»Flüchtlingskrise« · »Eurokrise« · »Syrienkrise« …
Scherbenhaufen, wohin man blickt

»Europa zerfällt. Noch nicht das in der EU organisierte Europa mit seinen Institutionen, Gesetzessammlungen und Bürokratien – in rasender Geschwindigkeit verwittert das erträumte Europa, das nicht nur der Generation, die den Krieg er- und überlebte, Hoffnung und Leitstern war auf dem Weg in eine Zukunft der Freiheit, des Friedens und des Wohlstands. Diesen Zielen sind die europäischen Völker noch nie so nahe gekommen wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Doch in den Höhen, in denen die Einigungsbewegung angelangt ist, scheint ihr Antrieb nicht mehr zu funktionieren. Unter den Kräften, die an ihr zerren, ist keine, die ihr Auftrieb gibt. Krisen haben den Einigungsprozess oft auf höhere Umlaufbahnen gehoben. Die Konfrontation mit der Migrationskrise könnte jedoch einen Absturz zur Folge haben, wie ihn das uneinig gewordene Europa noch nicht erlebt hat. Niemand weiß, wie viel Einheit danach noch übrig wäre.« (Berthold Kohler, FAZ, 25.1.2016)

Berthold Kohler, einer der Herausgeber der FAZ, schrieb diese Sätze in einem Kommentar auf Seite eins des Sprachrohrs der hiesigen Herrschenden. Die Alarmglocken werden geläutet. Kohler hat bei seiner Diagnose vor allem Deutschland im Blick. Wenn er von »Wohlstand der Völker« spricht, kann er kaum Griechenland, Spanien, Portugal, Bulgarien oder Rumänien gemeint haben. Und bei einigen anderen (Slowenien, Kroatien, Lettland, Ungarn) ist sein Befund zumindest zweifelhaft.

Es geht ihm also um Deutschland in seinem Verhältnis zur EU, insbesondere um die Stellung des deutschen Kapitals, im bürgerlichen Sprachgebrauch der »deutschen Wirtschaft«. Für das deutsche Kapital ist die EU das Lebenselixier, da es ohne seine Exportmärkte, die überwiegend (2014: 58%) in der EU liegen, und Produktionsstätten in EU-Ländern (VW z.B. hat alleine 32 Produktionsstandorte in EU-Ländern außerhalb Deutschlands) nicht überleben kann. Das deutsche Industriekapital hat insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise 2008/9 seine führende Rolle in der EU ausgebaut, weil es vom Euro, den durch Hartz IV gedeckelten Lohnkosten und seinem technologischen Vorsprung profitieren konnte. Das brachte Deutschland in die Position der führenden Nation innerhalb der EU und ließ viele Linke von einer vom deutschen Imperialismus beherrschten EU sprechen. Im Gegenzug fielen andere Ökonomien zurück.

In den Krisen der letzten Jahre wurde die deutsche Regierung unter Merkel zunehmend zur »europäischen Regierung«. Im Ukraine-Konflikt versuchte sie die unterschiedlichen Interessen innerhalb der EU (die Scharfmacher Polen, Estland, Lettland, Litauen gegen die mehr auf den Ausgleich mit Russland bedachten Frankreich, Italien) und den Druck der USA in Richtung Bruch der EU mit Russland auszupendeln. So unterstützte sie zwar die prowestliche Regierung der Ukraine, vermied aber den vollständigen Bruch mit Russland. In der Griechenland-Krise war es vor allem Merkel, die auf einer »Lösung« bestand, die Griechenland in der Eurozone hielt. Ihr Credo: »Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa« drückte und drückt die Furcht des deutschen Kapitals aus, dass ein Ausschluss Griechenlands aus dem Euro die ganze Eurozone auseinander brechen lassen könnte.

Wir schrieben im Sommer 2015, als sich die deutsche Regierung mit einem neuen Spardiktat für Griechenland durchsetzte, von einem »Pyrrhussieg« (also einem Sieg mit so hohen Verlusten, dass er wie eine Niederlage wirkt, siehe Arpo 3/4 2015). Die Bedenken, insbesondere in Frankreich und Italien, mussten gegen so viel innenpolitischen Widerstand in vielen EU-Ländern überwunden werden, dass absehbar war, dass sich Deutschland bei der nächsten Krise ungleich schwerer, wenn überhaupt durchsetzen würde.
Diese nächste Krise ist jetzt da, die »Migrationskrise«, wie Kohler sie nennt. Als im August letzten Jahres Ungarn die Grenzen gegenüber den Flüchtlingen schloss, handelte die deutsche Regierung ganz konsequent im Sinne einer europäischen Regierung und damit im Sinne des deutschen Kapitals: Es galt eine Kettenreaktion auf die ungarische Maßnahme zu verhindern, nämlich, dass ein Land nach dem andern Zäune baut und die Grenzen schließt. Damit wären der Binnenmarkt und der freie Waren-und Kapitalverkehr gefährdet, mithin die wichtigste Errungenschaft für das deutsche Kapital. Es drohte die Renationalisierung der EU, d.h. der Rückzug in einzelne Nationalstaaten. Es war also durchaus logisch, als Merkel darauf reagierte und ankündigte, dass Deutschland die Grenzen öffnen werde. Als heimliche EU-Regierungschefin dachte sie natürlich, dass die anderen Länder über kurz oder lang mitziehen würden, da auch sie kein Interesse an einem Zusammenbruch des Binnenmarktes und der Wiedereinführung von Grenzkontrollen haben dürften.

Die Öffnung der Grenzen hatte also nichts mit plötzlich entdeckter Humanität zu tun. Staaten handeln nicht aus Gefühlsduselei, sondern aufgrund ihrer Interessen.

Der regierungsnahe Historiker Herfried Münkler drückt das in der »Zeit« (11.2.16) so aus: »Deutschland hat wirtschaftlich von der Schaffung eines gemeinsamen Marktes in Europa ungemein profitiert, und es war und ist der Hauptnutznießer der Einigung des Kontinents. Erste Schätzungen besagen, dass die unmittelbaren Kosten nationaler Grenzregime für jedes größere EU-Land 10 Milliarden Euro pro Jahr betragen dürften. Das ist ein geringer Betrag mit den zu erwartenden Wohlstandseinbußen, die mittelfristig aus dem dann unvermeidlichen Wiederaufleben eines wirtschaftlichen Protektionismus erwachsen würden. Die Gesamtkosten, die jetzt für die Unterbringung, Versorgung und Ertüchtigung der ins Land gekommenen Migranten anfallen, dürften ein Bruchteil dessen sein, was der Zusammenbruch des europäischen Marktes kostet – zumal dann, wenn in den europäischen Polemiken Deutschland als »der Schuldige« dafür dargestellt wird.«

Die EU wird führungslos…

Doch das Kalkül der Merkel-Regierung ging nicht auf. »Zu den bitteren Ergebnissen der Krise zählt, dass die meisten EU-Staaten nicht mehr der deutschen Führung folgen, die in der Euro-Krise noch murrend und knurrend (»deutsches Diktat«) akzeptiert worden war. Angela Merkel ist ( ) zur einsamen Europäerin geworden.« (Kohler, ebenda)

Wenn aber die EU keine politisch bestimmende Regierung und kein gemeinsames Ziel mehr hat und jedes Land machen kann, was es will, und dies auch tut, dann wird die EU bedeutungslos auf der weltpolitischen Bühne. Ein US-amerikanischer Politologe, George Friedman, bringt das auf den Punkt: »Die Zukunft der EU ist sehr interessant, da sie jetzt keine bedeutenden Entscheidungen mehr treffen kann. ( ) Ich glaube ( ) nicht, dass die EU in naher Zukunft zusammenbrechen wird, doch bin ich überzeugt, dass sie bei allen wichtigen Themen immer mehr an Einfluss verliert. ( )Die EU wird auch weiterhin existieren und glücklich in der Bedeutungslosigkeit versinken.«[1]

Klingt dies etwas schadenfroh, so macht sich ein anderer Friedman, Thomas L., außenpolitischer Korrespondent der New York Times, genau deswegen große Sorgen und rät Obama, das Nah-Ost-Drama so schnell wie möglich zu entschärfen, bevor es sich von einem riesigen humanitären Problem zu einem riesigen geostrategischen Problem auswachse, das Amerikas wichtigsten Verbündeten, die EU, in Stücke schlage. Die USA müssten sich darum kümmern, schließlich sei die EU sowas wie die Vereinigten Staaten von Europa, das zweite große Weltzentrum von Demokratie und ökonomischer Freiheit. Sie sei der erste Ansprechpartner der USA in Dingen wie Klimawandel, Umgang mit Iran und Russland sowie der Kontrolle der Unordnung in Nah-Mittel-Ost und Afrika. Die Partnerschaft mit der EU vergrößere die Macht der USA und wenn die EU gelähmt oder zersplittert sei, so müssten die USA viel mehr Dinge auf der Welt mit viel weniger Hilfe erledigen.[2]

Die Sicht des deutschen und eines Großteils des europäischen Kapitals, also die »deutsche Sicht«, formuliert Finanzminister Schäuble so: »Europäische Integration ist längst die Suche nach Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts geworden. Diese Antworten wird kein einzelner europäischer Staat für sich allein finden können, selbst wenn er es wollte. Abschottung ist keine Lösung. (…) Abschottung wäre schon mit unserem Wirtschaftsmodell eines exportorientierten Landes und unseren Ansprüchen an eine funktionierende und prosperierende Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu vereinbaren.« (FAZ, 25.1.2016)

… ist sie noch zu retten?

Während obiger George Friedman die Sache für verloren hält, müssen deutsche Kommentatoren und Politiker die Lage anders sehen. Drei Problemfelder werden überwiegend genannt, die es zu bereinigen gelte:

  • die Führungslosigkeit innerhalb der EU
  • die Binnenwanderung innerhalb der EU;
  • die Einwanderung in die EU.

Zum ersten Punkt sagt Kohler (a.a.O.) laut, was andere nur denken: man »müsste sich auf die alte Idee eines Kerneuropas besinnen, das den Stand der Integration bewahren und vorantreiben könnte. Das wäre ein Eingeständnis des Scheiterns.« Aber vielleicht würden so manche EU-Länder »endlich erkennen, was auf dem Spiel steht.« Also die Drohung mit einem Club der Reichen, der – unter deutscher und französischer Führung – die ärmeren Länder zu zweitklassigen Mitgliedern herabstufen würde. Das wäre tatsächlich das Scheitern der EU, denn die Reaktion und den Aufstand der anderen Länder, insbesondere der osteuropäischen, kann man sich unschwer ausmalen.

Zum zweiten Problem, der Binnenwanderung innerhalb der EU, spielt Großbritannien den Vorreiter. Dessen »Lösung« heißt Ausschluss der Migranten z.B. aus Rumänien und Bulgarien vom Sozialsystem des Einwanderungslandes. Schäuble findet den Ansatz richtig: Man müsse das Problem lösen, »wie ganz unterschiedliche Lebens-und Sozialstandards beziehungsweise wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit den Grundfreiheiten des gemeinsamen Marktes vereinbar gemacht werden können. Wenn das Kindergeld in Deutschland höher ist als der Durchschnittslohn in Rumänien, muss das zu Verwerfungen führen.« (ebenda) Also Reisefreiheit ja, Kindergeld und andere Sozialleistungen möglichst nicht oder erheblich weniger als für die Einheimischen.

Zum dritten Punkt heißt das Zauberwort jetzt: »Sicherung der Außengrenzen«. Wenn man den Schengen-Raum und den Binnenmarkt für Waren und Güter aller Art aufrecht erhalten wolle, müsse man die EU-Außengrenzen dicht machen. Einen Vorschlag lieferte schon die österreichische Innenministerin Mikl-Leitner: Die griechische Marine solle die griechische EU-Grenze zur Türkei dicht machen. Offensichtlich stellt sie sich die griechische Inselwelt so vor wie die österreichischen Alpen. In den Niederlanden wird aktuell ein anderes Vorhaben vorbereitet: Es sollen Fährschiffe bereit gestellt werden, die die Flüchtlinge nach Ankunft auf den griechischen Inseln wieder in die Türkei zurück bringen.

Besonders das letzte Beispiel zeigt: »Die Sicherung der Außengrenzen« kann nur militärisch, mit Gewalt, nötigenfalls mit Schusswaffen durchgesetzt werden. Denn was würden Tausende von geflüchteten Menschen auf Lesbos wohl machen, wenn man sie wieder auf die Fähren zurücktreiben und in der Türkei wieder ausladen würde? Ähnliches gilt für die anderen Vorschläge, die aktuell diskutiert werden: Auffanglager, Transitzonen, »Zurückführungen« nach Österreich, Slowenien, Griechenland, Italien usw.

Unterdessen verhandelt die Merkel-Regierung mit der Türkei. Nach ihren Vorstellungen soll die Türkei zum wichtigsten Partner bei der Begrenzung der Flüchtlingsströme werden. Die Menschen sollen dort in Lagern gesammelt werden und die EU will dann bestimmte Kontingente an »Schutzwürdigen« abnehmen und einreisen lassen. Geflissentlich wird dabei der Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten ignoriert. Auch dass die Türkei durch ihre direkte und indirekte Unterstützung von islamistischen Milizen am Konflikt in Syrien maßgeblich beteiligt ist und damit die Flüchtlingswelle aus Syrien mit verursacht, spielt keine Rolle. Von der »menschlichen Kanzlerin«, die die Flüchtlinge willkommen hieß, ist hier nichts zu sehen. Es geht deutlich um knallharte Interessenpolitik. Fast ist man versucht, an die Politik des deutschen Kaiserreichs im 1. Weltkrieg gegenüber dem Bündnispartner Osmanisches Reich zu denken. Damals wusste man von den Massakern an der armenischen Bevölkerung, schwieg aber dazu.

Die »Lösungen« werden reaktionär sein.

Die obig zitierten Lösungswege zeigen deutlich, dass, wie auch immer sie letztlich ausfallen werden, sie einen reaktionären Charakter tragen werden. Der Ausschluss aus den Sozialleistungen für EU-Migranten (zu denen sicher später noch Flüchtlinge von außerhalb kommen werden) hebt Grundrechte für bestimmte EU-Bürgergruppen auf. Die Sicherung der Außengrenzen kann nur mit Gewalt gegen die Flüchtlinge umgesetzt werden. AfD-PolitikerInnen sprechen das bereits aus.

Für Letzteres ist aber der größere Teil der Bevölkerung in Deutschland und auch der EU noch nicht zu haben. Es braucht dazu einen Stimmungswandel in der Bevölkerung, damit sich diese generell gegen Flüchtlinge wendet. Ob nun gesteuert oder nicht, dazu dienen z.B. die Vorkommnisse an Silvester in Köln und anderen Orten, die seither von täglichen Berichten über tatsächliche oder erfundene Delikte von Flüchtlingen gefüttert werden. Wenn die – vor allem moslemischen – Flüchtlinge generell in den Verdacht kommen, Vergewaltiger oder potentielle Terroristen zu sein, dann sind irgendwann auch härtere Maßnahmen an den Grenzen durchsetzbar.

Da der Merkel-Plan scheiterte, blieben nur einige Länder übrig, die überhaupt Flüchtlinge hineinließen. Als diese die Grenzen auch dicht machten, blieb letztlich nur noch Deutschland als Reiseziel und Aufnahmeland übrig. Merkels Satz: »Wir schaffen das!« hat sich innerhalb eines halben Jahres als undurchführbar erwiesen. Ihr Hinweis, dass Jordanien bei einer Bevölkerungszahl von drei Millionen 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe, hilft ihr dabei auch nicht weiter. In Jordanien (oder in anderen Nachbarländern Syriens) wird ein Großteil der Flüchtlinge in Zeltlagern untergebracht, die von der UNO versorgt werden. Dort leben sie unter Bedingungen, die zwar schlecht, aber nicht wesentlich schlechter sind als diejenigen, unter denen ein Großteil der einheimischen (armen) Bevölkerung auch lebt. Solche Lager mit diesen Bedingungen sind aber in Deutschland (bislang) nicht denkbar. Weil die Lebensumstände in diesen Lagern sich krass von den Lebensumständen der Mehrheit der Einheimischen unterscheiden würden, würden die Insassen zu fliehen versuchen. Die Regierung müsste solche Lager also wie Gefangenenlager organisieren, was sofort und zu Recht an Straf- und Konzentrationslager erinnern würde. Bis Januar 2015, als in Griechenland die Syriza-Regierung gewählt wurde, gab es in Griechenland genau solche Lager, die dann von der Syriza-Regierung aufgelöst wurden. Das war aber wenig bekannt und regte deshalb in Deutschland kaum jemanden auf. Das würde sich aber bei Lagern in Deutschland oder Österreich z.B. ändern. Deshalb denkt man jetzt in Mitteleuropa ja auch wieder an Lager in Griechenland.

Überforderung?

Hierzulande besteht deshalb (noch) der Anspruch, dass die Flüchtlinge vergleichbar mit dem Niveau der ärmeren Einheimischen menschenwürdig untergebracht und versorgt werden und nach Möglichkeit eine Integrationsperspektive bekommen sollen. Dass das bei einer Zuwanderung von einer Million Flüchtlingen pro Jahr alleine nach dem kapitalistischen Deutschland nicht klappen kann, ist aus mehreren Gründen offensichtlich.

Ein Problem sind schon mal die unterversorgten staatlichen Strukturen. Im Zuge der Globalisierung und der dadurch verschärften Standortkonkurrenz der Staaten, Länder und Gemeinden wurden einerseits die Unternehmenssteuern gesenkt, andererseits die staatlichen Organe «verschlankt«. »Schuldenbremse« und »schwarze Null« sind hier die Stichworte. Seien es Aufnahmezentren, Bürgermeisterämter, Landkreisverwaltungen usw., überall wurde ausgedünnt, so dass diese jetzt überfordert sind. Dasselbe gilt für die Polizei, die immer weniger in der Lage ist, kleinere kriminelle Delikte wie Diebstahl aufzuklären (die Aufklärungsquote liegt hier bei etwa 16%) oder vor Ort präsent zu sein, wie sich in der Silvesternacht in Köln zeigte. Um diese Entwicklung zurück zu drehen, müssten die Einnahmen der öffentliche Hände, insbesondere der Kommunen, erhöht werden, was wiederum die Standortbedingungen der »deutschen Wirtschaft«, also des Kapitals, verschlechtern würde. Dieses Rad lässt sich also gar nicht zurück drehen. Natürlich müssen wir anprangern, Forderungen stellen, Druck aufbauen (siehe den Artikel in dieser Ausgabe: »Zur Aktualität von Umverteilungsforderungen«). Es mag auch kleine Erfolge an der einen oder anderen Stelle geben. Aber wir müssen uns im Klaren sein, dass es letztlich um eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse geht. Das Wohnungsproblem ließe sich eventuell lösen, wenn man die ländlichen und strukturschwachen Gebiete mit einbezieht, wo mehr Wohnraum als in den Ballungsgebieten vorhanden ist. Aber hier zeigt sich schon der Kernpunkt: Arbeitsplätze für die Flüchtlinge.

Zum einen sind die strukturschwachen ländlichen Gebiete ja deshalb strukturschwach, weil es dort keine Industrie gibt, die die Leute beschäftigen könnte. Und die Landwirtschaft baut Arbeitsplätze ab. Bleiben also die industriellen Ballungsräume. Dort sind aber die unqualifizierten oder wenig qualifizierten Jobs, für die ein Großteil der Flüchtlinge in Frage käme, kaum noch vorhanden. Die technologische Entwicklung hat sie beseitigt. Nicht umsonst sind in Deutschland offizielle 2,6 Millionen arbeitslos, viele davon wenig qualifiziert. Dazu kommen noch die Zehntausende von EU-Binnenmigranten aus niederkonkurrierten Ländern wie Griechenland oder Spanien oder den durch die Einführung des Kapitalismus ruinierten ehemaligen Ostblockstaaten wie Bulgarien und Rumänien. Alle kämpfen zusammen mit den weniger qualifizierten Einheimischen um dieselben Jobs.
Was aber passiert, wenn Hunderttausende von Migranten ohne Perspektive auf eine Integration in die Gesellschaft nur gerade so von Sozialhilfe leben, ist in Frankreich zu sehen. Dort haben sich rund um die Ballungszentren wie Paris Vororte (Banlieus) entwickelt mit einer überwiegend perspektivlosen, migrantischen Bevölkerung, in denen es so gut wie keine staatliche Ordnung mehr gibt. Der mancherorts vorgetragene Vergleich, dass nach dem Krieg über 14 Millionen Flüchtlinge nach Westdeutschland kamen und integriert wurden, geht deshalb in die Irre. Nicht nur gab es damals einen großen Arbeitskräftebedarf, auch von Ungelernten oder Angelernten, sondern die Weltwirtschaft befand sich auch im Nachkriegsaufschwung und expandierte kräftig. Heute ist das Gegenteil der Fall: Die Weltwirtschaft stagniert mehr oder weniger, der Arbeitskräftebedarf konzentriert sich überwiegend auf qualifizierte oder hoch qualifizierte Fachkräfte.

Das bürgerlich-kapitalistische Wohlstandsdeutschland kann eine Million Flüchtlinge pro Jahr nicht aufnehmen und integrieren, wenn die Bevölkerung nicht teilen und verzichten will. Und das will sie freiwillig nicht. Willkommen und helfen ja, aber möglichst bei gleich bleibendem eigenem Wohlstandsniveau. Deshalb der Aufstand der CSU, bei vielen in der CDU und SPD, deshalb die zunehmenden fremdenfeindlichen, rassistischen Demonstrationen. Da die Flüchtlingskrise also humanitär und menschenwürdig nicht lösbar ist, wird sie reaktionär und inhuman zwar nicht gelöst, aber bekämpft werden.

Lösungen?

In der »Jungen Welt« (30./31.01. 2016) äußert sich die ehemalige SPD-Abgeordnete Lale Akgün: »Gerade im Milieu derjenigen, die in prekären Lebensverhältnissen leben, werden Konkurrenzängste gegenüber Migranten und Flüchtlingen geschürt und davon leben ja die Rechten. ( ) Aber (deren) Argumentation wird aufgenommen, denn die Menschen haben Angst vor dem sozialen Abstieg, und ihnen wird eingeredet, daran seien die Fremden schuld. Dagegen hilft nur: Aufklären, aufklären, aufklären!«

Es handele sich bei der Integration der Flüchtlinge im Prinzip also um eine Kopfsache, denn es werde «geschürt« und «eingeredet«. Dagegen müsse man die richtigen Informationen setzen, indem man »aufklärt«. Das ist bestenfalls gut gemeint und passt zu einer Partei, die für das Ganze Mitverantwortung beansprucht.

Interessant ist, im Unterschied dazu, ein Dokument aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die Resolution des Kongresses der Sozialistischen Internationale 1907, zu der Frage der Einwanderung:»Die Ein-und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsumtion der Arbeiter.( )
Der Kongress vermag ein Mittel zur Abhilfe der von der Aus-und Einwanderung für die Arbeiterschaft etwa drohenden Folgen nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmeregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluss fremder Nationalitäten oder Rassen.( ) Der Kongress erkennt die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und niedere Lebenshaltung gewöhnter Arbeiter ( ) erwachsen, sowie die Gefahren, welche ihm aus einer bestimmten Form der Einwanderung entstehen. Er sieht jedoch in der übrigens auch vom Standpunkt der proletarischen Solidarität verwerflichen Ausschließung bestimmter Nationen oder Rassen von der Einwanderung kein geeignetes Mittel sie zu bekämpfen.«[3]

Hier, 1907, wurden sowohl Probleme für die einheimischen Beschäftigten anerkannt als auch die Verantwortung dafür dort verortet, wo sie hin gehört: Zum kapitalistischen System und denen, die davon profitieren, und nicht bei denen, die fliehen müssen, um zu überleben.

Wir müssen verstehen und in unserer Umgebung verständlich machen, dass die »Migrationskrise«, die Eurokrise, die Führungslosigkeit der EU usw. Folgen der kapitalistischen Entwicklung sind.

Die Erfolge der deutschen Exportindustrie in den letzten Jahren, also des deutschen Industriekapitals, das Wachstum der deutschen »Wirtschaft« in einem stagnierenden Markt haben zur Folge, dass die europäischen Konkurrenten verlieren, weniger wachsen. Das führt zum zunehmenden Zerfall der EU. Der Boden der EU ist nicht die Solidarität der westlichen «Wertegemeinschaft«, sondern die Profitwirtschaft und die Konkurrenz. Solange die Weltwirtschaft generell wuchs und alle teilnehmen konnten, konnten die Widersprüche übertüncht werden. Aber spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 2008/09 wird das zunehmend schwieriger. Eine Zeitlang konnte der Exportmarkt China noch ausgleichen, aber das kommt jetzt auch ans Ende. Die Zentralbanken versuchen die Wachstumsschwäche mit einer »Politik des billigen Geldes« zu bekämpfen. Dies erleichtert den einzelnen Staaten, sich zu verschulden und die fehlende Nachfrage zum Teil auszugleichen. Wie lange das noch funktionieren wird, ist nicht vorhersehbar.

Auch die «Migrationskrise« ist eine Folge der kapitalistischen Entwicklung. Der »arabische Frühling« brach nach Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008/09 aus, weil die Massen in der arabischen Welt keine befriedigende Lebensperspektive mehr hatten und haben. Der Hintergrund des syrischen Bürgerkriegs war der Niedergang der syrischen Wirtschaft im Zuge der Globalisierung nach 1990 (Niedergang der Staatsindustrie, Privatisierung auf Druck des IWF) und einer für die Landwirtschaft katastrophalen Dürre. Die brutale Niederschlagung des «arabischen Frühlings« in den meisten Ländern lässt vielen nur noch die Fluchtperspektive in das aus ihrer Sicht reiche Europa. Die militärische Zerschlagung der politisch stabilen, aber ökonomisch geschwächten Regimes im Irak, in Libyen gab auch diesen Ländern keine Perspektive eines Anschlusses an eine prosperierende Weltwirtschaft, sondern nur den Zerfall und die Verelendung, da der Weltmarkt bereits übervoll ist mit den Waren aus den USA, Europa, Japan und China. Was bleibt, ist Auswanderung, Migration. Sie ist auf profitwirtschaftlicher Grundlage nicht zu stoppen. Fluchtursachen sind nicht Schleuser, unkontrollierte Fluchtwege usw., die entscheidende Fluchtursache ist die Profitwirtschaft. (siehe dazu: Arbeiterpolitik 5/6 2015, besonders S.8f; siehe auch »Das Elend in Gestalt der ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ vor die Tür weisen« in dieser Ausgabe.)

Rechtsentwicklung

Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, geht die politische Entwicklung in allen Ländern nach rechts. Das heißt auf EU-Ebene eine Zunahme nationalistischer bis EU-feindlicher Kräfte, die in der krisenhaften Entwicklung nach dem Motto verfahren: Rette sich, wer kann.

In dieser Renationalisierung ist vom Standpunkt der Arbeiterklasse kein Blumentopf zu gewinnen. Sie würde nur zum Mitläufer ihrer jeweils eigenen herrschenden Klasse. Und in den meisten Ländern ist sie das ja auch. Die Fahne einer zerfallenden EU aufrecht zu erhalten, wie das die deutschen Gewerkschaften tun, ist nur die Kehrseite davon. Denn die EU ist die Lebensgrundlage des wachsenden deutschen Kapitals und dessen Wachstum soll durch die Standortpolitik gefördert werden. Unsere Perspektive kann nicht sein, uns am Niederkonkurrieren der ausländischen Konkurrenten zu beteiligen. Wenn wir nicht auf die Profitwirtschaft generell und auf die Konkurrenz und deren Überwindung zu sprechen kommen, sollten wir lieber nichts sagen.

Dasselbe gilt auch für die »Migrationskrise«. Natürlich müssen wir den reaktionären Entwicklungen im Innern entgegen treten, auch der in der Vorbereitung befindlichen militärischen Sicherung der Außengrenzen. Natürlich müssen wir solidarisch sein, denn der Abbau der Rechte für Migranten, deren Diskriminierung werden auch uns treffen. Aber wir müssen uns im Klaren sein, dass wir damit das Problem nicht lösen können, dass wir nur Pflaster auflegen, aber nicht heilen können.
Am politischen Kampf gegen die Profitwirtschaft führt kein Weg vorbei.


[1] George Friedman: Die EU ist zunehmend unzuverlässig und unvorhersehbar, euractiv.de am 18.01.2016

[2] Thomas L. Friedman: Friends and Refugees in Need, nytimes.com am 27.1.2016

[3] zitiert nach »Junge Welt«, 30./31.1.2016. (Es folgen Forderungen wie Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung etc.) In der Zeit um den Kongress 1907 (August in Stuttgart) hatte die Wanderung der Arbeiter durch Europa und in den USA gerade für die sozialdemokratischen Parteien Bedeutung, weil diese Träger des Internationalismus-Gedankens waren. Diese Arbeiter hatten erlebt, dass das Kapital sie in allen Ländern gleichartig ausbeutete, dass sie als Klasse einen gemeinsamen Gegner hatten. Große Arbeitskämpfe wurden im Deutschen Reich mit Unterstützung ausländischer Arbeiter geführt, das Klassenbewusstsein wurde international begriffen. Zugleich keimte in dieser Hochphase des Imperialismus die Kriegsgefahr auf, dass Chauvinismus und Nationalismus sich breit machten. Lenin, Luxemburg und Martow setzten in der Abschluss-Resolution einen Zusatz durch, der für den Fall eines Krieges ein einheitliches Verhalten aller Arbeiter über die Ländergrenzen hinaus verlangte, der also für den Fall nationaler Konfrontation am proletarischen Internationalismus festhielt.


aus Arbeiterpolitik Nr. 1 / 2016

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