Goldene Morgenröte wird zur kriminellen Organisation erklärt und die Parteiführung verurteilt:
Die Faschisten werden nicht mehr gebraucht – zumindest vorerst

Korrespondenz Athen/Berlin

Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude anlässlich der Verkündung des Urteils gegen die Chrysi Avgi am 7. Oktober 2020

Selbst der „Tagesschau“ war die Verkündung des Urteils gegen die „Goldene Morgenröte“ (Chrysi Avgi) am 7. Oktober 2020 einen Bericht wert. Über die antifaschistische Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude erhielten wir von einem Freund aus Athen dazu folgende Mail:

„Es war eindrucksvoll. Ich habe gestern in der Tagesschau auch was von 15.000 Teilnehmenden gehört. Das ist weniger, als die griechische Polizei angibt, die von 20.000 spricht. Wir waren wahrscheinlich fast dreimal so viele, irgendwas zwischen 50.000 und 60.000. Polizei und Medien können das auch nicht richtig zählen, weil halt nicht nur die Alexandras-Strasse voll war, sondern auch alle angrenzenden Straßen. Obwohl normaler Arbeitstag: Ich kenne jede Menge Leute, die sich frei genommen haben. Einige hatten auch zum Streik aufgerufen, so z. B. die Basisgewerkschaft der NGO-Angestellten.

Das Urteil kam letztlich dann doch nicht mehr überraschend. Ich war eigentlich von Anfang an der Ansicht, dass sie denen nie die kriminelle Vereinigung anhängen würden. So ja auch die Staatsanwältin noch Anfang des Jahres, die insoweit Freispruch beantragte. Aber der Wind hat sich seit dem Februar gedreht durch die Kampagne ‚Sie sind nicht unschuldig – die Nazis ins Gefängnis‘. Eine sehr gut aufgezogenen Kampagne, die unglaublich viele Leute erreicht hat. Das führte dann dazu, dass auch die Mainstream-Medien, die ja hier bekanntlich weitgehend (durch die fetten staatlichen Zuschüsse) ‚gleichgeschaltet‘ sind, umgeschwenkt haben. Als dann am Samstag auch noch die Efsyn (viel gelesene ‚linke‘ Zeitung) einen Titel hatte, in dem alle, tatsächlich alle Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien einschließlich des rechten Samaras (Ministerpräsident zum Zeitpunkt des Mordes an Fyssas 2013), sich für eine Verurteilung ausgesprochen haben, änderte auch ich meine Meinung dahingehend, dass es wohl doch zu einer Verurteilung auch wegen Gründung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung kommen werde.

Ist politisch auch nachvollziehbar: Die bürgerliche Klasse braucht (historisch gesehen) die Nazis, um tatsächliche oder drohende (Klassen-)Kämpfe kontrollieren zu können. Wir haben aber hier in Griechenland gerade keine großen Kämpfe. Die Regierung sitzt fest im Sattel, eine Opposition gibt’s eigentlich nicht. Es ist auch mittelfristig nicht absehbar, dass sich das ändern wird. Griechenland wird gerade eine moderne neoliberale Demokratie, wie wir sie auch in vielen anderen Ländern Europas und der Welt beobachten können. Nazis und sonstige Faschisten können da störend sein, was natürlich nicht heißt, dass man sie nicht eines Tages wieder hervorholt. […]

Sie brauchen die Nazis gerade auch nicht, um von rechts Druck auf die Regierung zu machen (so wie in Deutschland mit der AfD). Die Regierung ist rechts genug und hat ein paar hartgesottene Rechtsradikale in ihren Reihen. Vielleicht nicht gerade Höckes, aber zumindest Meuthens. Also waren und sind die Nazis momentan überflüssig. Man musste keine Werbung mehr für sie machen, auch nicht für die Wahlen letztes Jahr. Und so flogen sie sang- und klanglos aus dem Parlament. Seitdem haben sie sich zwei-, dreimal gespalten. Ihre Bedeutung ist heute absolut marginal. Das bedeutet nicht, dass in Griechenland ein für allemal mit dem Faschismus aufgeräumt wäre. Auch hier gibt es einen Bodensatz von ca. 20 % der Bevölkerung, der sich eine rechtsradikale bzw. neofaschistische Partei wünscht. Das hat auch eine Umfrage von gestern wieder gezeigt: 80 % der Befragten freuten sich über die Verurteilung der Goldenen Morgenröte; 20 % meinten, eine seriöse rechte (gemeint: rechtsradikale) Partei im Parlament sei vonnöten.“

Die Ursachen für den rasanten Aufstieg der Chrysi Avgi

Als Teilnehmer der gewerkschaftlichen Solidaritätsgruppe „Gegen Spardiktate und Nationalismus“ konnte ich mir auf den jährlichen Besuchen in Griechenland selbst ein Bild vom Aufstieg der Chrysi Avgi (CA) verschaffen. Als wir im September 2012 Athen besuchten, waren viele unsere Gastgeber geschockt und besorgt. Im Juni 2012 wurde erstmals mit der CA eine sich offen zum Nationalsozialismus bekennende Partei mit fast 7% ins griechische Parlament gewählt. Ihr Stimmenanteil lag noch 2009 bei nur 0,3%.

Die Besuche in der offenen Stadtteilversammlung Perama, einem sozialen Selbsthilfeprojekt, verdeutlichten uns, welche wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zum rasanten Zuspruch für diese faschistische Partei geführt hatten: „Die Lage in Perama ist aufgrund des Niedergangs der Werftindustrie, die dieses Viertel prägt, dramatisch. Die Arbeitslosenrate liegt bei ca. 90%. Es fehlt an allem, auch an Nahrungsmitteln. Das Nachbarschaftszentrum unterstützt im Moment ca. 100 Personen mit Lebensmitteln. Bei der hohen Arbeitslosenrate ist klar, dass nur ein kleiner Anteil von Familien unterstützt werden kann. 95% der Mitglieder im Zentrum sind selbst arbeitslos. Es gibt Familien, in denen in den letzten zwei bis drei Jahren niemand auch nur einen einzigen Tag Arbeit gehabt hat. Perama ist stark von den Werften und der guten Beschäftigungsstruktur geprägt gewesen. Bis 2008 gab es ca. 9.000 bis 10.000 direkt Beschäftigte, bis zu 25.000 Arbeitsplätze existierten insgesamt, wenn man die Zulieferbetriebe mitzählt. Nach 2008 gab es immerhin noch 5.000 Arbeitsplätze, bis der Kollaps durch die Wirtschaftspolitik der Regierung eintrat. Heute werden in den Werften auf Abruf bis zu 500 Arbeitnehmer benötigt, die als Tagelöhner ihr Leben fristen. Durch die Arbeitslosigkeit leben viele Menschen in Perama im Elend, es gibt keine sozialen Auffangnetze, daher ist ein menschenwürdiges Leben nicht mehr möglich. Leider haben die Faschisten auch in Perama die Situation nutzen können, der Anteil ihrer Anhänger wird auf ca. 11% geschätzt.“1

Perama, Wohnviertel der erwerbslosen Beschäftigten der ehemaligen Werft- und Zulieferindustrie, links das selbstverwaltete soziale Zentrum (offene Stadteilversammlung)

Die Massenmedien (Zeitungen, Funk und Fernsehen), von denen viele griechischen Unternehmern/Oligarchen gehören, haben den Aufstieg der Chrysi Avgi gefördert und ihr die entsprechende Plattform geboten, seitdem die Partei bei den Kommunalwahlen 2010 in Athen mit 5,4 % ihren ersten Wahlerfolg verbuchte. Die Funktionäre der faschistischen Partei wurden gern gesehene Gäste in den Politsendungen und Talkshows. Sie nutzten dies, um ihre rassistische und faschistische Propaganda zu verbreiten, wie beispielsweise mit der Forderung, Migranten und Geflüchtete von Suppenküchen und Lebensmittelspenden auszuschließen oder der Blutspende-Kampagne „Griechisches Blut nur für Griechen“. Dabei ließ die Chrysi Avgi keinen Zweifel an ihrem Selbstverständnis. Als der Parteivorsitzende Michaloliakos nach Bekanntgabe der Resultate der Parlamentswahl vom Juni 2012 vor die Presse trat, wurden die Journalisten von einem Leibwächter aufgefordert, sich zu Ehren des Führers zu erheben. Wer sich weigerte, wurde aus dem Saal geworfen. Michaloliakos verkündete: „Griechische Bürger brauchen keine Angst vor uns zu haben, die einzigen, die Angst vor uns haben müssen, sind Verräter.“

In einer Rede vor mehreren hundert Anhängern am 26. August 2012 erläuterte Michaloliakos seine Haltung zum griechischen Parlament, in dem die Chrysi Avgi 18 Sitze innehatte: „Wir fühlen uns dort unwohl. Wir fühlen uns angewidert. Wenn sie [die Kritiker der CA] möchten, können wir das Parlament jederzeit verlassen und auf die Straße gehen. Dann werden sie sehen, was Sturmtruppen bedeuten, was Kampf bedeutet und was es bedeutet, die Bajonette zu schärfen.“ Seine Anhänger antworteten mit der Parole: „Lass es brennen, lass das Bordell des Parlaments brennen.“2

Der Wahlerfolg der Chrysi Avgi verschaffte ihr nicht nur eine parlamentarische und mediale Bühne, sondern auch die notwendigen finanziellen Zuwendungen, um im gesamten Land neue Parteibüros zu eröffnen. Sie dienten als Stützpunkte, um den Einfluss der faschistischen Partei auszuweiten und den Terror gegen ihre politischen Gegner zu organisieren. Den Athener Stadtteil Panteleimonas, in dem viele migrantische Familien leben, hatte die Chrysi Avgi zu ihrem Revier erklärte. Die Spielplätze des Viertels versperrten sie für Kinder von Geflüchteten und Migranten. In anderen Gegenden überfielen ihre Sturmtruppen die Marktstände nichtgriechischer Händler und vertrieben sie.

Der Mord an Pavlos Fyssas

Zu unserem zweiten Solidaritätsbesuch nach Griechenland brachen wir am 21. September 2013 auf. Wenige Tage zuvor, am 17. September, wurde Pavlos Fyssas von Giorgos Roupakias erstochen. Wie sich bei den Ermittlungen rasch herausstellte, war der Mörder nicht nur Mitglied der Chrysi Avgi, und wie wir damals schon vermuteten und es sich dann bald erwies, handelte er im Auftrag der Parteiführung und unter den Augen der am Tatort im Stadtteil Keratsini anwesenden Polizisten, die nicht eingriffen.

„Heute früh erreichten mich die ersten dürftigen Meldungen über den Mord an Pavlos Fyssas. Er war als Antifaschist bei ANTARSYA aktiv und als Hip-Hop-Musiker in Griechenland unter dem Namen „Killah P“ bekannt. Die faschistischen Schlägerbanden haben erneut zugeschlagen. Der Tatort liegt in der Nähe von Perama, wo wir das soziale Zentrum besuchen werden. Das Anwachsen des Einflusses der „Goldenen Morgenröte“ verdeutlicht mir noch einmal auch die Gefahren der Entwicklung. Zunehmende Verelendung stärkt nicht als Selbstläufer den Widerstand und deren gewerkschaftliche und politische Organisationen. Wenn die Linke versagt, weil sie der Masse keine gangbare Perspektive zu bieten vermag und sich in Grabenkämpfen selbst aufreibt, werden Rechtspopulisten und Faschisten die Nutznießer sein.“3

Die gewerkschaftliche Solidaritätsgruppe am Denkmal für Pavlos Fyssas am Tatort seiner Ermordung

Bei unserem ersten Gespräch mit Moises aus dem Vorstand der Journalistengewerkschaft und Eurydike, Journalistin bei der Zeitung „Kathemerini“, standen die Informationen über die Umstände des Mordes und seine möglichen politischen Folgen im Vordergrund. „Im Moment ist die öffentliche Aufregung groß, alle Zeitungen und Fernsehsender berichten darüber und zeigen sich entsetzt. Dabei hatten viele von ihnen in der letzten Zeit prominenten CA-lern eine Plattform geboten und z. T. offen darüber nachgedacht (wie z. B. die „Kathimerini“, so was wie die FAZ für Griechenland), dass die Chrysi Avgi eine Koalition mit der Regierungspartei Nea Demokratia (ND) eingehen könne, wenn deren jetzige parlamentarische Mehrheit noch mehr schwinden würde. Nach dem Mord wird großes Entsetzen demonstriert und man distanziert sich allenthalben. Die CA hat in der letzten Zeit hunderte von Verbrechen vor allem gegen Migranten begangen, die aber nicht verfolgt und bestraft wurden. Als Beispiel für das Gewährenlassen der CA-Gangster nannte Eurydike, dass die Regierung jetzt nach dem Mord der Staatsanwaltschaft Akten über CA-Verbrechen übergeben hat, die sie seit zwei Jahren unter Verschluss gehalten hatte.“4

Heike Schrader, die damals häufig in der „Jungen Welt“ aus Athen berichtete: „’Im Moment wird alles vom Mord an Pavlos Fyssas überschattet. Dabei handelt es sich nicht um den ersten Mord, der von der goldenen Morgenröte verübt wurde; anders ist, dass mit Pavlos zum ersten Mal kein Migrant, sondern ein Grieche ermordet wurde, und anders ist auch, dass zum ersten Mal die Beweislage klar ist.‘ Heike geht darauf ein, dass die griechische Verfassung keine Parteienverbote vorsieht, aber es besteht die Möglichkeit die goldene Morgenröte als kriminelle Vereinigung zu erklären und die Spitze der Partei als Anstifter an der Ermordung zu verurteilen, was in der Konsequenz auch zum Stopp weiterer staatlicher Unterstützung führen würde.“5

Anklage gegen die Führung von Chrysi Avgi wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung

Mit der Ermordung von Pavlos Fyssas hatte die Chrysi Aygi den Bogen überspannt. Kräfte aus dem national-konserativen Lager, die bisher mit der faschistischen Partei kokettiert hatten, gingen angesichts der breiten Empörung auf Distanz. Am 26. September 2013 wurden zahlreiche Führungsmitglieder und Parlamentarier der Chrysi Avgi festgenommen und wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Die staatliche Finanzierung der Partei und ihrer Fraktion wurde eingestellt. Der rasante Aufstieg der CA war gestoppt; ihr war ein Großteil der bisherigen finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten genommen.

Der führenden Kraft in der Regierungskoalition, der Nea Demokratia, war damit ein potentieller Verbündeter und möglicher Koalitionspartner abhanden gekommen. „Die Regierung versucht mit der Theorie der ‚zwei Extreme‘ sich als Garant von Recht, Ordnung und Sicherheit zu profilieren. Der Ministerpräsident Samaras, der eine lupenreine rechtsradikale Vergangenheit aufweisen kann, will so die zur Morgenröte abgewanderten Wähler für die Nea Demokratia zurückgewinnen. Die Chancen dafür stehen schlecht, denn die Folgen der Troika-Diktate, die auch weiterhin von seiner Regierung vollstreckt werden, haben den Aufstieg der griechischen Faschisten erst ermöglicht und fördern ihn weiter.“6

Die jährliche Demonstration zum Jahrestag der Ermordung von Paxlos Fyssas in Keratsini, hier im September 2015
Foto: Giovanni Lo Curto

Der Prozess gegen die Chrysi Avgi begann allerdings erst 2015, über anderthalb Jahre nach der Tat, und sollte sich über fünf Jahre hinziehen, bis zur Urteilsverkündung am 7. Oktober 2020. Die Angeklagten befanden sich vor der Urteilsverkündung sämtlich auf freien Fuß, die ersten waren bereits kurz nach ihrer Verhaftung gegen Kaution entlassen worden, der Rest nach der Höchstdauer der Untersuchungshaft von anderthalb Jahren.

Syriza auf dem Weg in die Regierungsverantwortung

In den folgenden beiden Jahren nach dem Mord an Pavlos Fyssas gab es zahlreiche soziale und politische Auseinandersetzungen:

  • die monatelange Besetzung des staatlichen Fernsehsenders (ERT) durch die Belegschaft, nachdem er von der Regierung Samaras ohne Vorankündigung am 11. Juni 2013 geschlossen wurde,
  • der über ein Jahr andauernde Kampf der Putzfrauen des Finanzministeriums, die für die Wiedereinstellung kämpften, nachdem sie im September 2013 von einem Tag auf den anderen entlassen worden waren,
  • zahlreiche Streiks, wie z.B. bei der Athener Metro oder an den Schulen in Griechenland.

Doch die Hoffnungen, über eine außerparlamentarische Mobilisierung, über eine Ausweitung der Streiks die Spardiktate (Memoranden) und damit auch die Regierungskoalition aus ND und PASOK zu Fall zu bringen, erfüllte sich nicht. Große Teile der Bevölkerung, erschöpft vom täglichen Überlebenskampf und deprimiert angesichts der Erfolglosigkeit ihres Widerstandes, verlagerten ihre Hoffnungen auf einen Regierungswechsel durch parlamentarische Wahlen. Die Gelegenheit bot sich in der vorgezogenen Neuwahl im Januar 2015 7. SYRIZA wurde zur stärksten Partei, konnte aber nur in einer Koalition mit der rechtspopulistischen und nationalistischen ANEL die Regierungsgeschäfte übernehmen. Im Vorwort unseres Reisetagebuches 2014 schrieben wir kurz nach den Wahlen, im Februar 2015: „Bereits während der Solidaritätsreise im September 2013 charakterisierten viele unserer GesprächsparterInnen die ‚Regierung Samaras als das schlimmste Regime nach dem Sturz der Obristen-Diktatur 1974‘. Unser Besuch im September letzten Jahres stand im Zeichen der Hoffnungen und Erwartungen auf ein frühzeitiges Ende der verhassten Regierungskoalition aus ND und PASOK. Diese Hoffnungen gingen in Erfüllung. Bei den vorgezogenen Neuwahlen am 25. Januar 2015 wurde SYRIZA mit Abstand die stärkste Partei. Die faschistische ‚Goldene Morgenröte‘ zog zwar wieder mit über 6 % ins Parlament ein, ihr weiterer Aufstieg konnte allerdings zunächst gebremst werden. Dennoch, sie wurde zur drittstärksten Partei im Parlament und wartet auf ein Scheitern der neuen Regierung, wovon sie sich einen gewaltigen Auftrieb erhofft.“

Der Regierungswechsel in Griechenland war verbunden mit einer Aufbruchsstimmung, wie sie sich in der Parole „Change Greece – Change Europe – Change for all!“ ausdrückte und zugleich der Befürchtung, die Chrysi Avgi wäre der Gewinner, sollte die neue Regierung die Erwartungen ihrer Wähler*innen enttäuschen. Ihre Erwartungen brachte die griechischen Bevölkerung zum Ausdruck in dem von der SYRIZA-Regierung anberaumten Referendum über die Angebote (Diktate) der Troika. Am 5. Juli 2015 lehnten 61% der Wähler*innen die Auflagen von IWF, EU und EZB ab. Am 9. Juli 2015 kommentierte die griechische Zeitung „Kathimerini“ den Ausgang des Referendums: „Darüber hinaus hat das Referendum ein zutiefst gefährliches Verhalten der Wählerschaft aufgedeckt, die sich entlang von Klassenzugehörigkeit ausgedrückt hat. Solch eine Spaltung zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden hat man nicht mehr seit den Zeiten von Andreas Papandreou [80er Jahre] gesehen, als die Unterprivilegierten begannen, die gesellschaftliche Stufenleiter mit geliehenem Geld hinaufzuklettern. Die Massendemonstrationen der ›Ja‹- und ›Nein‹-Lager […] haben auch dazu beigetragen eine Auseinandersetzung auf die Straße zu bringen, die auf das Parlament oder vielleicht auf die Talkshows im TV beschränkt gehören. Das war ein politisches Verbrechen.“

Die Mehrheit in der Parteispitze von SYRIZA wollte weder eine Konfrontation mit den Regierungen der anderen EU-Staaten noch mit den „besitzenden Klassen und Schichten“ im eigenen Land eingehen. Schon wenige Tage nach dem Referendum verkehrte sie sein Ergebnis ins Gegenteil. Sie akzeptierte noch schärfere Auflagen der Troika.

Der linke Flügel von SYRIZA spaltete sich ab, zahlreiche Mitglieder, vor allem die in den sozialen Bewegungen und Initiativen Engagierten, kehrten der Partei enttäuscht und empört den Rücken. Dies betraf auch fast alle unsere gewerkschaftlichen Kontakte, sofern sie sich innerhalb von SYRIZA organisiert hatten.

Die Normalisierung der politischen und parlamentarischen Verhältnisse

Die für September 2015 angesetzten Neuwahlen konnte SYRIZA zwar nochmals gewinnen. Aber bei den Parlamentswahlen im Juli 2019 wurde die Regierung Tsipras abgewählt. Die Befürchtung, die faschistische Chrysi Avgi würde der große Gewinner der enttäuschten Hoffnungen in eine SYRIZA-Regierung sein, bestätigte sich nicht. Die CA verfehlte knapp die 3 %-Hürde und ist nicht im neuen Parlament vertreten. Gewinner wurde die Nea Demokratia (ND), die mit fast 40 % der Stimmen zu alter Stärke zurückfand. Damit waren die vor den Krisenjahren (2010 bis 2019) bestehenden Zustände wieder hergestellt, in denen die zwei großen System-Parteien das politische Geschehen bestimmten und sich in der Regierungsbildung abwechselten – nur dass nun SYRIZA mit 31,5% die Rolle der zweiten Systempartei anstelle der PASOK einnahm.

Den Wahlkampf hatte die ND mit drei Themen geführt: Innere Sicherheit, Zuwanderung und der „Verrat an den nationalen Interessen“ durch das Mazedonien-Abkommen der Tsipras-Regierung. Der Wahlkampf der ND wurde von den überwiegend konservativen Medien unterstützt. Die bei konserativen und reaktionären Kräften verhasste Regierung Tsipras sollte nach fünf Jahren endlich durch eine konserativ-bürgerliche abgelöst werden.

Der Umbau Griechenlands in „eine moderne neoliberale totalitäre Demokratie“ wurde unmittelbar nach der Regierungsbildung vom Ministerpräsidenten Mitsotakis weiter vorangetrieben: durch einen verschärften Kurs in der Asylpolitik, durch den Ausbau des Repressionsapparates, durch die Einschränkung von Gewerkschafts- und Demonstrationsrechten, mit der sofortigen Räumung vieler selbstverwalteter Zentren. Welche Konsequenzen dies für die arbeitenden Menschen haben wird, erläuterte uns der Vorsitzende der Matrosengewerkschaft PENEN während unseres Besuches im Herbst 2019: „Steuererleichterungen für Unternehmen, Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten, Reduzierung öffentlicher Investitionen zugunsten privater Investitionen. Aktuell gibt es einen Gesetzesentwurf, der bei den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen keine Schwierigkeiten haben wird, ratifiziert zu werden. Der Entwurf sieht vor, dass für große Unternehmen der Mehrwertsteuersatz verringert wird und der Gewerbesteuersatz, der bislang bei 15% liegt, auf 5% reduziert wird – ein wahres Geschenk an die Kapitalbesitzer! […] So sollen die Rechte der Gewerkschaften neu geregelt werden. Innergewerkschaftliche Wahlen sollen ebenfalls qua Gesetzesvorgabe neu gefasst werden. Besonders das Streikrecht hat sich die neue Regierung vorgenommen. Nach ihrer Vorstellung sollen Urabstimmungen künftig ausschließlich auf elektronischem Wege erfolgen. Die Regierung bezweckt mit den verschärften Regelungen stärkere Kontrollen und träumt davon, die Gewerkschaften zu lenken und zu beeinflussen, so dass für die Belegschaften keine Alternativen zu den staatlichen Vorgaben mehr vorhanden sind.“8

Nach Jahren heftiger Auseinandersetzungen und Turbulenzen haben sich die innenpolitischen Verhältnisse in Griechenland stabilisiert. Die Kehrtwende von SYRIZA im Sommer 2015 hat die Hoffnung der Bevölkerung auf eine Alternative zu den verhassten Verhältnissen unter sich begraben. Das hat den Widerstand gelähmt und die gesamte Linke, gleich welcher ideologischen und politischen Ausrichtung, geschwächt. Die Gewerkschaften und die linken Parteien und Organisationen haben der neuen ND-Regierung wenig entgegenzusetzen. Eine faschistische Partei wie die Chrysi Avgi wird nicht gebraucht zur Stabilisierung der kapitalistischen Verhältnisse – zumindest vorerst!


Griechenland-Tagebücher

Die Tagebücher vermitteln einen Eindruck über die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland und die Kämpfe gegen die Spardiktate der Troika.
Wir stellen sie hier zum Download zur Verfügung:

Griechenland-Tagebuch 2013

Gegenbesuch-2013

Griechenland-Tagebuch 2014

Gegenbesuch-2015

Griechenland-Tagebuch 2016, Teil 1

Griechenland-Tagebuch 2016, Teil 2

Griechenland-Tagebuch 2017

Griechenland-Tagebuch 2018

Griechenland-Tagebuch 2019


  1. Aus den Reisetagebüchern der gewerkschaftlichen Solidaritätsgruppe „Gegen Spardiktate und Nationalismus“
  2. Aus: „Athen News“, 14.09.2012
  3. Überlegungen zu unserer geplanten Solidaritätsreise, aus dem Reisetagebuch der
    gewerkschaftlichen Solidaitätsgruppe von 2013
  4. Aus dem Reisetagebuch der gewerkschaftlichen Solidaitätsgruppe von 2013
  5. Aus dem Reisetagebuch der gewerkschaftlichen Solidaitätsgruppe von 2013
  6. Aus dem Vorwort des Reisetagebuchs der gewerkschaftlichen Solidaitätsgruppe von 2013
  7. Die vorgezogene Parlamentswahl wurde notwendig, nachdem bei den Präsidentenwahl der Kandidat der ND
    in drei Wahlgängen die vorgechriebene Mehrheit verfehlte.
  8. Aus dem Reisetagebuch der gewerkschaftlichen Solidaitätsgruppe von 2019

aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2021

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