Die griechische Regierung beugt sich dem Diktat aus Brüssel
Als rücksichtslosen Klassenkampf gegen die arbeitenden und erwerbslosen Menschen führten die Vertreter der Troika die fünfmonatigen Verhandlungen mit der griechischen Regierung. Zum ersten Mal in der Eurozone hatte eine Bevölkerung die historisch gewachsenen Parteien abgestraft und mit SYRIZA einer alternativen, linken Sammlungsbewegung/Partei zur Regierungsmehrheit verholfen. Die weigerte sich zunächst, die in Brüssel präsentierten Sparvorgaben wie ihre Vorgängerregierungen widerstandslos abzusegnen. Damit wurde die linke griechische Regierung zu einem Hoffnungsträger in ganz Europa – nicht nur für die linken Parteien und sozialen Bewegungen, sondern auch für Teile der Gewerkschaften. Selbst die Vorsitzendender DGB-Gewerkschaften mussten in einer Erklärung feststellen, »dass die Wahl von SYRIZA keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa darstelle«.
Am 14. März 20015 schrieben wir in der Arbeiterpolitik:
„Die Konstrukteure und Nutznießer der Austeritätspolitik – in Griechenland als auch in Europa – werden alles daran setzen, dem griechischen linken Aufbruch ein Ende zu bereiten, bevor er in Spanien, Portugal, Italien oder anderen Staaten der EU Nachahmung findet.“ Diesem Ziel sind sie einen entscheidenden Schritt näher gekommen. „Die ‚Vereinbarung‘ zwischen der griechischen Regierung und der Euro-Gruppe vom 12. Juli 2015 markiert zweifellos eine Niederlage nicht nur für SYRIZA, sondern für die Linke und die beherrschten Klassen in ganz Europa.« (Thomas Sablowski, jw vom 18.07.2015) Treibende Kraft hinter der Unnachgiebigkeit in den Verhandlungen war die Bundesregierung, sekundiert insbesondere durch die Regierungen in Finnland und den baltischen Staaten. Bevor wir die Ereignisse der letzten Monate nachzeichnen und auf deren politische Konsequenzen eingehen, wollen wir in aller Kürze die bisher getroffenen Vereinbarungen bewerten.
Die Erklärung des EURO-Gipfels:
Fortsetzung der Kürzungsdiktate unter Preisgabe der staatlichen Souveränität
Was in Brüssel am 12. Juli verabschiedet wurde, war zunächst eine gemeinsame Erklärung der Staatschefs, zu deren Umsetzung sich die griechische Regierung mit Tsipras’ Unterschrift verpflichtet hatte. Die Erklärung fällt weit hinter die Angebote zurück, die der Euro-Gipfel vor dem Referendum unterbreitet hatte. Sie zementiert nicht nur die den Vorgängerregierungen auferlegten Kürzungsdiktate, sondern weitet sie noch aus und verpflichtet die griechische Regierung und das Parlament auch formell, der Einschränkung ihrer Souveränität zuzustimmen. Die wichtigsten Punkte sind u.a.:
- die Erhöhung der Mehrwertsteuer für Lebensmittel, Gastronomie, Tourismus etc.;
- eine Reform des Rentensystem, die auf eine weitere Senkung der Renten hinauslaufen; eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und die Abschaffung zahlreicher Bestimmungen zur Frühverrentung;
- eine tiefgreifende Überprüfung und Modernisierung für Tarifverhandlungen und Arbeitskampfmaßnahmen, d.h. die Beseitigung der Tarifautonomie muss beibehalten und das Arbeits- und Streikrecht weiter eingeschränkt werden;
- eine grundlegende Revision der Verfahren und Regelungen für das Zivilrechtssystem, d.h. beispielsweise, dass die Banken zukünftig verschuldete Kreditnehmer leichter aus ihren nicht abbezahlten Eigentumswohnungen räumen lassen können;
- die Schaffung eines Fonds, dem das zu privatisierende öffentliche Eigentum übertragen wird (dieser Fonds würde in Griechenland eingerichtet und von den griechischen Behörden unter Aufsicht der maßgeblichen europäischen Organe und Einrichtungen verwaltet werden); – die griechische Regierung muss die Institutionen zu sämtlichen Gesetzesentwürfen in relevanten Bereichen mit angemessenem Vorlauf konsultieren und sich mit ihnen abstimmen, ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt oder das Parlament befasst wird.
Zusammengefasst: das neoliberale Versuchslabor in Griechenland soll weiter betrieben werden. Es diente schon in den letzten Jahren zahlreichen Regierungen in der Eurozone als Vorlage für den sozialen Kahlschlag im eigenen Land. Die bisherige Senkung der Löhne und der sozialen Leistungen in Griechenland wird nicht nur zementiert, sondern soll noch verschärft werden. Die Begehrlichkeiten werden deutlich in den medial ausgeschlachteten Hinweisen auf den wesentlich niedrigen Lebensstandard in anderen osteuropäischen EU-Ländern. Die europäische Agenda zur Senkung der Löhne und Sozialausgaben im Interesse der globalen Wettbewerbsfähigkeit wird weiter vorangetrieben. Zum Vorbild und Maßstab werden zunehmend die neoliberalen Regierungen (die Musterschüler) aus den baltischen Staaten ernannt.
Referendum bestätigt Linksruck der griechischen Parlamentswahl:
Überraschend große Mehrheit für OXI
Alle Versuche der griechischen Regierung sich in den Verhandlungen mit der Troika wenigstens einen minimalen finanziellen Spielraum zur Beseitigung der schlimmsten sozialen Missstände zu erstreiten, schlugen fehl. Dabei handelte es sich um kleinste, vorsichtige Schritte, beispielsweise zur Wiederherstellung einer Gesundheitsversorgung auch für die über drei Millionen Menschen ohne Krankenversicherung. Lediglich 200 Millionen Euro waren im Haushalt für die ersten Notmaßnahmen vorgesehen. Als die griechische Seite feststellen musste, dass sie die ablehnende Front in Brüssel nicht aufbrechen konnte und innerhalb der Euro-Gruppe isoliert blieb, trat die Regierung Tsipras die Flucht nach vorne an. Nach Erhalt eines letzten, ultimativen Angebots Ende Juni setzte sie für den 5. Juli eine Volksbefragung an. Von der ungeheuren Dynamik, die sie damit ausgelöst hatte, wurde sie offensichtlich selbst überrascht.
Wahlkampf in Griechenland unter dem Druck von Bankenschließung und Medienhetze
Der vorläufige Abbruch der Verhandlungen und die Ansetzung des Referendums kamen für die Sachwalter der Austeritätspolitik überraschend. Entsprechend fielen die Reaktionen der Troika aus, besonders heftig bei den machtbewussten und selbstgerechten »Oberlehrern« aus Deutschland. Mit der Ansetzung des Referendums wären durch die griechische Regierung alle Brücken abgebrochen, so der Tenor aus CDU/CSU und SPD. Was folgte war ein regelrechter Propagandafeldzug in der Hoffnung, die linke Regierung durch des Wählers Stimme zur Räson oder zu Fall bringen zu können. Denn nach Umfragen ist die überwiegende Mehrheit der griechischen Bevölkerung für einen Verbleib in der Eurozone. Ein OXI (Nein) bei der Volksabstimmung würde direkt zum Austritt aus der Eurozone führen und das Land in den endgültigen wirtschaftlichen Ruin treiben, lautete der neue Schlachtruf.
Die Berichterstattung in den deutschen Medien vermittelt ein schwaches Abbild davon, wie die mediale Auseinandersetzung in Griechenland geführt wurde. Print- und Fernsehmedien befinden sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den Händen privater, steinreicher Unternehmerfamilien, die das wirtschaftliche Leben in Griechenland beherrschen. Die Warteschlangen von bedürftigen RentenerInnen vor leeren Bankautomaten sollten die Angst vor dem völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch verstärken, der mit einem OXI (zu deutsch nein) fast zwangsläufig verbunden wäre. Die Regierung wurde als eine Bande verantwortungsloser Politiker dargestellt, die um ihrer ideologischen Überzeugung willen, die Zukunft Griechenlands opfern würden. Zugleich mobilisierten die Vertreter der alten Politik ihre verbliebenen Anhänger zu Kundgebungen in der Hoffnung auf Zulauf durch verängstigte Bürger. Die starke Polarisierung der griechischen Gesellschaft wurde in und durch den Wahlkampf weiter vorangetrieben. Auf den »proeuropäischen« Kundgebungen fanden sich zusammen: die radikalisierten Neoliberalen aus PASOK und Potami und die reaktionären Nationalisten der ND. Die Regierungsparteien führten ihre OXI-Kampagne also nicht nur gegen die finanziellen und wirtschaftlichen Erpressungsmethoden der Gläubiger, sondern zugleich gegen die griechischen Medienkonzerne und die veröffentlichte Meinung. Die sagten ein Kopf an Kopf Rennen voraus und sahen zum Schluss sogar das Ja-Lager vorn – in, wie sich inzwischen herausstellte, manipulierten Umfrageergebnissen.
Die zwei Tage vor der Wahl stattfindenden Kundgebungen verdeutlichten nochmals die politische Polarisierung innerhalb der griechischen Gesellschaft. Bis zu 100.000 Anhänger (der Spiegel meldete 20.000) konnten die »Pro-Europäer« mobilisieren; an die 300.000 Menschen (Spiegel: 25.000) versammelten sich vor dem Parlament in Athen, um ihr OXI zu bekräftigen. Das Ergebnis der Volksbefragung fiel dementsprechend deutlich aus. Über 61 Prozent sprachen sich gegen das aus Brüssel vorgelegte »Angebot« aus.
Die griechische Zeitung „Kathimerini“, in ihrer Funktion vergleichbar mit der deutschen FAZ, schrieb am 9. Juli 2015 zum Ausgang des Referendums: »Darüber hinaus hat das Referendum ein zutiefst gefährliches Verhalten der Wählerschaft aufgedeckt, die sich entlang von Klassenzugehörigkeit ausgedrückt hat. Solch eine Spaltung zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden hat man nicht mehr seit den Zeiten von Andreas Papandreou gesehen, als die Unterprivilegierten begannen die gesellschaftliche Stufenleiter mit geliehenem Geld hinaufzuklettern. Die Massendemonstrationen der ›Ja‹- und ›Nein‹-Lager […] haben auch dazu beigetragen eine Auseinandersetzung auf die Straße zu bringen, die auf das Parlament oder vielleicht auf die Talkshows im TV beschränkt gehören. Das war ein politisches Verbrechen. […] Das Problem ist viel größer als das Euro-Drachme-Dilemma. Denn was auf dem Spiel steht, ist, dass Griechen einander nicht mehr ausstehen können. […] Der einzige Weg um drohende innere Unruhen zu vermeiden ist, dass Alexis Tsipras, der Ministerpräsident einer linken Partei, eine Abmachung unterzeichnet, die Griechenland in der Eurozone hält.«
Stathis Kouvelakis, Mitglied im Parteivorstand von SYRIZA und führendes Mitglied der Linken Plattform bestätigt, was bei den bürgerlichen Kommentatoren solche Ängste hervorrief. »Selbst Kommentatoren, die eher im Mainstream angesiedelt sind, mussten anerkennen, dass diese Abstimmung in ihrer Trennung nach Klassen einzigartig für die griechische Geschichte war. In den Arbeitervierteln gab es 70 Prozent und mehr für ein „Nein“, in den Reichenvierteln 70 Prozent und mehr für ein „Ja“. Die hysterische Gegenkampagne der herrschenden Kräfte und die dramatische, konkrete Situation, verursacht durch Bankenschließungen und Einschränkungen der Bargeldabhebungen, ließen in den unteren Klassen sehr schnell die Erkenntnis erwachsen, dass das „Ja“-Lager all das verkörperte, was sie hassen. Die Tatsache, dass das „Ja“-Lager eine Reihe verhasster Politiker, Experten, Geschäfts- und Medienleute für seine Kampagne mobilisiert hat, tat sein Übriges um diese Klassenreaktion zu entflammen. Die zweite Sache, die ebenso beeindruckend ist, ist die Radikalisierung der Jugend. Zum ersten Mal seit Beginn der Krise hat die Jugend als Masse vereint Stellung bezogen. 85 Prozent der 18-24-jährigen stimmten für „Nein“, was zeigt, dass diese Generation, die vom Memorandum komplett geopfert wurde, sich über die Zukunft, die sie erwartet, durchaus im Klaren ist und eine sehr klare Einstellung zu Europa hat.«
Vom NEIN der Bevölkerung zum JA ihrer Regierung
Es war neben Angst vor der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung zugleich der Druck aus der Eurogruppe, der die griechische Regierung veranlasste, den Rückzug einzuleiten. Schon unmittelbar nach der Ankündigung des Referendums hatte Bundesfinanzminister Schäuble erklärt, das bisherige »Angebot« sei vom Tisch, eine Einigung nur noch unter verschärften Auflagen vorstellbar. Die Refinanzierung der griechischen Banken wurde weiter gedeckelt (siehe auch Kasten »Finanzielle Strangulierung«). Die Botschaft: Wir können euch in die finanzielle Pleite und den wirtschaftlichen Ruin treiben.
Zugleich musste die griechische Regierung feststellen, dass es ihr nicht gelungen war, einen Keil in die Front der Eurogruppe zu treiben. Die Hoffnungen auf eine Unterstützung durch die französische und italienische Regierung erfüllten sich nicht. Die griechische Seite blieb im institutionellen Rahmen isoliert. Zugleich hatte Tsipras immer wieder betont, eine Lösung in Konfrontation mit der EU oder gar ein Austritt aus der Eurozone kämen für ihn nicht in Frage. Damit waren alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft.
Unmittelbar nach dem Referendum trat die Regierung den Rückzug an und lud am 6. Juli die Vorsitzenden aller griechischen Parteien ein, um eine gemeinsame Erklärung für die Verhandlungen in Brüssel zu verabschieden. Die KKE hat selbstverständlich nicht zugestimmt, die Goldene Morgenröte war nicht eingeladen. Mit der gemeinsamen Erklärung wurde die Verhandlungsposition der griechischen Regierung nicht gestärkt, sondern weiter untergraben. »Klar ist jedenfalls, dass die Regierung diese Initiative ergriffen hat, um die Dynamik aufzuhalten, die mit dem Referendum aufgekommen war. Darum wurde eine komplett neue Agenda festlegt. Die neue Agenda, die natürlich in Grundzügen bereits existierte, beinhaltete, dass Griechenland in jedem Fall in der Eurozone bleiben müsste. Der Punkt in dem gemeinsamen Papier, der am meisten betont wurde, war derjenige, dass das Referendum kein Mandat für einen Bruch, sondern ein Mandat für eine bessere Verhandlungsposition sei.« (Stathis Kouvelakis).
Demütigung und Kapitulation der griechischen Regierung
Die gemeinsame Erklärung bildete die Grundlage für den Einigungsvorschlag, der den Vertretern der Troika in Brüssel übermittelt wurde. Er war verbunden mit Bitte um ein dreijähriges »Hilfsprogramm« in Höhe von 82 bis 86 Milliarden aus dem Euro-Rettungsfond ESM. Der Einigungsvorschlag aus Athen entsprach im Wesentlichen dem letzten Angebot aus Brüssel vor der Ausrufung des Referendums.
Kommissionspräsident Juncker sowie die Präsidenten Hollande (Frankreich) und Renzi (Italien) sahen darin eine Grundlage zur Einigung; auch der IWF signalisierte Zustimmung – nicht so die Bundesregierung. Unterstützt durch die Regierungen vor allem aus Finnland, den Niederlanden und den baltischen Staaten, wischte Bundesfinanzminister Schäuble das Angebot aus Athen vom Tisch.
Er verlangte nunmehr die bedingungslose Kapitulation der griechischen Regierung, wie sie in der abgeschlossenen Erklärung vom 12. Juli 2015 auch zum Ausdruck kommt.
Pyrrhussieg der deutschen Bundesregierung?
Mit der Unterwerfung Griechenlands unter ein noch schärferes Spardiktat als bisher und die Ablehnung eines Schuldenschnitts für Griechenland hat sich die deutsche Position in den Verhandlungen der EU- und Eurozone-Institutionen durchgesetzt. Unterstützung hatte Deutschland vor allem in den sogenannten »Nordländern« Niederlande, Finnland, den ehemaligen Ostblockstaaten (Estland, Lettland, Litauen, Slowakei). Frankreich und Italien waren tendenziell eher dagegen.
Um die Zustimmung der wichtigsten Südländer Frankreich und Italien zu bekommen, deren Regierungen die deutsche Sparpolitik eigentlich ablehnen, musste Schäuble die Drohkulisse eines »Grexit auf Zeit« aufbauen, also mit dem Rauswurf Griechenlands aus dem Euro drohen. Mal abgesehen davon, dass ein solcher Rauswurf alle vermutlich noch teurer gekommen wäre, hätte das bedeutet, dass Deutschland in Zukunft allen »Haushaltssündern« mit dem Rauswurf drohen könnte. Damit wäre das Ende der »gemeinsamen« Währungszone eingeläutet. So konnte vor allem der französische Präsident Hollande als Retter und Wahrer der Eurozone auftreten, aber nur um den Preis, dass er das deutsche Diktat gegenüber Griechenland akzeptierte.
Entsprechend wird Hollande in Frankreich von links wie rechts scharf kritisiert, dass er sich Deutschland unterworfen habe. Ein zweites Mal wird er das sich nicht leisten können. Schon kommen Vorschläge seitens der französischen Regierung eine gemeinsame Finanzpolitik der Eurozone einzurichten, um Deutschland einzuhegen. Deutschland konnte sich diesmal durchsetzen, aber um den Preis, dass der Widerstand gegen seine Vormachtstellung zunehmen wird.
Deutschland und die Eurozone haben sich mit der Brüsseler Abmachung lediglich Zeit erkauft. Die Probleme der Staatsverschuldung und des unzureichenden Wirtschaftswachstums sind ungelöst und werden bei nächster Gelegenheit wieder aufbrechen. Dies vermutlich stärker als bei Griechenland, wenn z.B. Frankreich oder Italien oder Spanien Probleme bekommen (siehe Artikel »Um den Euro (und das Kapital) zu retten, wird die griechische Bevölkerung geopfert«).
International wurde das Brüsseler Diktat auch in der liberalen und linksliberalen Presse kritisiert. Eine der schärfsten Kritiken kam aus den USA, vom Nobelpreisträger Krugman der von einem »Putsch« gegenüber Griechenland sprach und bei der Forderungsliste der Eurogruppe von einem »Irrwitz« nannte: »[…] Diese Liste der Eurogruppe ist ein WAHNSINN. Der Hashtag »ThisIsACoup« (dies ist ein Putsch) ist korrekt. Dies überschreitet die Grenzen der Strenge und es wird die Rachsucht, die vollständige Vernichtung der nationalen Souveränität und mit keinerlei Hoffnung auf eine Linderung klar. […] Wer vermag erneut den guten Vorsätzen Deutschlands zu vertrauen? Auf eine gewisse Weise ist die Wirtschaft fast sekundär geworden. Jedoch selbst so haben wir klar zu sein: […] Was wir in den beiden letzten Wochen erfuhren, ist, dass die Mitgliedschaft in der Eurozone bedeutet, dass die Gläubiger Deine Wirtschaft zerstören können, wenn Du nicht exakt ihrer Linie folgst. […] Es erscheint mehr denn je als wahr, dass die strenge Austerität ohne Reduzierung der Verschuldung eine zum Scheitern verurteilte Politik ist – unabhängig davon, wie sehr ein Land bereit ist, sie zu ertragen. Und das bedeutet wiederum, dass selbst eine vollständige griechische Kapitulation eine Sackgasse wäre. […] Die europäische Unternehmung – eine Unternehmung, die ich immer hervorhob und unterstützte – hat einen hässlichen, vielleicht tödlichen Schlag erhalten. Und was auch immer Sie über die SYRIZA oder Griechenland denken mögen, sind nicht die Griechen daran schuld.« (http://www.griechenland-blog.gr/2015/07/krugman-zu-griechenland-das-ist-ein-putsch/2135528/)
Sachlich ist ihm durchaus recht zu geben, doch muss man die Kritik aus den USA richtig einordnen. Die US-Administration hat nämlich das geopolitische Interesse, dass ein Nato-Mitgliedsland an der »Südflanke« nicht instabil wird und ins Chaos absinkt. Das hätte Folgen für die übrigen Balkanländer, brächte möglicherweise Russland ins Spiel und würde ein Überschwappen des Staatenzerfalls und der Bürgerkriege in Nordafrika und dem Nahen Osten auf Europa begünstigen. Aus dieser Sicht müsse Griechenland von der EU unterstützt und nicht stranguliert werden.
Zum anderen stehen natürlich auch die USA vor dem Problem, dass weltweit Kapital vernichtet werden muss. Nur soll das nicht bei ihnen geschehen, sondern möglichst woanders.
Deshalb tönt vor allem aus den USA und vom IWF am lautesten der Ruf nach einem Schuldenschnitt für Griechenland durch die europäischen Gläubiger.
Griechenlands neue innenpolitische Konstellation
Die mit der Wahl der Linksregierung verbundenen Hoffnungen der griechischen Bevölkerung auf eine Beendigung oder Abmilderung der Memoranden wurden am 12. Juli unter dem Diktat von Brüssel begraben. Gescheitert ist damit der Versuch, sich mit Hilfe parlamentarischer Wahlen, die am 25. Januar SYRIZA in die Regierungsverantwortung trugen, vom Joch aus Brüssel zu befreien. Mit ihren verbalradikalen Ankündigungen in den ersten Regierungswochen, mit der über fünf Monate andauernden Weigerung, die verlangten Auflagen zu unterzeichnen, und mit der Abhaltung des Referendums schien die Regierung auf einem guten Weg zu sein. Doch unmittelbar nach dem Referendum leitete Ministerpräsident Tsipras die oben beschriebene Kehrtwende ein.
Am 15. Juli ließ die Regierung das Parlament über das erste Maßnahmenpaket abstimmen. 39 von 149 Abgeordneten aus der SYRIZA-Fraktion verweigerten ihre Zustimmung. Die Regierungskoalition verfügt somit über keine eigene parlamentarische Mehrheit mehr, um die Kürzungsauflagen durchzusetzen. Sie war und wird weiterhin auf die Stimmen der Opposition aus ND, PASOK und Potami angewiesen sein – also auf die Unterstützung der Kräfte, die das verhasste, alte System verkörpern. Die Regierungsmitglieder und Minister, die den Kürzungsmaßnahmen ihre Zustimmung versagten, wurden von Regierungschef Tsipras entlassen. Die FAZ kommentierte am 23. Juli 2015:
»Ministerpräsident Tsipras hat damit in einer Woche mehr umstrittene Projekte durch das Parlament gebracht als alle seine Vorgänger. Zum einen hat er damit die Vorleistungen (»prior actions«) aus dem Abschlussdokument des EU-Gipfels vom 12. Juli erfüllt, so dass Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm beginnen können. Zum anderen hat Tsipras die Rebellion der Parteilinken, die sich im Wesentlichen aus Kommunisten zusammensetzt, abblitzen lassen, so dass sie die Reformpolitik nicht gefährden.«
Wir stehen nach dem 12. Juli also vor einer völlig neuen innenpolitischen Kräftekonstellation. Die Regierung, dem Diktat der Troika unterworfen und angewiesen auf die Stimmen der rechten Opposition, besitzt keinen eigenständigen Gestaltungsspielraum mehr. Die von internen Kritikern gesäuberte Koalitionsregierung fungiert – zwar nicht formell, aber de facto – im Stil einer technokratischen Allparteienregierung zur Durchsetzung eines von außen verordneten Programms. Im Oktober 2014 schrieb Gregor Kritidis: »Die parlamentarische Demokratie ist in Griechenland nur noch eine Attrappe, hinter der sich ein postdemokratischer autoritärer Maßnahmestaat formiert hat.« Der autoritäre Maßnahmestaat hat sich zunächst durchgesetzt – gegen die anfängliche Weigerung der Regierung Tsipras, die bei den Wahlen gescheiterte Politik ihrer Vorgängerregierungen fortzusetzen und gegen die Aufbruchsstimmung der letzten fünf Monate.
Dem ersten Schritt der Regierung – der Unterzeichnung einer Vereinbarung, an deren Erfolg er selbst nicht glaube, so Tsipras – werden zwangsläufig weitere Schritte folgen müssen. Die Regierung muss nicht nur die in Gesetzesform gegossenen Brüsseler Auflagen vom Parlament absegnen lassen. Sie wird auch gezwungen sein, die Kürzungsauflagen mit Hilfe der staatlichen Repressionsmittel gegen den Widerstand der Betroffenen durchzusetzen. Das wurde bereits drei Tage nach Unterzeichnung des neuen Memorandums sichtbar. Gegen die Proteste am 15. Juli vor dem Parlament wurden die berüchtigten Sondereinheiten der Polizei eingesetzt. Dabei wurde auch der Vorsitzende der Athener Gewerkschaft Buch und Papier festgenommen. Die Gewerkschaft wehrt sich seit langem gegen eine völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten, wie sie in den Abmachungen festgeschrieben wurde.
Die Auseinandersetzungen mit den AktivistInnen aus den Initiativen des Widerstandes und der sozialen Selbsthilfe sowie aus den Gewerkschaften werden an Schärfe zunehmen, wenn die Auswirkungen der Kürzungsbeschlüsse spürbar und die Privatisierungen umgesetzt werden. Der Charakter der Partei, die bisher den Anspruch hatte, die Interessen der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften auf der parlamentarischen Ebene zu repräsentieren, wird sich dann in sein Gegenteil verkehren.
In Deutschland haben wir die Integration linker Parteien und Bewegungen als einen langsamen Prozess kennengelernt, in dem schrittweise Grundsatzpositionen und Ziele verwässert und aufgegeben wurden. In Griechenland ließ die Schärfe der gesellschaftlichen Widersprüche als auch die Zuspitzung in den Verhandlungen mit der Troika einen allmählichen Prozess nicht zu. Die Einbindung von SYRIZA, ihre Vereinnahmung konnte sich nur vollziehen durch die plötzliche Kehrtwende um 180 Grad, die von dem engen Führungszirkel um Tsipras eingeleitet wurde.
Damit führt er die Partei in die Fußstapfen der PASOK. Aus deren Reihen stammt ja schon ein Teil der Funktionäre und Parlamentarier, die sich nach dem Niedergang der traditionellen griechischen Sozialdemokratie über SYRIZA ihre Privilegien und Parlamentssitze sichern wollten.
Vor der Spaltung von SYRIZA?
In SYRIZA löste die Vereinbarung einen Sturm der Entrüstung und Kritik aus. Sie umfasst nicht nur die Linke Plattform, die auf dem letzten Parteitag ein Drittel der Delegierten stellte, sondern breite Teile der Mitgliedschaft. Von den 201 Mitgliedern des Parteivorstandes sprachen sich 108 gegen eine Unterschrift unter das Diktat aus. In den regionalen Parteigliederungen war die Ablehnung noch eindeutiger. Die Jugendorganisation rief, wie der Gewerkschaftsbund ADEDY, zu Protestkundgebungen gegen die Kürzungsbeschlüsse auf. »Die Putzfrauen des Finanzministeriums, das kämpferische Symbol von Tsipras‘ Wahlkampf im Januar, haben sich gegen den Premier gestellt, der für ihre Wiedereinstellung kämpfte. ›Wir haben nicht unerbittlich zweiundzwanzig Monate bei Wind und Wetter für weitere Sparmemoranden gekämpft‹, erklären die Damen in einem offenen Brief, den sie ausgerechnet auf der Internetpodium ISKRA, dem Sprachrohr der Linken Plattform des SYRIZA, platzierten. In den SYRIZA-Parteiorganen haben die Parteijugend sowie die Kommunistische Strömung bereits offen die Ablösung von Parteichef Tsipras verlangt.« (Wassilis Aswestopoulos auf Telepolis, 26.7.2015)
Es ist nicht erkennbar, dass sich die politischen Differenzen in SYRIZA überbrücken lassen. Damit scheint die Spaltung der Partei nur noch eine Frage nach dem Zeitpunkt und den Umständen der organisatorischen Trennung zu sein. Momentan bereiten sich die beiden Flügel darauf vor und sammeln ihre Anhänger. Der enge Führungszirkel um Tsipras und die sozialdemokratische Parteirechte haben mit der Entlassung der kritischen Regierungsmitglieder den ersten Schritt getan. Sie können auf die Mehrheit der Parlamentsfraktion bauen. Die Linke Plattform repräsentiert mit ihrer Kritik offensichtlich die mehrheitliche Stimmung der Parteimitglieder. Sie fordert die sofortige Einberufung eines Parteitages. Den möchte Tsipras möglichst nach hinten schieben – auf einen Zeitpunkt nach der parlamentarischen Verabschiedung aller Kürzungspakete und nach dem Abschluss der Verhandlungen mit der Troika. Der Parteitag soll die Verhandlungen nicht stören und keinen Einfluss auf dessen Ergebnis nehmen können.
Der Parteikongress hätte dann nur die Alternative, entweder die geschaffenen Tatsachen nachträglich abzunicken oder folgenlos seiner Empörung darüber Ausdruck zu verleihen.
Das ist der Gruppe um Tsipras in der Zwischenzeit gelungen. Es fand sich keine Mehrheit im Zentralkomitee für einen Parteitag vor Mitte September.
Über den Ausgang der Fraktionsauseinandersetzungen zu spekulieren, erübrigt sich angesichts der sich ständig verändernden Situation. Die griechische Gesetzgebung räumt allerdings dem Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten weitreichende Vollmachten im Falle von Neuwahlen zu, die innerhalb von 18 Monaten nach dem letzten Urnengang stattfinden. In diesem Fall darf er die Kandidatenliste ohne Konsultation des Parteikongresses festlegen. Tsipras könnte also, nach der Säuberung der Regierung, sich auch der linken Kritiker in einer zukünftigen Parlamentsfraktion entledigen.
Wahrscheinliche Neuwahlen im Herbst
»Neuwahlen, welche den dritten Urnengang der Griechen in nur einem Jahr bedeuten, werden von Tsipras für den 13. oder 20. September vorhergesagt. Die Nea Dimokratia als größte Oppositionspartei rüstet sich bereits. Interimspräsident Vangelis Meimarakis soll auf unbestimmte Zeit Parteiführer bleiben. Angesichts drohender Wahlen möchten die Konservativen nicht mitten im Wahlkampf einen internen Wahlkampf der Partei durchführen.« (Wassilis Aswestopoulos auf Telepolis, 26.7.2015)
Trotz des eindeutigen »NEIN« bei der Volksabstimmung sind die Sympathiewerte von Tsipras und SYRIZA nach dem 12. Juli nicht gesunken, sondern vorerst noch gestiegen. SYRIZA stünde bei Neuwahlen, laut erster Meinungsumfragen, vor dem Gewinn der absoluten parlamentarischen Mehrheit. Sie gilt als einzige Partei, der noch zugetraut wird, mit dem alten »Klientelsystem« aufräumen zu können. Auch drückt sich darin eine bis vor kurzem weit verbreitete Stimmung aus, die sich eine Beendigung der Memoranden ohne Bruch mit der Euro-Zone, also ohne Grexit wünscht. Dem Regierungschef Tsipras wird zu Gute gehalten, dass er sich nicht freiwillig ergeben, sondern gegen die Diktate aus Brüssel gekämpft hat. Doch dieser Ruf wird mit der Zeit verblassen, vor allem wenn die verheerenden Auswirkungen der verabschiedeten und noch zu beschließenden Gesetze sichtbar werden. Ein wesentlicher Grund für Ministerpräsident Tsipras, auf baldige Neuwahlen zu setzen. Danach könnte er mit einer gestärkten und von Kritikern gereinigten SYRIZA-Fraktion weitermachen oder notfalls weitere Partner (Potami, PASOK oder ND) in sein Kabinett holen.
In diese Richtung versuchen die bürgerlichen Kommentatoren aus Griechenland und Deutschland die Regierung zu drängen. Tsipras soll sich vom linken Flügel seiner Partei trennen und mit den proeuropäischen Kräften gemeinsam die notwendigen »Reformen« umsetzen. Darauf zielen auch die Kriminalisierungsversuche der SYRIZA-Vertreter, die sich dem neuen Memorandum verweigerten. Die linke Plattform soll isoliert und ausgeschaltet werden, damit sie keinen politischen Einfluss auf den gewerkschaftlichen und sozialen Widerstand gewinnt, der bei den bevorstehenden Kürzungen und Privatisierungen zunehmen wird.
Auch wenn in den anstehenden Neuwahlen SYRIZA zunächst als Regierungspartei bestätigt werden sollte, ihr Scheitern scheint – angesichts des akzeptierten Diktats – vorprogrammiert. „Und wenn diese Politik nun weiter fortgesetzt und immer weiterer sozialer Kahlschlag betrieben wird: Mit welchen Folgen rechnen Sie dann? Athanassios Giannis: Das Gesundheitssystem – und vielleicht auch die Gesellschaft als solche – würde komplett kollabieren, das wäre ein Akt der Barbarei. Die politische und soziale Situation würde sich in einer sowieso instabilen Region in Südosteuropa in kaum vorstellbarer Art und Weise weiter zuspitzen. Einer der ‚Gewinner‘ hiervon steht dabei heute bereits fest. Das wäre die Nazipartei in Griechenland.“ (Telepolis, 28.7.2015)
Athanassios Giannis (Chemiker und Arzt, z.Zt. Professor an der Universität in Leipzig) teilt mit dieser Einschätzung die Befürchtung vieler, auch bürgerlicher Kommentatoren.
Nach Jahrzehnten der Erfahrung mit ND und PASOK wird es kein Zurück zu den verhassten alten Systemparteien geben. Wenn auch eine linke Regierung die Hoffnung ihrer Anhänger und Wähler enttäuscht, liegt die Versuchung nahe, es doch mit den Vertretern der extremen Rechten zu versuchen. Die »Goldene Morgenröte« – oder eventuell eine neue, reaktionäre und rechtsnationalistische Partei, die aus der gescheiterten ND hervorgeht – würde davon profitieren. Eine andere Möglichkeit der reaktionären und autoritären Krisenlösung wäre der Ruf nach einer starken, über den Parteien stehenden Regierung aus Technokraten. Sie bräuchte, im Gegensatz zu den Parteien, keinerlei Rücksicht mehr nehmen auf mögliche Anhänger und Wähler.
Es wird einige Zeit brauchen, um die enttäuschten Hoffnungen zu verarbeiten und Schlussfolgerungen aus der Niederlage zu ziehen – nicht nur in Griechenland, sondern in den sozialen Bewegungen und auf der Linken in ganz Europa. Die Angriffe auf die griechische Bevölkerung werden sich mit der Umsetzung des Memorandums intensivieren. Damit das Feld nicht der faschistischen Morgenröte und anderen reaktionären Kräften überlassen bleibt, wird entscheidend sein: erstens, welche Kraft der außerparlamentarische Widerstand aufbringen kann, und zweitens, ob es gelingt, eine neue, alternative Kraft zu schaffen, die politischen Einfluss in diesem Widerstand gewinnen kann. Es gibt viele Träger für eine solche Alternative – neben der linken Plattform in SYRIZA noch zahlreiche Gruppen aus der außerparlamentarischen und linksradikalen Bewegung als auch kritische Kräfte, die sich dem Kurs der KKE widersetzen und aus der Partei gedrängt wurden.
Die Strukturen der Selbsthilfe, die Nachbarschaftsorganisationen als auch die Basisgewerkschaften haben sich immer als überparteilich begriffen und eine kritische Distanz gegenüber SYRIZA gewahrt, auch wenn zahlreiche AktivistInnen dort politisch organisiert waren. Das verschafft ihnen die nötige Unabhängigkeit für den außerparlamentarischen Widerstand gegen die Regierung.
8.8.2015
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