Schwarz-weiß-rote Fahnen
auf den Stufen des Reichstagsgebäudes

»Tag von Potsdam«, Adolf Hitler, Paul v. Hindenburg
Quelle: wikipedia, Bundesarchiv Bild 183

Am Rande der Kundgebung gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen am 29. August 2020 in Berlin stürmte eine Truppe von rechtsgerichteten Demonstranten mit schwarz-weiß-roten Fahnen die Stufen des Reichstagsgebäudes mit dem erklärten Ziel, durch diese Aktion den Eindruck zu erwecken, man habe das Haus von den verhassten Vertretern des Nachkriegsparlamentarismus befreit und nunmehr das Kommando übernommen.

Auch wenn die Demonstrant*innen nicht in das Gebäude eindrangen, so brachte der symbolische Akt der Treppenerstürmung das politische Establishment in Berlin auf die Palme. Alle Fraktionen, sämtliche Medien schäumten ob des Frevels eines reaktionären Mobs, „ihr« Parlament erobern zu wollen.

Die Kritik entzündete sich an der starken Präsenz der Reichsflagge an diesem Ort. Mit ihr wird gemeinhin das Deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918 in Verbindung gebracht, dass sie zur Staatsflagge erklärte.

Doch attackiert wurde damals der Reichstag vor allem von Kaiser Wilhelm II., der ihn als „Reichsaffenhaus« bezeichnete, und den mit ihm verbundenen monarchistischen Kräften. Sie fürchteten, ihre Privilegien zu verlieren und zukünftig nicht mehr das Recht zu haben, in allen zentralen Fragen des Staates die Letztentscheidung zu treffen. Eine Angst, die durch den stetig wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie bestärkt wurde.

Auch wenn die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie aktuell eines der erklärten Ziele der Fahnenträger Anno 2020 ist, so haben sie nicht vor, die alte Adelsgesellschaft zu restaurieren. Ein Grund dafür ist, dass die schwarz-weiß-rote Fahne im Kaiserreich ständig mit anderen Fahnen als Identifikationssymbol konkurrieren musste. Tief verwurzelt waren damals die regionalen Identitäten, insbesondere die Symbole der Fürstenhäuser und ihre jeweiligen militärischen Traditionen. Erst im ersten Weltkrieg trat deren Bedeutung in den Hintergrund. Im modernen Krieg zwischen Nationalstaaten hatten sie keinen Platz mehr. Die schwarz-weiß-rote Fahne setzte sich als Identifikationssymbol für Militär und Nation durch. Sie blieb fortan das einigende Merkmal der militaristischen Kräfte. Die Abdankung von Wilhelm II. und seine Flucht in die Niederlande trennten ihn vom besiegten Heer, dem er, dessen oberster Feldherr er formell war, in der Niederlage nicht beistand. Diese »Fahnenflucht« ließ die schon im ersten Weltkrieg gelockerten Bindungen zwischen den militärischen Truppen und der Monarchie am Ende des Krieges endgültig zerreißen.

Mit der Etablierung der Weimarer Republik wurde die Reichsflagge eingerollt und statt ihrer die schwarz-rot-goldene Fahne aufgezogen. Sie repräsentierte während der gesamten Weimarer Republik das republikanische Staatswesen, mit Ausnahme der Handelsflotte. Aber auch hier wurde die Flagge der Republik klein auf die Reichsflagge genäht.

Abgelehnt wurde sie von den Eliten der alten Gesellschaft, die sich im Staatsapparat, im Militär und den reaktionären gesellschaftlichen Organisationen wie etwa dem Stahlhelm sammelten. Zu allen möglichen Anlässen holten sie die Reichsflagge aus den Schränken hervor, um öffentlich ihre Haltung gegen die Weimarer Republik zu demonstrieren.

Am 30. Januar 1933 wurde erstmals eine Regierung aus diesen Kräften unter Einschluss der NSDAP gebildet. Mit dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 war der Tagungsort des Parlaments in Schutt und Asche gelegt. Die letzten Reichstagswahlen am 05. März des Jahres und die folgende Regierungsbildung mit den Parteien NSDAP und DNVP bildeten die Voraussetzungen für einen vollständigen Neubeginn der politischen Herrschaftsform in Deutschland.

In Vorbereitung auf den »Tag von Potsdam« erließ Hindenburg am 12. März 1933 eine Verordnung, nach der bis zur endgültigen Regelung der Staatsfahne die schwarz-weiß-rote Flagge gemeinsam mit der Hakenkreuzflagge bei staatspolitischen Ereignissen zu hissen sei. So gelang es die alten Kräfte hinter die Regierung zu scharen und sie gleichzeitig auf eine neue Kraft zu orientieren.

Am »Tag von Potsdam« am 21. März 1933 schlossen die reaktionären Kräfte, Deutschnationale, Monarchisten und Faschisten, die Spitzen der beiden christlichen Kirchen wie alle von ihnen geführten Organisationen einschließlich der Reichswehr ein Bündnis für den gesellschaftlichen und politischen Neubeginn des Deutschen Reiches. Die Potsdamer Innenstadt war beherrscht von der schwarz-weiß-rote Flagge. Hinter dem offiziellen Rednerpult stand die Hakenkreuzfahne. Sie wurde 1935 zur offiziellen Flagge des faschistischen Deutschlands.

Zur Charakterisierung der Szene der Reichsflaggenträger sind noch zwei Punkte von Bedeutung. Einmal ihre territoriale Fixierung auf die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 auch über die militärische Niederlage von 1945 hinaus. Erst deren Wiederherstellung erlaubt es, eine legitime Regierung zu bilden, die einen Friedensvertrag abschließen kann. Die Nachkriegsordnung wird deshalb von ihnen kategorisch abgelehnt und ihr jedwede Recht setzende Zuständigkeit abgesprochen. Und zum anderen ihr Bezug auf das Reichsbürgergesetz, das z.B. Juden, Sinti und Roma eine zweitrangige Staatsbürgerschaft zuerkannte. Reichsbürger, wie sich die Anhänger dieser Szene bezeichnen, können nur Deutsche sein, die nach dem faschistischen Gesetz die vollständige
Staatsbürgerschaft erhalten hätten.

Die Träger der schwarz-weiß-roten Fahnen sind von ihrer Gesinnung her militaristisch, antiparlamentarisch und völkisch. Im Kern also Faschisten. Weshalb sie sich derzeit nicht hinter der Hakenkreuzfahne sammeln, hat zwei Gründe: Einmal ist diese verboten. Sie kann als Identifikation der Szene in der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden. Zum anderen haben die Reichsbürger noch den Status einer heterogenen Bewegung, ohne programmatische Grundsätze und überregionale Strukturen.

In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich allerdings die Reichsbürgerszene von der NSDAP und ihren erklärten Nachfolgeorganisationen. Während Hitler nach dem gescheiterten Putsch von 1923 die Schlussfolgerung zog, eine Machtübernahme in der Weimarer Republik sei nur durch Ausnutzung der bestehenden Gesetze möglich, lehnen die Reichsbürger dies ab. Die Partei »Der III. Weg«, hat dagegen ihre Organisation im Rahmen der bestehenden Ordnung gegründet, um ihre Mitglieder mithilfe des Parteienprivilegs besser vor staatlicher Verfolgung schützen zu können. Die konsequente Ablehnung der bestehenden Rechtsordnung wird es den Reichsbürgern erschweren, sich zu organisieren und eine handlungsfähige Kraft zu werden.

Die Ablehnung des Staates trennt die Reichsbürger auch von der rechtspopulistischen AFD. Diese will ihre politischen Vorstellungen im Rahmen der bestehenden Gesetze und durch Mehrheitsbildungen im Parlament durchsetzen. Folgerichtig »liebt« sie Deutschland und schwenkt zu allen erdenklichen Anlässen die schwarz-rot-goldene Fahne. So überrascht es nicht, dass sich die AfD von der Treppenbesetzung distanzierte.

Die Reichsbürgerszene hat es mit ihrer Aktion vor den Türen des Reichstagsgebäudes erstmals geschafft, als politische Gruppierung öffentlich wahrgenommen zu werden. Beigetragen hat dazu ihr massives Auftreten vor der russischen Botschaft, wo sie Präsident Putin aufforderte, mit ihnen in Verhandlungen über einen Friedensvertrag zu treten. So irrwitzig diese Forderung auch ist, sie hat in den sozialen Netzwerken zu einer breiten Diskussion geführt und viel Zuspruch gefunden.

Abzuwarten bleibt, ob die Reichsbürger mit diesen Aktionen das Ghetto verschrobener Einzelkämpfer, die Steuerzahlungen verweigern, ohne Führerschein Auto fahren, eigene Währungen herausgeben oder ihren Schrottplatz zu einem Territorium außerhalb der Gesetze der Bundesrepublik erklären, verlassen können.

Welche der rechten Gruppierungen sich in den nächsten Jahren durchsetzen wird, ist noch nicht zu erkennen. Unabhängig von ihrem jeweiligen strategischen Ansatz werden sie sich auch zukünftig bei zentralen Punkten wie etwa der Flüchtlingsfrage zu gemeinsamen Demonstrationen und Aktionen zusammenfinden, wie schon 2018 beim Tod von Daniel H. in Chemnitz.

H.B. 14.09.2020


aus Arbeiterpolitik Nr. 3/4 2020

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