Vom »Ende der Welt« und dem »Ende des Monats«:
Die Gelben Westen zwingen Macron zum Zurückweichen und flößen den besitzenden Klassen Furcht ein

Von ihrem ersten Mobilisierungstag am 17. November bis zur Fernsehansprache Macrons am 10. Dezember haben die »gilets jaunes«, die Gelben Westen, bereits erreicht, was den Bewegungen der Jugend und den Gewerkschaften das letzte Mal 2006 gelang: Die Regierung zum Zurückweichen zu zwingen1. Macron verkündete am 10. Dezember Zugeständnisse im Wert von geschätzten 10 Milliarden Euro. Frankreich wird die EU-Defizitgrenze von 3,0 Prozent des BIP damit deutlich verfehlen, was in Brüssel und Berlin nicht gern gesehen wird. Präsident Macron, der sich selbst gern als »Jupiterpräsident« sah, landete unsanft in der Wirklichkeit. Le Monde titelte am 6. Dezember: »Diese verrückte Woche, in der die Amtszeit gekippt ist.«2 Warum gelang den Gelben Westen das, was der sozialen Massenbewegung 2016 nicht gelungen war?

Die Regierung bekommt Angst und weicht zurück

Auslöser der Bewegung war die geplante Anhebung der Steuern für Benzin und Diesel. Eine Online-Petition dagegen erreichte bereits am 25. Oktober über 200.000 Unterstützer. Über das Internet wurde zu einem Protest- und Blockadetag am 17. November mobilisiert. Wer mitmachen wollte, legte einfach seine gelbe Warnweste hinter die Windschutzscheibe. An diesem 17. November, einem Samstag, blockierten oder behinderten rund 380.000 Menschen an ca. 2.000 Punkten, Verkehrskreiseln oder den Mautstationen der Autobahnen, im ganzen Land den Verkehr. Die Bewegung ging während der Woche weiter, an den Blockadepunkten entstanden improvisierte Hütten. Am folgenden Samstag, den 24. November, kam es besonders in Paris zu harten Auseinandersetzungen zwischen der Bereitschaftspolizei CRS und Demonstranten, zu Plünderungen und dem Bau von Barrikaden. Die Auseinandersetzungen steigerten sich noch am folgenden Samstag, den 1. Dezember, als Unbekannte in den Arc de Triomphe eindrangen und die Statue der Marianne, des Symbols der Freiheit und der Revolution, stark beschädigten.

Falls die Regierung gehofft hatte, die Bilder der Gewalt, von brennenden Autos und Tränengasschwaden würden der Bewegung schaden, hatte sie sich getäuscht. Nach dem 1. Dezember stieg die Zustimmung von ca. 75 Prozent auf über 80 Prozent an. Die meisten der von den Medien Befragten äußerten Bedauern über die Gewalt, waren aber der Meinung, dass die Mächtigen ansonsten wahrscheinlich nicht zuhören würden. Auch wurde zurückgefragt, ob es nicht auch Gewalt sei, einen Menschen in Armut arbeiten zu lassen oder in die Erwerbslosigkeit zu schicken. Wegen des Personalmangels hatten sich Fälle gehäuft, in denen Patienten in den Notaufnahmen der Krankenhäuser gestorben waren, weil sie zu lange warten mussten! Strukturelle Gewalt.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste der Regierung und Präsident Macron klar geworden sein, dass sie sich in einer ähnlichen Lage befinden wie viele ihrer Vorgänger: Die Wut der Bevölkerung flößt ihnen Furcht ein. Um den Zorn zu beschwichtigen, hatte es schon sehr unausgereifte Vorschläge gegeben, die Anhebung der Treibstoffsteuern für die Ärmsten irgendwie zu kompensieren. Solche Halbheiten reichten nach dem 1. Dezember nicht mehr aus: Premierminister Eduard Philippe verkündete am 5. Dezember die Rücknahme der Steuererhöhung für Treibstoffe. Dass die genaueren Rahmenbedingungen (nur für 2019 oder generell?) unklar blieben, war kein Zufall. Regierung und Präsident handelten wie Getriebene, übereilt und wenig koordiniert.

Nach weiteren Auseinandersetzungen am 8. Dezember mit einer Rekordzahl von Festnahmen in Paris und anderen Städten verkündete Macron in einer Fernsehansprache am 10. Dezember weitere Zugeständnisse: Die Bezieher des Mindestlohns SMIC sollen eine monatliche Verbesserung ihres Einkommens um 100 Euro erhalten, was aber nicht der Unternehmer bezahlen soll, sondern Steuerzahler und Sozialkassen. Überstunden sollen von der Steuer befreit werden. Die Erhöhung der Sozialsteuer CSR soll für Rentner mit einer kleineren Rente als 2000 Euro zurückgenommen werden. Schließlich ein Appell an das Unternehmerlager, eine steuerfreie Jahresprämie von 1000 Euro auszuschütten. Neben den materiellen Zugeständnissen, in der Summe geschätzte 10 Milliarden Euro, versprach Macron für 2019 einen nationalen Dialog, vermittelt über die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. In einem Punkt blieb Macron hart: Die Steuer auf Geldvermögen, ISF, die er nach seiner Wahl abgeschafft hatte, werde er nicht wieder einführen.

Nicht Erwerbslose oder Migranten:
Die Reichen und Mächtigen geraten ins Visier!

Das Versprechen, eine nationale Debatte zu organisieren, weist auf das erhebliche Misstrauen hin, das große Teile der Bevölkerung ihren politischen Vertretern heute entgegen bringen. Natürlich ist der eigentliche Antrieb der Bewegung sozialer Natur: Nach beinahe 30 Jahren der Reallohnverluste und der Ausbreitung prekärer Beschäftigung steht die Verteidigung der Kaufkraft an erster Stelle der Forderungen bei jeder Befragung. Es würde in die Irre führen, würde man der Bewegung unterstellen, sie sei gegen einen ökologischen Umbau der Gesellschaft. 3 Die meisten gilets jaunes sind nicht gegen einen ökologischen Umbau der Gesellschaft, sondern gegen einen ökologischen Umbau auf dem Rücken der Ärmsten, während die Eliten munter das Flugzeug benutzen und Macron die Schließung weiterer Bahnlinien plant. Der Ausgangspunkt der Revolte war diesmal nicht Paris, wo viele Bewohner überhaupt kein Auto besitzen. Ausgangspunkt war das Frankreich der kleinen und mittleren Städte. Hier ist die Bevölkerung mangels öffentlichen Nahverkehrs nicht nur auf das Auto angewiesen. Im Gegenteil, die Wege werden immer länger, weil die öffentliche Infrastruktur, die Versorgung mit Krankenhäusern, Postämtern, Bahnhofsschaltern erheblich reduziert wurde und wird: Ein schlanker, billiger Staat zum Wohle der Profitraten. Die Revolte der kleinen Städte ist auch deshalb nicht zu unterschätzen, weil die Hälfte der französischen Bevölkerung in Städten mit weniger als 10.000 Einwohnern lebt.

Was sich in der Bewegung der Gilets Jaunes, bei all ihrer Vielgestaltigkeit und Unterschiedlichkeit, vor allen Dingen ausdrückt, ist ein Klassenreflex auf die zunehmende soziale Ungleichheit, die jahrzehntelange Umverteilung von unten nach oben, die zunehmende Verachtung, die den lohnabhängigen Teilen der Bevölkerung von Seiten der herrschenden Klasse und ihrer Helfer entgegen gebracht wird. Der Soziologe Camille Peugny beschreibt es so: »Seit einigen Jahren sagte man, dass die Volksklassen ein sehr starkes Gefühl von Ungerechtigkeit gegen diejenigen verspürten, die man als die ,Bezieher von Stütze‘ bezeichnete. Jetzt gibt es die Wendung gegen die ,oben‘: Die ,anderen‘, diejenigen die man verurteilt und verachtet, sind nicht mehr die Erwerbslosen, die Immigranten, sondern erneut die Reichen, die Mächtigen und die Eliten.« 4

Eine erste Studie zu den Gilets Jaunes, durchgeführt von Soziologen, Politologen und Geographen, brachte Überraschendes: Befragt nach ihrer politischen Orientierung erklärten 33,1%, sie seien weder links noch rechts, 5,4% äußerten sich nicht. Von den 61,5%, die sich auf einer Skala von 1 (links) bis 7 (rechts) einordneten, zählten sich 12,8% zur politischen Rechten, davon 4,7% zur extremen Rechten. Mehr als dreimal so viel, 42,6%, zählten sich zur politischen Linken, davon 15% zur radikalen Linken. Es sind überwiegend lohnabhängig Beschäftigte oder Rentner, wobei die kleinen Angestellten mit 44 Prozent überwiegen (27,2 Prozent im Bevölkerungsdurchschnitt). Arbeiter sind mit 19,3 Prozent leicht unterrepräsentiert (20,8 Prozent der Bevölkerung), Handwerker mit 14 Prozent überrepräsentiert (6,5 Prozent der Bevölkerung). Deutlich unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegen die mittleren (13,2 Prozent gegen 25,7 Prozent aller Franzosen) und leitenden Angestellten (7 Prozent gegenüber 18 Prozent). Zusammengefasst: Die Revolte der bescheidenen Einkommen. 5

Bemerkenswert ist die Verankerung der Bewegung in der Tiefe des Landes. Der Bürgermeister von Montferrier berichtet von der ersten Demonstration dieser Art in seinem Dorf von 601 Einwohnern am Fuß der Pyrenäen: »Es ist die untere Mittelklasse, die Leute, die den Mindestlohn SMIC oder etwas darüber verdienen, denen die Verträge und Steuern über den Kopf wachsen und die einfach nicht mehr können.« Der Bürgermeister von Guèret, 13.000 Einwohner, nordöstlich von Limoges: »Die, die heute auf der Straße sind, haben noch niemals wegen eines Aufrufs einer Partei demonstriert. Für die meisten ist es ihre erste Demonstration. Sie sagen: ,Wir wollen nicht mehr zahlen, wir können nicht mehr’«.6

Ein wiederkehrendes Moment in den Berichten der Gelben Westen ist die Erfahrung der Einsamkeit, die an den Verkehrskreiseln durchbrochen wurde, das Gefühl, verachtet zu werden und sich für seine Armut schämen zu müssen, und die Erfahrung, jetzt damit nicht mehr allein zu sein. Und obwohl die Blockaden zu Staus, Verzögerungen und wirtschaftlichen Einbußen führten, gab es eine das Herz erwärmende Welle der Solidarität durch die Masse der Bevölkerung, sei es durch Sprüche, Hupen, aber vor allem eine Flut von Spenden in Form von Lebensmitteln (außer Alkohol), Möbeln oder Heizmaterial.

Ein junges Paar mit vier Kindern aus Sens (Yonne), 80 km vor Paris, monatliches Einkommen 1493 Euro, berichtet, wie eine Bemerkung ihres sieben Jahre alten Sohns ihnen einen Stich ins Herz gegeben hat: »Er sagte mir, dass er es satt habe, arm zu sein.«7 Ein Bericht aus Lot-et-Garonne bei Marmande östlich von Bordeaux: »Am Anfang wusste man nicht, wohin mit den Füßen. Die Menschen kamen von überall her, meistens einzeln, ohne sich zu kennen, nicht sicher, ob man bleiben wollte. Keiner traute sich wirklich zu reden, einige hatten seit langer Zeit mit niemanden gesprochen, den Rücken krumm, in einer Ecke. Wir haben gesehen, wie sie sich Stück für Stück wieder aufrichteten. Und dann, was ist passiert? Wie alle plötzlich dahin kamen, vor vollkommen Fremden auszupacken – Leute, an denen man vor kaum zwei Wochen bei Leclerc (Einkaufszentrum) vorbei gelaufen wäre, ohne sie zu grüßen – die tiefgreifendsten Dinge seines Lebens? Die Hütte ist zu dem Ort geworden, wo die Masken fallen. Keine Scham mehr. ,Es sind zehn Jahre, die ich lebe ohne auszugehen, mit meinem Hund spreche. Heute brechen die Dämme‘, sagt eine Krankenschwester.«8

Verkehrskreisel in Cocherel, Evreux, 100 km westlich von Paris: »Die Unterstützung, die die Gruppe am meisten überrascht hat, kam von Anwohnern mit Migrationshintergrund. ,In der ersten Woche war das nicht der Fall, zweifellos weil die Bewegung als fremdenfeindlich und sexistisch präsentiert wurde‘, vermutet Loup, Erzieher im Ruhestand. (…) In der zweiten Woche kippte nach seiner Aussage alles. ,Eine Gruppe türkischer Herkunft und verschleierte Frauen sind gekommen um uns Lebensmittel zu bringen oder ihre Sympathie zu zeigen‘ freut er sich.«9

Die Bewegung ist für die Bourgeoisie und ihre Helfer so gefährlich, weil sie unerwartet kam, außerhalb der üblichen Protestrituale abläuft und niemand ihre weitere Entwicklung vorhersehen kann. Sie hat eine Allergie gegen die Politiker der traditionellen Parteien, aber auch eine Distanz gegenüber gewerkschaftlichen Stellvertretern. Alle Versuche, sie von anderen Protestthemen zu isolieren, sind bisher gescheitert. Beispielsweise plante die Regierung zu Anfang, die Mindestpreise für Produkte wie Milch oder Butter, die den Landwirten versprochen worden waren, zeitlich nach hinten zu verschieben. Die Gelben Westen sollten durch billigere Nahrungsmittel ruhig gestellt werden. Das Ergebnis waren wütende Landwirte, die sich sofort mit den Gilets Jaunes solidarisierten. Auch der Versuch, die Klimabewegung gegen die Gelben Westen in Stellung zu bringen, schlug fehl: Bei verschiedenen Märschen für das Klima wurden die Veranstalter nicht müde zu betonen, dass es keinen Widerspruch zwischen dem Ende der Welt und dem Ende des Monats gibt. »Social, climat, même combat«, »Soziales, Klima, gleicher Kampf« war am 8. Dezember in Lyon auf einem Plakat zu lesen.10 »Ändern wir das System, nicht das Klima. Für ökologische und soziale Gerechtigkeit!« stand auf dem halb gelben, halb grünen Transparent, das den Demonstrationszug in Aix-en-Provence anführen sollte.11

Die Allergie gegen selbsternannte Anführer oder Sprecher zeigt sich auch in der besonderen Wahrnehmung der Frauen in der Bewegung. Obwohl etwas schwächer vertreten als die Männer (45 Prozent gegenüber 54 Prozent) geraten sie stärker in den Blick als bei traditionellen Protestbewegungen. Dort richten sich die Kameras auf die politischen oder gewerkschaftlichen Repräsentanten, üblicherweise Männer. Die Historikerin Fanny Gallot stellt fest: »Das, was wirklich Erstaunen verdient, ist das, was man über die Beteiligung der Frauen vergisst: ihre Unsichtbarkeit in der Rückbetrachtung. Sie haben in entscheidender Weise während vieler Jahre an mehrheitlich von Frauen bestrittenen Streiks im Gesundheitssektor mit den Krankenschwestern oder im Reinigungsbereich mitgewirkt. In diesem Moment erlaubt beispielsweise der Streik der Reinigungsfrauen des Hotels Park Hyatt Vendôme, dass nicht nur ihre Arbeit sichtbar wird, sondern auch die Bedingungen, unter denen sie erledigt werden muss.«12 Kein Zufall also, dass ein Gesicht der Bewegung, Ingrid Levavasseur, Krankenschwester ist. Bei einer Sondersendung des öffentlichen Senders France 2 am 2. Dezember »argumentiert sie Abgeordnete, Ökonomen, Philosophen in Grund und Boden«. »Wo sie so gut reden gelernt habe? ,Beim vielen Zuhören‘ antwortet Levavasseur prompt.« »,Die Gelbwesten haben zueinander gefunden, sie geben nicht auf.‘ Sie selber verdient 1250 Euro im Monat, ist alleinerziehend mit zwei Kindern, 8 und 13 Jahre alt. Sie hatte das immer als persönliches Schicksal empfunden. ,Jetzt merke ich plötzlich, dass ich nicht allein bin.’«13 Und es verdient ebenfalls Beachtung, dass sich an den Verkehrskreiseln, der neuen Agora,14 alle Generationen treffen und miteinander reden und handeln.

Die Jugend der benachteiligten Viertel revoltiert: Die Kinder der Gilets Jaunes

Ebenfalls völlig unerwartet für die Regierung entstand im Kielwasser der Gilets Jaunes ab dem 2. Dezember eine Schülerbewegung an den Lycéen, den gymnasialen Oberstufen. Bilder von brennenden Müllcontainern vor den Eingängen gab es in den folgenden Wochen an bis zu 470 Einrichtungen von insgesamt 4000, davon 2500 öffentlichen Schulen. Überraschend waren ihre schnelle Ausbreitung, ihre Dauer, ihre Regelüberschreitungen, die Unvorhersehbarkeit ihrer Aktionen. Es waren nicht die Lycéen, die sonst die Rolle eines Motors der Schülerbewegungen spielten, gegen das Loi Travail vor drei Jahren, den Ersteinstellungsvertrag CPE 2006 oder das Gesetz Fillon im Bildungsbereich zwischen Dezember 2004 und April 2005. In Rouen, der Hauptstadt der Normandie, waren es beispielsweise nicht die eher »bürgerlichen« Einrichtungen rechts der Seine, sondern die »gewöhnlichen« auf der linken Flussseite. Überall die Schulen in den benachteiligten Stadtteilen, deren Abschlüsse durch die Reform des Abiturs gezielt entwertet werden sollen. Das bisher landesweite einheitliche Baccalauréat (Égalité !) wird durch ein »Schuldiplom« ersetzt, dessen Wert von der einzelnen Schule und ihrem sozialen Status abhängen wird. Die Lebenswürfel sind gezinkt! Die Bewegung richtet sich ebenfalls gegen das »parcoursup«, eine von Bildungsminister Jean-Michel Blanquer eingerichtete Internetplattform, die den Zugang zu den Universitäten regelt, auch hier wird soziale Auslese befürchtet. Ein weiterer Punkt betrifft die erhöhten Studiengebühren für ausländische Studenten. Damit sollen junge Menschen aus den armen Ländern der ehemaligen Kolonien abgeschreckt und die aus reicheren Ländern angezogen werden. Wessen Geistes Kind der Bildungsminister ist, zeigte sein Vorschlag vom 10. Januar 2019, Familien, deren Kinder in den Schulen durch Gewalttätigkeit aufgefallen sind, die finanzielle Förderung zu kürzen. Selbst die die meisten Abgeordneten von LRM, der Wahlbewegung des Präsidenten, zeigten sich über seinen Vorschlag entsetzt.

Wie bei den Gilets Jaunes beteiligten sich auch bei den Schülerinnen und Schülern viele das erste Mal an Demonstrationen und Blockaden. Entsetzen riefen die Bilder aus Mantes-la-Jolie nordwestlich von Paris hervor: Am 6. Dezember knien Schülerinnen und Schüler mit gefesselten Händen an einer Mauer, hinter ihnen steht ein behelmter Polizist. Auf einem Video, das über die »sozialen Netzwerke« verbreitet wurde, hört man einen Mann sagen: »Bitte sehr, eine Klasse, die brav ist.«15

Die Forderungen der Schüler sind praktisch identisch mit denen der Lehrergewerkschaften der Dachverbände FSU, FO, CGT oder Sud. Diese Gewerkschaften erklärten sich mit den Protesten ihrer Schülerinnen und Schüler solidarisch und riefen teilweise zum Streik auf. Eine größere Streikbewegung mit den eigenen Forderungen des pädagogischen Personals kam aber bisher noch nicht zustande.

Macrons Regierung weicht zurück

Als hätte es nicht gereicht, dass die Bewegung durch ihre Aktionen der französischen Wirtschaft »ernsthaften Schaden« zugefügt hat.16 Nein, der »Soldat der Unternehmer«, Präsident Macron, war am 10. Dezember gezwungen, weitere erhebliche Zugeständnisse zu machen. Vorbei die herrschaftliche Attitude, als er einen erwerbslosen jungen Gärtner zurechtgewiesen hatte, er brauche nur mit ihm über die Straße zu gehen und werde ihm sofort einen Job besorgen. Vorbei die Beleidigung der Bevölkerungsmehrheit als Faulenzer, als Menschen, die »nichts« seien, als aufsässige Gallier, die sich seiner Vorstellung von Reformen und Modernisierung verweigerten. Er entdeckte sein Mitgefühl für die einfachen Leute, die es so schwer haben. Was dann kam, reichte aus, um die Verschuldung deutlich über die 3,0 Prozent des BIP zu treiben, ohne aber das französische Unternehmerlager direkt zu belasten.

Eine unerwartete Nebenwirkung der Bewegung ist die geplante Besteuerung der Internetgiganten, Google, Apple, Facebook und Amazon, kurz GAFA. Eigentlich hatte man vor, sie auf die lange Bank zu schieben. Der französische Wirtschaftsminister wollte gemeinsam mit seinem deutschen Kollegen vorgehen, der aber hatte Angst vor amerikanischen Reaktionen gegen den deutschen Automobilexport. Die Gelben Westen und das Haushaltsloch brachten den notwendigen Druck, so dass Frankreich jetzt auch im Alleingang handeln wird und für 2019 mit 0,5 Milliarden Steuereinnahmen aus diesem Bereich rechnet.

Die erste der vier entscheidenden Maßnahmen betrifft die Bezieher des Mindestlohns, die »Smicards«. Die von Macron versprochene Erhöhung des Einkommens um 100 Euro bezieht sich nicht auf den Mindestlohn SMIC selber. Der sollte planmäßig zum Jahreswechsel um 1,8 Prozent erhöht werden, von 1.184,93 Euro netto (1.498,47 brutto) auf 1.210 Euro, zu Lasten der Unternehmer. Die versprochenen 100 Euro aber gehen zu Lasten der Steuerzahler und der Sozialkassen. Die Familienkassen zahlen eine Lohnsubvention, prime d’activité, für Bezieher des Mindestlohns. Diese sollte im April 2019 um 30 Euro erhöht werden, bis zum Ende der Präsidentschaft 2022 um weitere 50 Euro. Macron hat nun zugesagt, die Prämie sofort zum 1. Januar 2019 um 80 Euro zu erhöhen. Weitere 20 Euro entstehen durch die Minderung der Sozialabgaben. Kompliziert wird es dadurch, dass nicht der einzelne Erwerbstätige der Maßstab ist, sondern das Einkommen seines Haushaltes, so dass möglicherweise 45 Prozent der »Smicards« gar nicht berechtigt sind, eine Aktivitätsprämie zu bekommen.17 Die Kosten für den Staat schätzt der Minister für öffentliche Ausgaben auf 0,5 bis 0,6 Milliarden Euro.18

Die Rücknahme der Sozialsteuererhöhung CSG für Rentner unter 2000 Euro Monatseinkommen wird sich auf geschätzte 1,5 Milliarden Euro summieren.19 Die Befreiung der Überstunden von Sozialabgaben war schon im Sommer geplant, die Befreiung von der Einkommenssteuer kommt jetzt dazu. Geschätzte Kosten für die Sozialkassen: 2,0 Milliarden; für die Steuerkassen: 1,5 Milliarden Euro.20 »Mehr verdienen, indem man mehr arbeitet«, das war schon das Motto von Sarkozy, als er die Maßnahme 2007 einführte, gerichtet gegen die 1995 erkämpfte und später in Gesetzesform gegossene 35-Stunden Woche bei vollem Lohnausgleich. Damals kostete die Maßnahme den Staat 4,5 Milliarden Euro jährlich. Hollande ließ sie 2012 wieder streichen, auch auf Druck der Gewerkschaften. Die Förderung von Überstunden anstelle einer Arbeitszeitverkürzung ist typisch für Macrons Wirtschaftskurs und in jedem Fall ein Schlag ins Gesicht der Erwerbslosen.

»,Wir müssen den Soldaten Macron retten.‘ Wie ein Slogan illustriert der Satz, ausgesprochen von einer Führungskraft eines börsennotierten Unternehmens, die Notsituation, die im Unternehmerlager gefühlt wird, um einen Ausweg aus der Krise der Gelben Westen zu finden.«21 Die vierte zentrale Maßnahme, die Macron am 10. Dezember ankündigte, ist eine außerordentliche steuerbefreite Prämie, Macron nannte eine Höhe von 1000 Euro, die die Unternehmen freiwillig an die Beschäftigten ausschütten dürfen. Schon drei Tage vorher hatten drei Unternehmerverbände diese Maßnahme als Geschenk für ihren »Soldaten« vorgeschlagen, der Verband der Handwerksunternehmen U2P, der Verband der kleinen und mittleren Unternehmen und als wichtigster der MEDEF.22 Ein Geschenk nach Gutsherrenart, das die Bewegung spalten und gleichzeitig für das Unternehmerlager Schlimmeres verhindern soll.

Einen Tag nach Macrons Rede kündigten mehrere im Aktienindex CAC 40 notierte Unternehmen an, ihre Last tragen zu wollen, etwa der Luxuskonzern LVMH. Dagegen bekamen aus den Reihen der kleinen und mittleren Unternehmen einige kalte Füße und versuchten, die Erwartungen zu dämpfen. Bereits vor dem November hatten die Umsatzzahlen in einigen Branchen stagniert, beispielsweise im Bau, der Automobil- und der Lebensmittelindustrie. Die Monate Dezember und November wurden für den Handel sogar als katastrophal eingeschätzt. Andererseits konnten die Unternehmen des CAC 40 für 2018 den Rekordbetrag von 57,4 Milliarden Euro als Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten. Und für das erste Halbjahr 2018 verzeichneten diese Unternehmen einen Gewinn von 48 Milliarden Euro.23

Für die Unternehmen hat die Maßnahme zum einen den Vorteil, ihre Beschäftigten stärker an sich zu binden. Wichtiger ist aber ihre Furcht, angesichts des öffentlichen Drucks könnten ihnen Steuergeschenke wieder genommen werden, die Macron gemacht hatte, sowohl den Unternehmen selber als auch ihren Lenkern. Emmanuel Jessua, Ökonom beim unternehmerfreundlichen Institut Rexecode, vermutet, dass durch die Prämie Lohnerhöhungen ersetzt werden, die ohnehin geplant waren, aber voll zu versteuern und sozialabgabenpflichtig gewesen wären.24

Ein Problem für die Regierung sind natürlich die Erwartungen, die durch ihre Zugeständnisse überall geweckt werden. Die völlig überlasteten Polizisten konnten schon durch Streiks und Demonstrationen Gehaltsverbesserungen erreichen. Aber der gesamte öffentliche Dienst, dessen Gehälter seit fast neun Jahren eingefroren sind, möchte auch gern eine Prämie oder, noch wichtiger, eine Verringerung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, wie beispielsweise die streikenden Krankenschwestern.

Was wird aus Europa?

Am 15. August 2017 schrieben wir: »Macron möchte ein Parlament der Euro-Zone mit eigenem Budget und eigenem Finanzminister, eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung und die Vollendung der Bankenunion durch eine gemeinsame Einlagensicherung. Im Kern verlangt er als Vertreter der französischen Bourgeoisie einen Abbau des deutschen Exportüberschusses, ebenso wie das die Vertreter der US- Bourgeoisie verlangen. Ob die Vertreter der deutschen Bourgeoisie dazu willens und innenpolitisch in der Lage sind, steht in den Sternen. Macrons Vorgänger Hollande biss mit ähnlichen Ideen bei Merkel und Schäuble auf deutschen Granit.«

Die Enttäuschung der deutschen Bourgeoisie über den einstigen »Fixstern des Kontinents« hat Dr. Jens Münchrath in seinem Kommentar im Handelsblatt treffend ausgedrückt: »Macron galt in ganz Europa als Erlöser. Als einer, der nicht nur Marine Le Pen bezwungen hatte, sondern der die überfällige Trendwende in Europa einleiten sollte: weg von einem europa- und fremdenfeindlichen Rechtsnationalismus und hin zu einer weltoffenen und freiheitlichen Politik. Und nicht zuletzt war es der neue, vor Energie strotzende Mann im Élysée, dem viele zutrauten, nach Jahren der Agonie endlich sein Land zu reformieren.« Nun aber habe Macron seine Partner in eine »unmögliche Lage« gebracht. Die Sturheit und Unbeweglichkeit der deutschen Regierung, wissend um die Stimmung beim rechtsrheinischen »Wahlvolk«, hat auch Dr. Münchrath bemerkt: »Auch der informelle Deal zwischen Paris und Berlin – Frankreich reformiert sich, und Berlin macht Zugeständnisse bei den Europareformen – funktionierte schon bislang eher schlecht als recht.« Doch nun scheint Macron als »Soldat« der deutschen Bourgeoisie vollkommen zu versagen: »Scheitert allerdings der Macronismus, geht bei den Reformen in Europa gar nichts mehr.« Man kann dem Autor nur zustimmen, wenn er feststellt: »Die Zukunft der Europäischen Union – sie entscheidet sich am Ende nicht in Rom, wo eine irrlichternde Regierung durchaus großen Schaden anrichtet. Sie entscheidet sich auch nicht in London, wo sich eine Premierministerin heillos im Brexit-Chaos verheddert hat. Der größte Rückschlag für die Integration Europas wäre ein Scheitern Macrons.«25

»Der Refrain: ›Arbeitende Klassen gleich gefährliche Klassen!‹ ist zurückgekehrt«

Eine zentrale Forderung der Gilets Jaunes ist die Wiedereinführung der Steuer auf Geldvermögen, ISF. Hier will Macron hart bleiben. Gäbe es einen Volksentscheid, wären 70 Prozent der Bevölkerung für die Wiedereinführung der ISF. Auch in der Hoffnung, die Steuer auf diesem Wege durchsetzen zu können, ist die wichtigste die Verfassung der Republik betreffende Forderung die nach einem Volksentscheid, dem référendum d’initiative citoyenne, RIC. Dahinter steht aber eine schwerwiegende Repräsentationskrise, ein massiver Vertrauensverlust in politische und, wie wir später sehen werden, auch in gewerkschaftliche Stellvertreter.

Die Vertrauenskrise hatte sich schon bei den Wahlen 2017 klar gezeigt und war mit einer deutlichen Schwächung der traditionellen Rechten (den gaullistischen Les Républicains) und Linken (Parti Socialiste und auch Parti Communiste) überhaupt die Voraussetzung für Macrons Wahlerfolg. Seine im Internet gegründete Bewegung »La République en Marche«, LRM, zeigt sich dem jetzigen Ansturm kaum gewachsen. Keine gefestigten Strukturen, das Personal oft jung und unerfahren. Die Abgeordneten der Regierungsparteien, LRM und MoDem, sehen sich Anfeindungen ausgesetzt, die der ehemalige Präsident der Nationalversammlung, Bernard Accoyer, so noch nicht gesehen hat. Am 10. Januar sagte er in den Abendnachrichten 20 heures, es habe schon immer gewisse Anfeindungen gegeben, aber während der V. Republik sei es noch nie zu diesem Ausmaß gekommen. Macrons Vorgänger Hollande war nach Bekanntwerden der Pläne für das neue Arbeitsgesetz 2016 extrem unpopulär – Macron ist heute dagegen regelrecht verhasst.

Die Parteien, die zur Auflösung der Nationalversammlung aufrufen, sind auf der Linken LFI, La France Insoumise;26 auf der Rechten der ehemalige Front National, der heute Rassemblement National, Nationale Sammlung, heißt.27 Und in der Tat besteht die Gefahr, dass die Bewegung vom Weg abkommen, dass sie die Beute der extremen Rechten werden könnte. Aber auch wenn einzelne der Wortführer bei Facebook schon durch fremdenfeindliche Äußerungen aufgefallen sind, die Bewegung als Ganzes ist es bisher nicht. Dafür sprechen die sichtbaren Forderungen an den Treffpunkten und die Zahlen der oben genannten Studie. Danach standen soziale Fragen im Vordergrund. Nur 1,2 Prozent der Befragten (2 von 166) nannten das Thema Immigration.28

Der Günder und Direktor von Mediapart, Edwy Plenel, schreibt am 23. Dezember: »Verschiedene vor kurzem stattgefundene Ereignisse – besonders der Ausdruck eines virulenten Antisemitismus durch eine Gruppe Rechtsextremer in gelben Westen, Samstag, 22. Dezember am Montmartre, bewirken, dass diese Frage, entfernt davon theoretisch zu sein, außerordentlich praktisch geworden ist, für die Zukunft einer sozialen Bewegung, gleichzeitig in Gang und noch nicht entschieden. Wir haben sofort gesagt: Ihre Geschichte ist nicht im Voraus geschrieben und ihre politische Übersetzung noch weniger. Unerwartet, unvorhergesehen und unvorhersehbar, wie es alle spontanen Revolten des Volkes sind, außerhalb aller vorher existierenden Formen und aller Organisationen, das Aufbegehren einer bis dahin durch Unsichtbarkeit und Verachtung geschlagenen Bevölkerung kann in gleicher Weise Größe erreichen wie vom Weg abkommen.

Ergriffen von dieser wiederkehrenden Furcht der Besitzenden, im Angesicht einer unbeherrschbaren Wut, von der eine Gewalt zur Aufrechterhaltung der Ordnung zeugt, die seit 1968 nicht mehr gesehen wurde, spielt die Macht auf den Untergang der Bewegung, indem sie die extreme Rechte zu ihrem besten Verbündeten macht.

Während die Berichte aus der Fläche eine ansonsten vielschichtige und unterschiedliche Wirklichkeit der gelben Westen zeigt, viel näher den Quellen der Emanzipation als der Jagd auf Sündenböcke, durch Medien und Politik ist alles vorbereitet, um das kleinste rassistische Ereignis zu ergreifen und die Bewegung schlecht zu machen. Das Nebensächliche aufbauschen, auf Kosten der Untersuchung, die dauernde Information ist hier eine Waffe der massiven Verblendung, um nur zu zeigen, was Ängste und Vorurteile stärkt.« Und wirklich, in den Abendnachrichten 20 heures vom 10. Januar wird Madame Le Pen interviewt, vor großflächigen Bildern von gelben Westen und Gewalt. Soll sie zu der Wortführerin gemacht werden, die sie nicht ist?

Plenel weiter: »Zum Klassenhochmut, gegen den sich die Gelben Westen erheben, angesichts einer Macht oben, die von sich denkt, sie sei zu intelligent, zu feinfühlig für die da unten, hängt man die moralische Disqualifizierung: Nicht nur versteht und hört die Bevölkerung nichts, aber zusätzlich ist sie angsteinflößend, sogar monströs. Der Refrain: ,arbeitende Klassen, gefährliche Klassen‘, der die Bourgeoisie des neunzehnten Jahrhunderts geeint hat, aufgestiegen auf den Trümmern des Ancient Régime, ist zurückgekehrt Heute seien die Gelben Westen und die Jugend aus den einfachen Vierteln die »neuen Barbaren«, begleitet vom Ausnahmezustand, ausgerufen das erste Mal während des Algerienkrieges, bis zu den Unruhen von 2005, so Plenel. Und wirklich, die staatliche Repression, gepanzerte Fahrzeuge in den Städten, massenhafte Festnahmen, erreicht ein Ausmaß, wie es Frankreich seit dem Mai 68 nicht mehr erlebt hat.

 

Repression gegen Gelbe Westen

Die Historikerin Michelle Zancarini-Fournel ist der Meinung, dass die Repression ein höheres Ausmaß hat als im Mai 1968. (1) Mit 6.475 Festnahmen zwischen dem 17. November und dem 7. Januar beispielsweise werden die Zahlen von 1968 übertroffen. Allein am 8. Dezember wurden 1.500 Menschen festgenommen, beispiellos in der jüngeren Geschichte Frankreichs. Das Innenministerium schweigt zu der Zahl der Schwerverletzten. Für den 19. November, drei Tage nach Beginn der Bewegung, wird von 528 Verletzten, davon 17 Schwerverletzten ausgegangen. Im Fadenkreuz der Kritik steht die Bewaffnung der Polizei. Schon im Dezember 2017 kritisierte der Verteidiger der Bürgerrechte, Jaques Toubon, den Einsatz der Abschussgeräte für „Flash-balls«, (2) Gummigeschosse, die erhebliche Verletzungen verursachen können. Eine achtzigjährige Frau wurde beispielsweise in Marseille von einem Flash-Ball der Polizei getötet, als sie ihre Fensterläden schließen wollte. Über 20 Menschen wurde ein Auge zerstört, mehreren eine Hand durch Granaten abgerissen, die Sprengstoff enthalten. Zancarni-Fournel erinnert an bemerkenswerte Parallelen zu 1968. Auch damals die Dramatisierung der Gewalt durch die Regierung. Der damalige Innenminister, Christian Fouchet am 25. Mai 1968: „Die Unterwelt, die aus dem Abschaum von Paris kommt, sie ist wahrhaft rasend vor Wut und sie kämpft zusammen mit einer mörderischen Masse (…) und den Anarchisten, die hervorragend für den Krieg auf der Straße organisiert sind, die Guerilla.« Am 5. Dezember, fünfzig Jahre später, erklärte die Dienstabteilung des Präsidenten der Republik, dass mehrere Tausend entschlossene Personen am kommenden Samstag in Paris erwartet würden, die „zerstören und töten wollten.« Innenminister Cristophe Castaner kämpft für ein „Loi Anticasseur«, ein Anti- Chaoten- Gesetz. Ein Gesetz gleichen Namens wurde am 8. Juni 1970 angenommen, um die Demonstranten der „extremen Linken« zu verfolgen. Die Historikerin vermutet, dass die „große nationale Debatte« zur Befriedung der Situation unzureichend ist, solange die Regierung weiter die Bewegung kriminalisiert und Verletzungen provoziert.

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1 Le Monde, 18.01.2019
2 lanceur de balles de défence, LBD

 

Gilets Jaunes gegen Vereinnahmung
Die Haltung der Gewerkschaften

Wenn Jean-Luc Mélenchon äußert, das momentan Entscheidende seien Neuwahlen, versteht man das Misstrauen der Gilets Jaunes auch gegen eine Vereinnahmung durch LFI. Das bekam sogar der Regisseur von »Merci Patron« zu spüren, François Ruffin, inzwischen Abgeordneter von LFI, der ausgerechnet im nordfranzösischen Flixecourt von den Gelben Westen höflich der Tür verwiesen wurde. In dieser von Deindustrialisierung gebeutelten Gegend spielt sein Film, der 2016 die Bewegung »nuit debout« inspiriert hatte. Man wolle nicht politisch vereinnahmt werden, wurde ihm gesagt.29

Von den Befragten der oben genannten Studie warenProzent der Ansicht, politische Parteien hätten in der Bewegung keinen Platz. Alarmierend für die Gewerkschaften: 64 Prozent wollten auch ihnen keine Rolle zugestehen. Auf der Streikdemonstration der CGT in Paris am 14.12. äußerte eine Aktivistin der CGT ihre Frustration: »Auch wenn ich nicht für Gewalt bin, die Tatsache, dass sie nicht organisiert sind, wenigstens spricht man von den Gelben Westen. Wir machen seit Jahren geruhsame Umzüge und haben nichts erreicht.«30

Das Misstrauen gegen gewerkschaftliche Stellvertreter hängt auch mit den Niederlagen der Jahre 2016 bis 2018 zusammen. Diese Niederlagen waren sicherlich Folge mangelnder Einigkeit und Entschlossenheit gegen die jeweilige Regierung. 2016 unterstützten CGT, FO, FSU und Sud die Massenproteste gegen das neue Arbeitsgesetz, die sozialdemokratischen CFDT oder UNSA hielten sich fern.31 Beim Streik bei der französischen Bahn 2018 waren zwar alle Gewerkschaften vereint, aber der Konflikt blieb im Wesentlichen auf die SNCF beschränkt.

Neben der Trennung in verschiedene Organisationen gibt es auch starke Spannungen in den einzelnen Föderationen. Beim Force Ouvrière haben sich die inneren Gegensätze in Form einer ernsthaften Führungskrise gezeigt. Stand der damalige Generalsekretär, Jean-Claude Mailly, 2016 noch im Lager der Sozialproteste, befand er sich während der Wahlkampagne 2017 auf der Seite Macrons. Er wurde im April 2018 in fast demütigender Form durch Pascal Pavageau ersetzt, dieser wieder klar auf Protestlinie. Pavageau musste bereits am 17. Oktober zurücktreten, weil eine Liste veröffentlicht wurde, auf der er »Reformisten« und »Trotzkisten« seiner Gewerkschaft gleichermaßen beleidigt hatte. Der neue Generalsekretär, Yves Veyrier, liegt wieder auf der Mailly-Linie. Dass die bürgerlichen Medien jede Gelegenheit ergreifen, um die Gewerkschaften schlecht zu machen, besonders ihre klassenbewussten und widerständigen Teile, versteht sich von selbst.

Trotz scheinbarer äußerer Einheit gibt es auch bei der ältesten freien Gewerkschaft, der CGT, erhebliche innere Spannungen. Generalsekretär Philippe Martinez muss, wie alle Funktionäre, Rücksicht auf die Stimmung seiner Mitgliedschaft nehmen. Wohin drängt es ihn aber aus sich selber heraus? Am 6. Dezember 2018 unterzeichneten die Spitzen von CFDT, UNSA, der christlichen CFTC, aber auch von CGT, FO und FSU ein gemeinsames Papier, das innerhalb von CGT und FO für erheblichen Ärger sorgte. In dem Papier wird an die Regierung appelliert, »wirkliche Verhandlungen« zu garantieren. »Alle Formen von Gewalt als Ausdruck der sozialen Forderungen« werden verurteilt. Kaum war der Wagen von Philippe Martinez in der Zentrale der CFDT geparkt, als sich der Bundesvorstand der wichtigen Chemiegewerkschaft FNIC-CGT zu einer Notstandssitzung in der CGT-Zentrale in Montreuil traf: »Mit Überraschung und Bestürzung« habe man von der Erklärung erfahren. Sie sei ein Dolchstoß in den Rücken derjenigen,die gerade kämpfen, seien es Lohnabhängige, Schüler oder Rentner. »Die Rolle der CGT ist es, an der Seite der Arbeiter zu sein und nicht ein Anhängsel an die Macht der Unternehmer oder der Regierung.« Und: »Wenn es Gewalt gibt, ist die Verantwortlichkeit bei den Unterdrückern zu suchen, nicht bei den Unterdrückten.«32

»Macron, démission !«, »Macron, Rücktritt!« ist die geläufigste Parole der Bewegung. Wenn Philippe Martinez erklärt, er rufe weder auf, zum Élysée zu marschieren, noch zum Rücktritt Macrons oder der Auflösung der Nationalversammlung,33 drückt er ein Dilemma aus, in dem die Führungen der Gewerkschaften stecken. Sie werden von der Angst vor parlamentarischen Erfolgen der extremen Rechten getrieben. Allerdings könnte das zu einer gefährlichen, sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Was Regierung und Patrone momentan am meisten fürchten, ist, dass auch die Teile der Unterdrückten in Bewegung kommen, die bisher noch einigermaßen still halten: die Organisationen der Vorstädte, der Banlieus und besonders die Mitglieder der Gewerkschaften als organisierte Kraft.34 Dies muss aus ihrer Sicht um jeden Preis verhindert werden. Die naheliegende Strategie zur Herrschaftssicherung wird der Versuch sein, die Reichen und Mächtigen wieder aus der Schusslinie zu bekommen, zu Lasten der Erwerbslosen und der Migranten. Und richtig, am 14. Januar setzte ausgerechnet Macron das Thema Migration auf die Tagesordnung seiner »großen nationalen Debatte«, während er gewillt scheint, die Gelben Westen von eben dieser Debatte auszuschließen.

Wenn auch vorsichtig, spielt Macron die Karte „Rassismus« um die Bewegung zu schwächen. Wie sonst ist erklärbar, dass er Marine Le Pen vor Fernsehkameras im „Salon doré«, seinem barock vergoldeten Arbeitszimmer im Elysée-Palast empfing, ihr eineinhalb Stunden widmete und sie damit politisch erheblich aufgewertet hat?35

Bis zu seiner Rede am 10. Dezember war das Verhältnis zwischen Macron und den Gemeindevertretern äußerst angespannt. Wurden doch auch Gemeinden und Departements von Macrons Sparplänen heftig gebeutelt. Jetzt sollen die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sein wichtigster Transmissionsriemen sein, um die »große nationale Debatte« zu organisieren. Tatsächlich liegen überall in den Bürgermeisterämtern »Cahiers de doléances» aus, Beschwerdehefte wie zur Zeit der französischen Revolution. Überwiegende Forderungen: Kaufkraft, soziale Gerechtigkeit, Wiedereinführung des ISF, mehr direkte Demokratie. Diese Debatte bringt für die Regierung erhebliche Risiken. Die Vorbereitung ist überstürzt und die Gefahr von Enttäuschungen groß. Macron hat in seiner Silvesteransprache angekündigt, er werde seine Rentenreform und die Reform der Arbeitslosenversicherung wie angekündigt durchziehen. Für sozialen Sprengstoff ist also reichlich gesorgt.

In einer gemeinsamen Erklärung von Deutschem Gewerkschaftsbund, CFDT, CGT, FO, UNSA und CFTC am 9. November in Paris wird ein sozialeres Europa gefordert. Als »Schicksalsmoment« auf dem Weg dahin sieht man die Wahlen zum Europaparlament. Zu diesem Zeitpunkt war die Mobilisierung der Gilets Jaunes schon in vollem Gang. Es ist kein Geheimnis, dass der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann ein besonderer Freund des CFDT-Generalsekretärs Laurent Berger ist. Die DGB-Führung wünscht eine europäische Gewerkschaftslandschaft nach ihrem Bilde. Für den Fall kommender sozialer Unruhen könnte die Passivität dieser Art von Gewerkschaften Munition für die extreme Rechte bedeuten, wenn nicht politischen Selbstmord für die Gewerkschaften selbst.

GB, 12.02.2019


  1. Anfang April 2006 konnte der »Ersteinstellungsvertrag«, CPE, von einer insgesamt vierwöchigen Massenmobilisierung von Jugendlichen und Gewerkschaften gekippt werden, obwohl das Gesetz am 31. März 2006 schon offiziell in Kraft getreten war. Nach diesem Gesetz hätten die jungen Beschäftigten in den ersten zwei Jahren ohne jeden Grund gefeuert werden können.
  2. »Cette folle semaine où le quinquennat a basculé«
  3. Ein ökologischer Umbau des Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich, eine grüne fake news.
  4. Le Monde, 14.12.2018
  5. Le Monde, 12.12.2018. Die Untersuchung wurde von Camille Bedock (CNRS), Bernard de Raymond (INRA) und weiteren 68 Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftlern durchgeführt. Zur Soziologie der Gelben Westen seien auch die Texte des französischen Geografen Christophe Guilluy empfohlen, u.a. in der FAZ vom 24.11.2018.
  6. Le Monde, 22.11.2018
  7. Le Monde, 16. und 17.12.2018
  8. ebda. La révolte des ronds-points. »Journal de bord«
  9. Le Monde, 7.12.2018
  10. Le Monde, 11.12.2018
  11. Le Monde, 7.12.2018
  12. Le Monde, 11.12.2018
  13. Die Zeit, 6.12.2018
  14. Agora: Versammlungs-, Fest- und Marktplatz im antiken Griechenland
  15. Le Monde, 8.12.2018
  16. So Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 4. Dezember. Mehrfach war Amazon blockiert worden, aber auch eine Fabrik für Tränengas oder ein Flughafen, wegen der Klimaerwärmung. Der Verband der Handels- und Vertriebsunternehmen FCD schätzte die Schäden zu diesem Zeitpunkt auf mehrere Milliarden Euro. (Le Monde, 4.12.2018)
  17. Le Monde, 19.12.2018
  18. Le Monde, 13.12.2018
  19. BFMTV online, 12.12.2018
  20. Les Echos online, 10.12.2018
  21. Le Monde, 13.12.2018
  22. Mouvement des Entreprises de France
  23. 20 heures, francetvinfo, 9.1.2018
  24. Le Monde, 13.12.2018
  25. Handelsblatt online, 21.12.2018
  26. »Das unbeugsame Frankreich«, mit Jean-Luc Mélenchon an der Spitze
  27. Der Rassemblement Nationale Populaire war eine 1941 von Marcel Déat gegründete faschistische Kollaborationspartei. Madame Le Pen hat also einen sehr passenden Namen für ihre Organisation gefunden.
  28. Le Monde, 12.12.2018
  29. france3-regions.francetvinfo.fr, 9.12.2018
  30. Le Monde, 16. und 17.12.2018
  31. Der Metallarbeiterverband der CFDT mobilisierte damals gegen die Regierung
  32. Le Secrétariat Féderal FNIC-CGT, Montreuil, le 6 décembre 2018. Die Beschäftigten der Raffinerien waren ein wichtiger Faktor im Kampf gegen das neue Arbeitsgesetz 2016.
  33. Le Monde, 8.12.2018
  34. Am 5. Februar kam es endlich zu großen gemeinsamen Demonstrationen von Gelben Westen und Gewerkschaftern in Paris und anderen Städten, nach Aufrufen der CGT, von Sud und Eric Drouet, einer bekannten Gelben Weste. Die Demonstrationen waren begleitet von einzelnen Solidaritätsstreiks. Sollte sich diese gegenseitige Verstärkung vertiefen, kann dadurch ein erheblicher zusätzlicher Druck auf die Regierung ausgeübt werden.
  35. FAZ online, 11.2.2019

aus Arbeiterpolitik Nr. 1 / 2019

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