen des Vaters, dass er in der Mordnacht die Rückkehr seines Sohnes ins Haus und die Schüsse, mit denen er seine Mutter und dann sich selbst tötete, nicht gehört habe. FA widerlegt Darstellungen der Polizei, sie habe das Haus des Täters unmittelbar nach den Morden überwacht und ebenfalls die Schüsse nicht gehört. Der Ablauf laut FA zeigt vielmehr, dass das Polizeiauto sehr lange weit von der Wohnung des Mörders entfernt parkte.

Die drei Türen stehen für einzelne Orte der Verbrechen und die Gebäude, in die sie führen: die erste für die Arena-Bar und ihren verschlossenen Notausgang, die zweite für das Haus des Täters und seiner Eltern. Die dritte Tür ist einem anderen Verbrechen gewidmet, dem Mord an Oury Jalloh in einer Gewahrsamszelle der Polizei in Dessau (2005), dessen Aufklärung schon lange die antirassistischen Aktivist:innen beschäftigt und von Polizei und Justiz hartnäckig verweigert wird.

Oury Jalloh wurde am 7. Januar in der Polizeizelle bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Polizei und Staatsanwaltschaft legten sich von Anfang an darauf fest, daß Oury Jalloh, an Händen und Füßen an eine (feuerfeste) Matratze gebunden, sich selbst verbrannt habe. Seit 2013 führen Aktivist:innen eigene Recherchen und beauftragen Gutachter:innen, um die Vorgänge aufzuklären, die Verantwortlichen zu identifizieren und vor Gericht zu bringen. Hieraus ergab sich die Zusammenarbeit mit Forensic Architecture.

Die Autoren der Ausstellung schreiben: „Jede Tür öffnet eine neue Perspektive auf strukturellen Rassismus in deutschen Behörden, einschließlich fehlender Konsequenzen für Polizeiverfehlungen, die die Ausübung rassistischer Gewalt ermöglicht haben, sowie Ermittlungen, die den Rechten der Opfer, Überlebenden und ihren Familien nicht gerecht wurden. Diese Phänomene werden derzeit nicht nur durch die Geschehnisse in Hanau und Dessau, sondern auch durch die Halle-Anschläge, den Fall Walter Lübcke und den sogenannten NSU 2.0 sichtbar und sind ein bundesweites Problem.“

HU, 12.6.2022


aus: Arbeiterpolitik Nr. 4/5 2022

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