Die Parlamentswahlen in Frankreich – Linkswende per Stimmzettel?

Korrespondenz

Von einem Genossen aus dem Gewerkschaftsforum Hannover erhielten wir folgende Hinweise auf die im Juni stattfindenden Wahlen in Frankreich:


Nachdem der Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélonchon am 10. April 2022 im ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen mit 21,7% der Stimmen überraschend gut abgeschnitten hat und hinter Amtsinhaber Emmanuel Macron (27,4%) und seiner rechtspopulistischen Widersacherin Marine Le Pen (24,0%) auf dem dritten Platz landete, hegt er die Hoffnung nach den anstehenden Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni 2022 in einer neuen Kohabitation Macrons Premierminister zu werden und auf parlamentarischem Weg für eine tiefgreifende, progressive politische Wende zu sorgen.

Zu diesem Zweck hat er mit den französischen Grünen (EELV), der arg geschrumpften Kommunistischen Partei (PCF) und den ebenfalls zu einer Kleinpartei degenerierten und ziemlich zersplitterten Sozialisten (PS) eine Neue Soziale und Ökologische Volksunion (NUPES) gebildet, die sich ganz bewusst positiv auf die Volksfrontregierung unter Leitung von Léon Blum von 1936 / 37 bezieht.

Dabei gerät allerdings in Vergessenheit, dass diese Regierung aus KP, Sozialisten und der kleinbürgerlichen Radikalen Partei durch einen massiven Generalstreik zu ihren Reformen getrieben und diese Streikbewegung von den Koalitionsparteien schließlich abgewürgt wurde. Ebenso fällt die niederschmetternde Erfahrung mit der „sozialistischen“ Regierung von Lionel Jospin unter den Tisch, der Mélenchon von März 2000 bis Mai 2002 als Berufsbildungsminister angehörte.

Zu denken geben sollte im Übrigen auch, dass Mélenchon in seinem Präsidentschaftswahlprogramm die Schaffung von zehntausend neuen Stellen für Polizei und Gendarmerie versprach. Als ob die Lohnabhängigen in Frankreich Bedarf an noch mehr Flics hätten.

Wenn die Arbeiterbewegung und rebellische Jugendliche nicht immer wieder denselben Illusionen aufsitzen und dieselben Fehler wiederholen sollen, ist die Auswertung dieser Erfahrungen mehr als geboten.

Die wichtigste Schlussfolgerung von allen lautet, dass allein mit dem Kreuz an der richtigen Stelle auf dem Wahlzettel und den daraus folgenden Parlamentssitzen solange nichts gewonnen ist, wie es keine massenhafte, selbstbewusste und klassenbewusste, selbstorganisierte linke Massenbewegung auf der Straße und in den Betrieben gibt.

Insofern lohnt sich die Lektüre der beiden beiliegenden, von uns ins Deutsche übersetzten Artikel aus der Wochenzeitung „Lutte Ouvrière“ vom 4. und 11. Mai 2022 auch für all jene, die sich (noch?) nicht als revolutionäre Linke verstehen.

Noch detailliertere Informationen über die französische Volksfront, die Streikbewegung und ihr Ende liefert der ebenfalls empfehlenswerte Artikel von Bernhard Schmid aus dem linken deutschen Onlinemagazin „Trend-Infopartisan“ vom Juli/August 2006.


Lutte Ouvrière“ vom 4. Mai 2022 – Von der Volksfront zur Volksunion: im Dienste der Bourgeoisie

Lutte Ouvrière“ vom 11. Mai 2022 – Linksparteien: Die NUPES ist auf dem Weg, auf dem Markt der Täuschungen


 

1 Kommentar

  1. Ein Kommentar von G:B:
    Den Artikeln aus der Lutte Ouvrière ist in ihrer Kernaussage zuzustimmen, dass den antisozialen „Reformen“, egal welcher Regierung, in erster Linie durch eine Massenmobilisierung der Lohnabhängigen etwas entgegen gesetzt werden kann. Entscheidend ist das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft. Aber was heißt das konkret für die Wahlen zur Nationalversammlung, die am 12. und 19. Juni stattfinden werden? Ist es ein Aufruf zur Wahlenthaltung?

    Zwei konkrete Beispiele verdienen nähere Beachtung:

    „Vergessen ist auch die Jahresarbeitszeit, die in einem Gesetz über die 35-Stunden-Woche festgeschrieben wurde, das in Wirklichkeit den Arbeitgebern vor allem die Möglichkeit gab, die Flexibilität der Arbeitszeiten zu erhöhen. Im Gegensatz zu dem, was Mélenchon behauptet, hat das Kapital dadurch nicht nur nichts verloren, sondern wird im Gegenteil auch heute noch darin bestärkt, die Arbeit noch unsicherer zu machen.“

    Natürlich versucht das Unternehmerlager in jeder Situation, die Verhältnisse zu Ungunsten der Beschäftigten zu verändern. Aber wenn das Gesetz über die 35-Stunden-Woche so nutzlos, ja sogar kontraproduktiv gewesen sein soll, wie Lutte Ouvrière behauptet, warum läuft der Unternehmerverband MEDEF dann seit einem Vierteljahrhundert dagegen Sturm? Dieses Gesetz ist das Ergebnis der Massenmobilisierung gegen Alain Juppés Versuch einer Renten- und Sozialversicherungsreform 1995, die für die westlichen Industriestaaten dieser Zeit beispiellos war. Unter anderem wurde als Reaktion darauf in Frankreich die Wehrpflicht abgeschafft. Auch in den Jahren danach war es nicht möglich, gegen die Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschafts- und Jugendbewegung antisoziale „Reformen“ durchzusetzen; während in Nachwende-Deutschland der sozialpolitische Roll-Back auf vollen Touren lief. Das Gesetz zur 35-Stunden-Woche von Premierminister Lionel Jospin war dann der parlamentarische Ausdruck dieses Kräfteverhältnisses.

    Was wesentlich entscheidender sein wird als die Wahlen, und da hat Lutte Ouvrière zweifellos recht, ist die Form des erneuten Angriffs der Bourgeoisie bereits vor oder nach dem rentrée, dem Ende der Sommerpause Anfang September, und der Reaktion der lohnabhängigen Massen und ihrer Organisationen auf diesen Angriff. Dennoch war unsere Haltung bei Wahlen in Deutschland, den reformistischen Parteien, bis zur Wende der SPD, danach PDS und Linke, die Stimme zu geben, ohne sich Illusionen über den Effekt zu machen. Auch die Kritik an der Volksfront im Frankreich der 1930iger Jahre und den Illusionen darüber ist vollkommen berechtigt. Zu einer Niederlage gehören aber immer zwei Seiten. Lutte Ouvirère schreibt:

    „Dieser Streik (1936) war die offene Versammlung der Unterdrückten, aber es fand sich keine Partei, die ihm politische Ziele gab, die seinen Möglichkeiten entsprachen. Der 1934 begonnene Aufstieg der Arbeiterklasse, der im Juni 1936 seinen Höhepunkt erreichte, hätte den Lauf der Geschichte ändern können.“

    Diese Feststellung trifft leider für jede Niederlage der Lohnabhängigen zu, in jedem Land der Welt. Parteien „finden“ sich nicht, sie werden von den Lohnabhängigen geschaffen oder auch nicht. Der Bewusstseinsstand der Lohnabhängigen kann sich nicht verbessern, wenn sie überwiegend passiv bleiben wie bisher in Deutschland. Allerdings würde eine Wahlenthaltung oder ein weißer Stimmzettel keine Verbesserung des Kräfteverhältnisses bewirken, sondern zu Resignation und weiterer Desorientierung führen. Die Abgeordneten von NUPES in die Nationalversammlung zu wählen und sie durch soziale Aktionen an ihre Wahlversprechen zu „erinnern“ und dadurch ein günstiges Kräfteverhältnis aufzubauen, diese Orientierung sollten wir geben.

    28.05.2022 GB

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