Frankreich: Gegen das neue Arbeitsgesetz und die Welt, die es geboren hat

Was spätestens am 9. März begann, war mehr als eine gewerkschaftliche Bewegung gegen das geplante Arbeitsgesetz Loi travail, von der französischen Regierung auch Loi El Khomri genannt. Für die Regierung Valls ging es um die »Reformfähigkeit« Frankreichs. Das geplante Gesetz und die von ihm beabsichtigte Zerstörung von Schutzbestimmungen, die im Verlauf von hundert Jahren erkämpft wurden, war der Kristallisationspunkt einer gesellschaftlichen Bewegung, die tiefere Fragen gestellt hat, als die nach einer Reduzierung der Lohnarbeitszeit. Besonders die Jugendlichen, besonders die Platzbesetzerbewegung »Nuit-Debout«, stellten Fragen nach unserer Lebensweise überhaupt, nach Demokratie, Verfassung und Wirtschaftssystem.


Von Beginn der öffentlichen Diskussion an wurde das Gesetz von mehr als zwei Dritteln der französischen Bevölkerung abgelehnt – trotz intensiver Bearbeitung durch die Medien. Die bei einer derartig breiten Ablehnung für Frankreich relativ niedrige Beteiligung an den Demonstrationen war sicherlich auch Folge einer Repression gegen Gewerkschaften, die Frankreich so seit dem Algerienkrieg nicht mehr erlebt hat.

Auf dem bisherigen Höhepunkt der Streikbewegung Ende Mai waren ein Drittel der französischen Tankstellen ohne Benzin und erste Versorgungsengpässe traten auf. Auch in dieser Lage waren zwei Drittel der Bevölkerung dagegen, die Blockaden von Benzindepots durch die Polizei räumen zu lassen. Die Streikwelle lief mit der Europameisterschaft und der Sommerpause ab dem 14. Juli aus. Trotzdem musste die Regierung Manuel Valls das Gesetz mit dem Verfassungsartikel 49-3, ohne Debatte, durch die Nationalversammlung drücken. Davon unbeeindrucktrufen die sieben Organisationen, die die Bewegung getragen haben, zum Neustart im September mit einem ersten Aktionstag am 15. September auf.

eiter schießen zu lassen, schuf das Arbeitsministerium aus Angst vor der sozialen Revolte und mit dem Kalkül, den revolutionären Ideen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine historische Analogie sind vielleicht die Bismarkschen Sozialgesetze in Deutschland.

1910 wurde der Code du travail geschaffen und in den folgenden hundert Jahren weiterentwickelt, Ausdruck der Kräfteverhältnisse, Ausdruck von sozialen Kämpfen, Ausdruck auch von Errungenschaften der Arbeiterbewegung.

Unter den Bedingungen der neoliberalen Gegenreformen in Europa, der Agenda 2010 in Deutschland, der Austeritätspolitik, von ähnlichen »Arbeitsgesetzen« in Spanien, Italien
und aktuell in Belgien, angesichts der nachlassenden Konkurrenzfähigkeit der französischen Wirtschaft, mussten die Schutzbestimmungen des Code du travail zu einem Ärgernis erster Ordnung für die französischen Untenehmer werden.

Sollte die Bewegung den Kampf nicht für sich entscheiden können, drohen eine erhebliche Schwächung der französischen Gewerkschaften, Entmutigung großer Teile der Bevölkerung und ein weiteres Erstarken der parlamentarischen und außerparlamentarischen Rechten, insbesondere des Front National. Für die Präsidentschaftswahlen und die Wahlen zur Nationalversammlung, die nächstes Jahr stattfinden werden, zeichnet sich eine historischen Niederlage der sozialistischen Partei und ihres Präsidentschaftsbewerbers ab.

Worum geht es? Der Code du travail und das geplante Loi travail, das Gesetz El Khomri

Der Ursprung des Code du travail geht auf ein Grubenunglück in Courrières in Nordfrankreich im Jahr 1906 zurück [1] . Bei der Explosion im Bergwerk starben 1099 Kumpel, aber der Besitzer, der »Patron«, verbot, nach Überlebenden zu suchen. Er wolle mit dem Bergwerk Geld verdienen und müsse sich gegen die polnische Konkurrenz behaupten. 13 Tage nach der Explosion kamen überlebende Bergleute ans Tageslicht, die sich mit eigenen Mitteln den Weg freigekämpft hatten. Die Wirkung auf die öffentliche Meinung in Frankreich war erschütternd. Sie zwang den damaligen Premierminister George Clémenceau, ein Arbeitsministerium gegen das Wirtschaftsministerium zu schaffen. Clémenceau, der sich in anderen Situationen nicht scheute, auf streikende Arb

Es ist in Frankreich kein Geheimnis, dass der neoliberale und äußerst unpopuläre Premierminister Manuel Valls die treibende Kraft innerhalb der Regierung beim Durchpeitschen dieses Gesetzes ist. Die 38 Jahre alte Arbeitsministerin Myriam El Khomri, die von Arbeitsgesetzgebung nur wenig Ahnung hat, musste ihren Namen dafür hergeben. Innerhalb der französischen Bewegung spricht man lieber vom Loi travail als vom Loi El Khomri, um keine rassistischen Anknüpfungspunkte zu liefern. Dass das Loi travail Teil einer Kampagne ist, um Frankreich „konkurrenzfähiger“ zu machen, ist offensichtlich. Im letzten Jahr wurden durch verschiedene Gesetze der Gesundheitsschutz geschwächt, das Recht der Beschäftigten auf Information gemindert, die Ladenöffnungszeiten gelockert und die Sonntagsarbeit ausgeweitet (die Gesetze Rebsamen, Sapin und Macron). Der Vorsitzende des Unternehmerverbandes MEDEF , Pierre Gattaz, nannte den bestehenden Code du travail den Feind Nr. 1 der französischen Unternehmer. Zahlreiche Teile des neuen Loi travail gehen auf entsprechende Forderungen des MEDEF oder Vorschläge aus Brüssel zurück [2].

Es ist an dieser Stelle offensichtlich nicht möglich, die gesamte Liste der Verschlechterungen für die Lage der arbeitenden Bevölkerung in Frankreich darzustellen. Beispielhaft hier einige der wichtigsten:

I) Hierarchie der Normen oder die Beerdigung des »Günstigkeitprinzips«.

Es gibt ein Arbeitsgesetz, branchenübergreifende Tarifverträge, Branchentarifverträge, Haustarifverträge und individuelle Arbeitsverträge. Wenn sich die Bestimmungen aus diesen Regelwerken widersprechen, gilt das »Günstigkeitsprinzip«. Das bedeutet, dass die für den Lohnabhängigen günstigste Regelung greift. Die öffentlichen Diskussion in Frankreich spitzte sich auf den Artikel 2 des Loi travail zu, der die Rangfolge der verschiedenen Regelwerke umkehrt. Die Frage also, ob ein schlechterer Haustarif einen besseren Branchentarif außer Kraft setzen darf. Ob er sogar das Gesetz außer Kraft setzen darf. Was in der öffentlichen Diskussion verschleiert wurde, ist die Tatsache, dass es den Vorrang eines schlechteren Haustarifs in Frankreich bereits gibt. Am 4. Mai 2004 wurde ein vom damaligen gaullistischen Arbeitsminister François Fillon (RPR) auf den Weg gebrachtes Gesetz verabschiedet, das unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, den Branchentarif durch einen schlechteren Haustarif zu unterlaufen. Bedingung war, dass dadurch Arbeitsplätze erhalten werden sollten (defensive Vereinbarung). Was das neue Loi travail vorsieht, sind aber offensive Vereinbarungen. Das bedeutet, dass Branchentarife unterlaufen werden dürfen, wenn beispielsweise Firma A zusätzliche Arbeitsplätze schaffen will. Firma A soll also dabei unterstützt werden, dem Branchenkonkurrenten Firma B Marktanteile abzujagen. Dass die bei Firma A zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätze dann bei Firma B wegfallen, interessiert die Regierung nicht. Für diesen wilden Konkurrenzkampf sollten nach ursprünglicher Planung sowohl Arbeitszeit als auch Lohn ungünstiger sein dürfen als im Branchentarif. Im Laufe der Proteste wurde die Bezahlung wieder herausgenommen, die Arbeitszeitverlängerung blieb. Die Kernaufgabe von Gewerkschaften, die Konkurrenz unter den Beschäftigten zurückzudrängen, soll durch diese neue Regelung außerordentlich erschwert, die Gewerkschaften sollen in einem historisch zu nennenden Ausmaß geschwächt werden.

II) Das Vetorecht der Mehrheitsgewerkschaft soll gekippt und durch eine Abstimmung im Betrieb ersetzt werden

Für die Existenz mehrerer Gewerkschaften gab es bisher folgende Regelungen: Um tariffähig zu sein, benötigt eine Gewerkschaft 10 Prozent der Beschäftigten in einem Betrieb oder 8 Prozent der Beschäftigten in einer Branche. Wenn sie 30 Prozent Beschäftigte hat, können ihre Tarife allgemeingültig erklärt werden. Bisher hatte die Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb, die mindestens 50 Prozent der Beschäftigten repräsentieren muss, ein Vetorecht gegen ungünstige Tarifverträge. Dieses Vetorecht soll jetzt verschwinden. Nutznießer dieser geplanten Regelung wird die rechtssozialdemokratische CFDT sein, deren nationale Führung neoliberal gesinnt ist. Ihr Vorsitzender, Laurent Berger, verteidigt entsprechend das geplante »Loi travail« und betont die Vorteile, die es den Beschäftigten bringe. Das Vetorecht soll durch eine Abstimmung auf Betriebsebene ersetzt werden. Hören wir dazu Gérard Filoche (s.o.):

»Die FNAC (Fédération nationale d›achats. Führende Handelskette für Unterhaltungsmedien, Bücher, Tonträger, Elektronik in Frankreich, Belgien, Spanien, Italien, Portugal und Brasilien). Die Beschäftigten wollen nicht am Sonntag arbeiten. Die Mehrheitsgewerkschaften verweigern ihre Zustimmung zur Sonntagsarbeit. Für diesen Fall erfindet das Gesetz El Khomri eine Abstimmung im Unternehmen gegen die Mehrheitsgewerkschaften. Man könnte in Versuchung geraten, zu denken, das sei Demokratie, weil es eine Abstimmung ist; nein; abstimmen mit einer Pistole an der Schläfe (nach dem Motto: Wenn du nicht am Sonntag zum Arbeiten kommst, schmeiße ich dich am Montag raus), das ist keine Demokratie. Ja, aber wenn die Leute es freiwillig machen? Wir haben dieses Argument oft gehört.« Gérard Filoche hämmert nochmals ein: »Im Arbeitsrecht existiert keine Freiwilligkeit. Versucht am Sonntag zu arbeiten, wenn euer Besitzer es nicht will…Versucht am Sonntag nicht zu arbeiten, wenn euer Besitzer es will… Die Abstimmung erfordert keine Mindestwahlbeteiligung. Sie kann am Samstagmorgen mit 20 Prozent der Wähler durchgeführt werden, und sie wird gültig sein, dort also auch gegen die (Gewerkschaft), die mit einem Quorum von 50 Prozent gewählt wurde. Diese Abstimmung ist also keine demokratische Vorgehensweise.«

III) Verlängerung der Arbeitszeit bei schlechterer Bezahlung oder ohne Bezahlung

Bisher galt die 35-Stunden-Woche nur im Monatsdurchschnitt, mit Zustimmung einer Gewerkschaft im Jahresdurchschnitt. Überstunden konnten also innerhalb eines Jahres ausgeglichen werden oder mussten mit einem Zuschlag von 25 Prozent bezahlt werden, in Kleinbetrieben 10 Prozent. Nach der neuen Regelung soll der Bemessungszeitraum auf drei Jahre ausgedehnt werden können. Generell kann ein Haustarif die Zuschläge auf 10 Prozent absenken. Gérard Filoche nennt Beispiele aus dem dritten Arrondissement von Paris, die er in seiner Funktion als Arbeitsinspektor kennt:

»Rue St. Martin – Bekleidung – 45 Beschäftigte. Besitzer ein Kämpfer, keine Personalvertreter bei ihm. Vier Reihen von 10 Frauen, jede arbeitet ohne Pause an ihrer Maschine. Die Vorarbeiterin befindet sich auf einer Art Podium. – Man muss den Finger heben um Pipi machen zu gehen. – In dieser Bude, mit dem Gesetz El Khomri, wird der Besitzer auf das Podium steigen, neben die Vorarbeiterin, und er wird sagen: »Es ist einfach, wir können die Zuschläge von 25 Prozent nicht mehr bezahlen, ab heute werden wir 10 Prozent bezahlen.« Und er wird fragen: »Gibt es jemanden, der dagegen ist?« Offensichtlich wird niemand aufmucken. Sie werden alle die Nase auf ihre Maschine senken. Natürlich, sie werden nachrechnen. Sie haben die Zuschläge nötig, mit dem kleinen Lohn, den sie haben. Sie werden schnell nachrechnen, was sie verlieren, aber sie werden nichts sagen.«

»Rue Meslay – Bekleidung – 35 Beschäftigte. – Besitzer sehr sympathisch. – Deswegen keine Personalvertreter. – Der Besitzer entscheidet, bei Zuschlägen von 25 Prozent zu bleiben, berücksichtigend, dass er genug Gewinn macht und dass die Beschäftigten, die er mag, die Zuschläge nötig haben. Aber, in diesem Fall, ist es der Banker, der kommen wird und der dem Besitzer sagen wird, dass seine zusätzlichen Lohnkosten nicht erlauben, eine ausreichende Gewinnspanne zu ergattern. Nun, die Banker lieben Unternehmen sehr, die starke Gewinnspannen haben. Er wird ihn erinnern, dass es am Ende jeden Trimesters Probleme mit der Bilanz geben wird; dass er ihn, den Banker, braucht, um dieses Problem zu lösen (dieses Kap zu passieren); dass er, der Banker, ihm gern helfen möchte, dieses schwierige und wiederkehrende Kap zu umschiffen, aber dann muss der Besitzer auch umgekehrt ihm helfen. Vor dem Gesetz El Khomri hätte der Besitzer nein zu dem Banker sagen können; ihn daran erinnern, dass die Zuschläge nach dem Gesetz 25 Prozent betragen; aber mit El Khomri wird der »nette Besitzer« vor seine Beschäftigten treten und ihnen sagen, dass es leider notwendig ist, die Zuschläge auf 10 Prozent zu kürzen, sonst drohe der Banker, ihn fallen zu lassen, wenn ich euch nicht die 10 Prozent zahle, sind wir alle gestorben, wird er sagen, ich mache den Laden zu. Das bricht mir das Herz, aber… 10 Prozent. Und er wird es machen wie der aus der Rue St. Martin.«

»Rue ND de Lazareth – Bekleidung – 15 Beschäftigte. – Besitzer ein Gauner – Der Buchhalter ist genau so ein Gauner wie er. – Nicht angemeldete Beschäftigte – bezahlt Überstunden überhaupt nicht. – Der Arbeitsinspektor hat schon mehrere mündliche Verhandlungen veranlasst. – Der Buchhalter bemerkt zum Besitzer, dass es Mittel gibt, die Überstundenzuschläge zu vermeiden: Sie auszugleichen. ‹Wir geben ihnen am Ende des Monats eine Jacke.›«

Die Ruhezeiten, die 11 Stunden am Tag betragen, können nach der geplanten Regelung zerstückelt werden, die wöchentliche Arbeitszeit darf maximal 60 Stunden betragen, geblockt ist nur die Zeit von Mitternacht bis 5 Uhr morgens.

Eine unglaublich skandalöse Regelung ist mit den „forfaits-jours“ geplant, den »Pauschal-Tagen«. Danach kann mit den Gewerkschaften vereinbart werden, dass Überstunden überhaupt nicht gemessen werden, sondern eine Arbeitszeit von bis zu 13 Stunden am Tag als pauschal mit dem Lohn abgegolten gilt. In Betrieben unter 50 Beschäftigten soll das der Besitzer auch im Alleingang beschließen können.

In den Bereich der Arbeits- und Erholungszeiten fällt auch die geplante Regelung, dass die Zusage für Urlaubstage auch im Zeitraum von vier Wochen vor Urlaubsbeginn durch den Unternehmer wieder zurückgenommen werden kann. Pech für die Beschäftigten, wenn schon eine Reise gebucht wurde!

IV) Erleichterung von Entlassungen

Betriebsbedingte Kündigungen werden erleichtert. Bei einem Auftrags- oder Umsatzrückgang im Zeitraum von je nach Betriebsgröße (50; 100; 300 Beschäftigte) zwei, drei oder vier Quartalen kann betriebsbedingt gekündigt werden. Will ein internationaler Konzern wie Toyota Leute entlassen, musste er bisher nachweisen, dass er international in Schwierigkeiten steckt. Nach der geplanten Regelung darf er Gewinne verschieben und sich als Toyota France arm rechnen und dann Beschäftigte feuern.

V) Obergrenze von Abfindungen

Bisher galt in Frankreich, dass gegen unbegründete Entlassungen geklagt werden konnte. Im Erfolgsfall stand am Ende aber nicht wie in Deutschland die Wiedereingliederung in den Betrieb, sondern eine Abfindung. Diese war bisher durch eine Untergrenze gesetzlich geregelt, also einen Mindestbetrag. Er betrug 6 Monatslöhne nach zwei Jahren Betriebszugehörigkeit. Das geplante Loi travail sieht nun eine Obergrenze vor, also einen Höchstbetrag. Dieser soll 3 Monatsgehälter bei zwei Jahren Betriebszugehörigkeit betragen, 6 Monatsgehälter bei zwei bis fünf Jahren und maximal 15 Monatsgehälter bei zwanzig Jahren. Diese geplante Regelung sorgte für große öffentliche Empörung und auch der CFDT Vorsitzende Laurent Berger war empört darüber, vorher nicht informiert worden zu sein. Am 14. März ruderte die Regierung taktisch zurück und erklärte die Tabellen für Obergrenzen als nicht mehr bindend, sondern nur empfohlen.

VI) Verschlechterungen für Erwerbslose

Es war gängige Praxis der Arbeitsagenturen (Pôle Emploi), sich zuviel gezahlte Unterstützung durch Zugriff auf die Konten der Erwerbslosen zurück zu holen. Aus diesem Grund hatte sich 2013 ein Erwerbsloser vor der Arbeitsagentur in Nantes verbrannt (Gérard Filoche, s.o.). Nach zweijähriger Prozessdauer hatten die Gewerkschaften erreicht, diese Praxis durch das oberste Verwaltungsgericht stoppen zu lassen. Mit dem geplanten Loi travail wird diese Praxis wieder erlaubt.

VII) Deregulierung bei arbeitsmedizinischen Fragen

Die bisher verpflichtenden regelmäßigen Besuche von den zuständigen Arbeitsmedizinern sollen durch »Informationsbesuche« ersetzt werden. Die Angestelltengewerkschaft CFE-CGC , die die Arbeitsmediziner vertritt, befürchtet nun Schwierigkeiten bei der Dokumentation von arbeitsmedizinischen Problemen wie burn-out.

VIII) Sklavenartige Beschäftigungsverhältnisse außerhalb jeden Lohnarbeitsverhältnisses am Beispiel Uber

Hören wir noch einmal Gérard Filoche: »Man muss trotzdem über zwei Artikel im Einzelnen sprechen, die euch schaudern lassen müssen. Der erste ist ein Artikel, der nicht die Lohnabhängigen angreift, sondern den Lohn selber. Artikel 27. Fahrer der VTC [3]. Bitte sehr, Fahrer, die 20 Stunden am Tag fahren können, 110-120 Stunden pro Woche; die im Auto schlafen; zahlen keine Sozialabgaben; müssen die Kosten der Karosserie tragen, wenn sie anfallen. Und Uber? Uber macht nichts als den Kurs abzuhalten und 25 Prozent für den Kurs zu verlangen.

Der VTC Fahrer hat keine andere vertragliche Beziehung. Keinen Lohn, keinen Schichtplan, keine Arbeitsmedizin, keine Arbeitskontrolle, keine Verpflichtung. Der VTC Fahrer zahlt sein Auto, sein Benzin, seine Versicherung und transportiert seine Kunden. Das ist Post-Sklaverei. In Paris sind die URSSAF (Verband, der die Sozialabgaben einkassiert) gerade dabei, zahlreiche VTC Fahrer wieder in Arbeitsverträge zu qualifizieren. Aber bitte, das wird nicht möglich sein mit dem Artikel 27 des Gesetzes El Khomri…«

Nach dem 9. März 2016:
Die Bewegung nimmt Fahrt auf

Im Herbst 2015 hätte niemand in Frankreich eine derartig lang anhaltende Massenbewegung erwartet. Die Menschen, die Hollande im Mai 2012 gewählt hatten, vor allen Dingen um Sarkozy loszuwerden, die Wählerinnen und Wähler der Parti Socialiste und der Grünen, wären sicherlich nicht besonders überrascht gewesen, wenn die Versprechungen des Wahlkampfs nicht eingehalten worden wären. Was aber passierte, war das genaue Gegenteil des Versprochenen, d.h. der Versuch eines umfassenden neoliberalen Umbaus Frankreichs, an den sich auch die konservative Rechte so bisher nicht gewagt hatte. Die einzige fortschrittliche Maßnahme dieser Regierung war die Einführung der Homo-Ehe, gegen die dann die katholische Rechte und der Front National Sturm liefen.

Am letzten Tag des Jahres 2013 wurde der »Pacte de la responsabilité et de solidarité« verkündet, ein Maßnahmenpaket mit dem Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Geschenk von gut 50 Milliarden Euro an die französischen Unternehmer. Nach einem desaströsen Ergebnis der PS bei den Kommunalwahlen am 30. März 2014 trat Premierminister Jean-Marc Ayrault zurück und wurde durch den unpopulären Hardliner Manuel Valls ersetzt. Valls sammelte 2011 bei den Vorwahlen zur Präsidentschaft gerade einmal 6 Prozent der Stimmen des sozialistischen Lagers. Er selber bezeichnet sich als Anhänger der Politik von Tony Blair und Bill Clinton. Es war klar, dass jetzt die neoliberale Gangart verschärft werden würde. Abgerundet wurde das Bild im August 2014 durch die Berufung des parteilosen ehemaligen Investmentbankers Emmanuel Macron zum Wirtschaftsminister.

Im folgenden Jahr wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die die rechtliche Lage der arbeitenden Bevölkerung in Frankreich deutlich verschlechterten (s.o.). Das Jahr 2015 war außerdem geprägt durch die schrecklichen Anschläge im Januar und November in Paris und den folgenden, bis heute anhaltenden Ausnahmezustand (État d›urgence). Die Regeln dazu stammen aus dem Jahr 1955, der Zeit des Algerienkrieges. Dieser Ausnahmezustand wurde inzwischen viermal vom Parlament verlängert, nach aktuellem Stand bis Januar 2017.

Die Straße wurde geprägt durch die extreme Rechte, der Front National konnte die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem neoliberalen Umbau auf seine Mühlen lenken. Hatte der FN bei den Parlamentswahlen 2012 noch knapp 14 Prozent der Stimmen erhalten, waren es bei den Europawahlen 2014 schon fast 25 Prozent und bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 sogar knapp 28 Prozent. Die außerparlamentarische Linke, die Gewerkschaften, die enttäuschten Wählerinnen und Wähler der Sozialisten waren auf der politischen Bühne nicht mehr zu sehen. Der Februar 2016 war durch die Debatte geprägt, ob Hollande mit seinem Versuch durchkommen würde, den Ausnahmezustand in Permanenz zu erreichen und unliebsame Staatsbürger ausbürgern zu dürfen. Dieser Plan scheiterte an Widersprüchen mit der parlamentarischen Rechten und innerhalb der beiden Parlamentskammern. Der Plan und sein Scheitern brachten Hollande einen weiteren Verlust an öffentlichem Ansehen.

In diese Lage platzte am 17. Februar 2016 ein Bericht über das geplante »Loi travail«, von der Regierung Loi El Khomri genannt. Es scheint der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Eine deutliche Mehrheit hat in Frankreich die Schnauze voll, ras-le-bol, von ihrem Präsidenten und seiner Regierung, vom wirtschaftlichen Druck und den schlechten Perspektiven selbst der gut ausgebildeten jungen Generation, die nach erfolgreichen Abschlüssen nur prekäre Beschäftigung findet und/oder ihren Eltern weiter auf der Tasche liegt. Eine am 18. Februar gestartete Petition gegen den Entwurf erreichte innerhalb von drei Tagen 200.000 Unterschriften. Für den 9. März, an dem der Entwurf im Kabinett beraten und beschlossen werden sollte, riefen zunächst Vertreter der sozialen Bewegungen und der Studierenden zu einer ersten Demonstration auf, gefolgt von CGT, FO und den Basisgewerkschaften SUD-Union syndicale Solidaires.

Bewegung der Studierenden, Oberschülerinnen und Platzbesetzer. Nuit Debout

Zunächst waren es die Jugendlichen, Oberschüler, Studenten, die Druck auf ihre Verbände ausübten, um zu mobilisieren. Unter ihrem Druck bewegten sich auch die Gewerkschaften. Am 9. März fand die erste Massendemonstration in Paris statt, mit einer Beteiligung von realistisch geschätzt 40 bis 50.000 Teilnehmern. In Frankreich gibt es schon lange das Spiel, dass die Gewerkschaften die Teilnehmerzahlen unrealistisch hoch einschätzen, die Polizei dagegen tendenziell zu niedrig. Die Beteiligung für ganz Frankreich sind grobe Werte zwischen den Angaben der Polizei und denen der CGT. In ganz Frankreich nahmen entsprechend 300.000 bis 400.000 Menschen an Demonstrationen teil. Es war der Auftakt zu einer Welle von insgesamt 15 Massendemonstrationen, vier im März, zwei im April, fünf im Mai, drei im Juni und die bisher letzte am 5. Juli. Am 17. und 24. März hatten überwiegend die Jugend- und Studierendenvertretungen aufgerufen.

Schon am Morgen des 17. März waren in ganz Frankreich 115 Oberschulen (Lycées) besetzt worden. Zum ersten Mal nach 1968 und 2006 wurden auch wieder das Hauptgebäude der alten Pariser Universität Sorbonne im Stadtzentrum südlich der Seine und das Zentrum für Sozialwissenschaften in der Rue Tolbiac von der Universitätsverwaltung geschlossen. Beides waren in der Vergangenheit Orte studentischer Vollversammlungen und Massenmobilisierungen. Anfang April 2006 konnte der »Ersteinstellungsvertrag«, CPE, von einer insgesamt vierwöchigen Massenmobilisierung von Jugendlichen und Gewerkschaften verhindert werden, nachdem das Gesetz am 31. März 2006 offiziell in Kraft getreten war. Nach diesem Gesetz hätten die jungen Beschäftigten in den ersten zwei Jahren ohne jeden Grund gefeuert werden können.

Einen ersten Höhepunkt der Bewegung bildete die Demonstration am 31. März. Bei strömendem Regen beteiligten sich 50 bis 60.000 Menschen in Paris und schwieriger zu schätzende 500.000 bis zu einer Million in ganz Frankreich. In Nizza und Rennes je 10.000, Lyon 30.000, Marseille 120.000. In den Kiosken von Paris fehlten wegen eines Streiks der Drucker und der Beschäftigten im Vertrieb sämtliche Tageszeitungen. Streiks gab es außerdem in Krankenhäusern, bei der Nachrichtenagentur AFP, bei der Bahn SNCF wegen eigener betrieblicher Konflikte und an Schulen. Am Flughafen Paris-Orly fielen 20 Prozent der Flüge aus und ein Streik beim Pariser Nahverkehr RATP führte zu insgesamt 650 km Stau. Zu der Demonstration aufgerufen hatte ein Bündnis aus sieben Organisationen: CGT, FO, FSU (größte Gewerkschaft im Erziehungsbereich und öffentlichen Dienst), die Union der Basisgewerkschaften SUD-Solidaires, UNEF (Frankreichs ältester Studierendenverband) und die Gewerkschaften der Oberschüler UNL und FIDL.

Am Abend versammelten sich trotz des kalten und nassen Wetters bis zu 3.000 Menschen auf dem Place de la République im nordöstlichen Stadtzentrum zur ersten »Nuit-Debout«, also »Aufrechten Nacht« oder »Wachen Nacht«. Aufgerufen hatte ein Kreis um die Zeitung »Fakir« und den Dokumentarspielfilm: »Merci Patron« mit Chefredakteur François Ruffin in der Hauptrolle. Der satirische Film spielt in der strukturschwachen Picardie im Nordosten Frankreichs. Das Ehepaar Klur wurde von dem Luxuskonzern LVMH – Moët Hennessy Louis Vuitton – entlassen. Mit Hilfe der CGT und eines Unterstützerkreises und durch ein gewitztes Erpressungsmanöver können die Klurs dem Konzern eine ansehnliche Abfindung abluchsen. Der Film hatte schon zuvor in der fortschrittlichen Szene Frankreichs Furore gemacht und wird später zur Mobilisierung gegen das geplante Loi travail eingesetzt werden.

Auf dem Platz gab es Imbissstände, Redebeiträge und Debattierzirkel. Junge Menschen tanzten zu Elektromusik unter dem Licht von roten Leuchtfackeln. Am Freitagmorgen gegen Fünf Uhr wurden die verbleibenden ca. 300 Menschen von der Polizei vertrieben, nur um am Freitagabend, dem 32. März nach neuer Zeitrechnung, mit insgesamt ca. 2.000 Mitmenschen wieder zu erscheinen. Eine gut besuchte Vollversammlung findet statt und es bilden sich Ausschüsse für Kommunikation und für Aktionen. Die Bewegung strahlt auf zunächst 22 andere französische Städte aus, u.a. Toulouse, Lyon und sogar das konservative Nizza. Einer Liveübertragung am Sonntag, dem 3. April oder 34. März folgen 80.000 Menschen. Gegen fünf Uhr früh wird der Platz üblicherweise geräumt.

In der ersten Aprilhälfte erscheinen allabendlich über 3.000 Menschen auf dem Platz. Vollversammlungen, Ausschüsse, Konzerte, ein offenes Mikrofon. Die Mehrzahl der Anwesenden sind Studierende, prekär Beschäftigte aus dem Intellektuellen- und Künstlermilieu. Hunderte Angehörige der intermittents du spectacle, also unterbrochen, prekär Beschäftigte aus der Kulturindustrie, deren Überbrückungsgelder durch die Arbeitsagenturen bedroht sind. MEDEF und CFDT einigten sich gerade auf einen Abbau ihrer Leistungen. Ökologische Themen, das Thema Migration. Leute aus der rechten Szene oder Querfront-Anhänger sind nicht erwünscht. Natürlich finden sich auch Trittbrettfahrer und Anhänger wirrer, religiös-veganer Zivilisationsmüdigkeit, doch bei den überaus Meisten ist die Bewegung gegen das geplante Loi travail der Bezugs-, Dreh- und Angelpunkt. Vielmehr wird über das Zusammengehen der Kämpfe nachgedacht, eine Verbindung zu den Gewerkschaften. Es werden aber auch Gedanken gedacht und ausgesprochen, die über die Forderung nach einer Reduzierung der Lohnarbeit auf 32 Stunden hinausgehen. Eine Lohnarbeit, die auch in 32 Stunden zur Zerstörung der Umwelt beiträgt und ein Ausbeutungs- und Gewaltverhältnis reproduziert, das die Menschen und die Natur erniedrigt.

Ab dem 6. April stehen immer mehr Zelte auf dem Platz. Wohnungslose Migranten, besonders aus dem Sudan und aus Afghanistan, werden eingeladen, unter dem Schutz der Platzbesetzer zu schlafen. Ihre Ankunft auf dem Platz wird mit lautem Beifall begrüßt. Auch Oppositionelle aus Kongo-Brazzaville und Gabun finden Gehör. Seit dem 9. April fängt die Polizei an zu provozieren. Die sozialdemokratische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo setzt ein Ultimatum zur Räumung bis zum 12. April, das sie aber verstreichen lässt. Sicher auch, weil der Zustrom auch Mitte April nicht abreißt, jeden Abend kommen ca. 1.500 Menschen. Am 13. April findet im Pariser Vorort Staint-Denis eine Versammlung mit 400 Menschen statt, begleitet von empörten Eltern, die durch Schulbesetzungen gegen die Unterfinanzierung im Bildungssystem protestieren. Auch in einigen anderen Vororten finden ähnliche Versammlungen statt.

In der Nacht vom Samstag, den 23. auf Sonntag, den 24. April erscheinen Taxis en colère, wütende Taxifahrer, die sich solidarisieren, weil sie mit Uber ein Hühnchen zu rupfen haben (s.o.). Ende April finden sich auf dem Place de la République Initiativen aus der Gesundheitssektor, Hôpital-Debout und Psychiatrie-Debout. Patienten sprechen darüber, dass den psychiatrischen Krankenhäusern zunehmend die Funktion von Gefängnissen zukommt. Ähnliches gab es in Deutschland-West Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre. Aus dem Kulturbereich findet sich ein Orchestre-Debout. Menschen, die sich z.T. vorher nicht kannten, spielen »Aus der neuen Welt« von Antonín Dvorak.

Von einem großen Teil der Teilnehmer wird ein aktives Zugehen auf die Gewerkschaften vorgeschlagen, ein kleinerer Teil zeigt Unbehagen und die Angst, vereinnahmt zu werden. Unter den Platzbesetzern und Rednerinnen und Rednern sind natürlich auch viele Gewerkschaftsaktive. Ein Höhepunkt der Nuit-Debout war zweifellos der Auftritt von Philippe Martinez am Abend des 28. April, nach einer Demonstration mit 25.000 Teilnehmern. Martinez, der als Generalsekretär der CGT, dem mit 700.000 Mitgliedern größten Gewerkschaftsverband vorsteht, wartete geduldig, bis 20 andere Redner vor ihm geendet hatten. Und hier, auf dem Place de la République, sprach er das erste Mal von Generalstreik, ein Wort, das er eine Woche zuvor auf dem Gewerkschaftstag in Marseille, noch vermieden hatte.

Die Bewegung bleibt den ganzen April bis Mitte Mai stabil, um ab Ende Mai langsam abzuflauen. Sie flaut auch deswegen ab, weil ein Teil der Platzbesetzer sich ab Mitte/Ende Mai an den Blockaden, z.B. von Benzindepots, beteiligt, die mit der Streikbewegung die Regierung erstmalig in wirkliche Bedrängnis bringt.

Massendemonstrationen und Repression

Waren am Anfang der Bewegung die Oberschüler und die Studenten führend, so ließ deren Elan im Lauf des Aprils nach. Prüfungen standen an und die Regierung machte 500 Millionen Euro locker, um die Jugend zu beruhigen: Unterstützungszahlungen für Oberschüler wurden erhöht, die Bezahlung für Lehrlinge unter 21 Jahren verbessert, ein Programme gestartet um schneller Lehrstellen und Wohnungen zu finden. Frisch gebackene Hochschulabsolventen sollten 4 Monate lang 200 Euro Überbrückungsgeld bekommen.

Von der Rede Philippe Martinez am 28. April bis zum Beginn einer ernsthaften Streikbewegung mussten noch fast drei Wochen vergehen. Bis dahin fanden weitere Massendemonstrationen statt, die einer zunehmenden staatlichen Repression ausgesetzt waren. Es waren sicher die Fernsehbilder von Gewalt und Gegengewalt, von Tränengasschwaden und Gummigeschossen, die die Zahl der Demonstrationsteilnehmer für französische Verhältnisse so gering bleiben ließ. Bei der politischen Brisanz des Themas und einer stabilen Ablehnung von über zwei Dritteln der Bevölkerung sind in Frankreich in der Vergangenheit deutlich mehr Menschen auf die Straße gegangen.

Die Repression zeigt auch die politische Härte und Rücksichtslosigkeit der Regierung und den Druck unter dem sie steht. Sie ist Ausdruck der Probleme des französischen Kapitals unter dem Druck der mittel- und nordeuropäischen, besonders deutschen Konkurrenz. Die Hartz- „Reformen“, die Angst der noch Beschäftigten in Deutschland vor Hartz IV, die Standortpolitik der deutschen Gewerkschaften, die daraus folgende Stagnation oder Schrumpfung der Reallöhne über einen langen Zeitraum, haben die Kanonen der deutschen Exportpolitik zu einer gefährlichen Waffe werden lassen. Der Druck der Austeritätspolitik und die Unmöglichkeit, diesem Druck durch eine Abwertung des Franc entgehen zu können, lassen der französischen Bourgeoisie nur eine Wahl: verschärfte Ausbeutung im Innern um die Folgen der deutschen Exportkanonade abzufangen und möglichst ihrerseits in die Exportoffensive zu kommen. Dieser Wettlauf auf dem Rücken der Beschäftigten in Frankreich und in Deutschland, kann, wenn er nicht gestoppt wird, gefährliche Folgen haben. Ein längst überwunden geglaubter Chauvinismus auf beiden Seiten des Rhein könnte die dünne Patina deutsch-französischer Freundschaft in Gefahr bringen. Das einzige Mittel gegen diese Gefahr besteht darin, auf beiden Seiten des Rhein den wilden Konkurrenzwettlauf zu behindern, wo es nur geht und sich dabei nach Möglichkeit zu unterstützen. Das schönste Wort der Welt: Solidarité! Le plus beau mot du monde : Solidarität!

Die Repression begann bereits im März mit für Frankreich seit den Kolonialkriegen nicht mehr gekannten Übergriffen auf Personalversammlungen, Gewerkschaften und Universitäten. In Asnières-sur-Seine, einem nordwestlichen Vorort von Paris, drangen Polizisten mit Gewehren für Gummikugeln, »flash-balls« in eine gewerkschaftlichen Informationsveranstaltung für das Personal bei der Post ein. An der Hochschule Lyon-II drang die Polizei in eine studentischen Vollversammlung ein, begleitet von universitätseigenem Wachpersonal. Ein Studierender wurde während der laufenden VV festgenommen. Die Blockaden der Oberschulen, der Lycéen, wurden schnell und mit einer für die letzten zwei Jahrzehnte ungewöhnlichen Härte beendet. Ein guter Teil der Oberschüler hat diese Lektion begriffen. Auch ein provozierendes Einengen von gewerkschaftlichen Demonstrationen durch Polizeispalier gab es in den letzten zwei Jahrzehnten in Frankreich nicht.

Ob die Repression von Anfang an so von der Regierung geplant war oder sie den von Ausnahmezustand und Terrorgefahr ziemlich erschöpften Polizisten und ihren Offizieren einfach eine lange Leine ließen, ist spekulativ und im Grunde unerheblich. Dem Hardliner Valls kam eine Strategie der Spannungen letztendlich entgegen. Die Bilder von gewalttätigen Demonstranten im Fernsehen schreckten viele von einer Teilnahme an Demonstrationen ab. Es handelte sich um eine Gemengelage aus Altautonomen, deren Perspektive bei physischen Auseinandersetzungen mit der Polizei scheinbar endet, radikalisierten Schülerinnen und Schülern und auch eindeutig aus Agents Provocateurs der Polizei. Besonders übel und verbrecherisch dumm war ein Vorfall am Rande der Demonstration am 19. Mai in Paris. Einige Gestalten zündeten einen Polizeiwagen an, in dem noch eine Polizistin und ihr Kollege saßen. Die Polizistin wurde schnell von Demonstrationsteilnehmern aus dem Wagen gezogen. Ihr Kollege wurde noch von den Brandstiftern geschlagen, bevor ihn Demonstrationsteilnehmer aus der Situation befreien konnten. Zum Glück für alle Beteiligten besaß der Beamte genug Nerven, um nicht von seiner Schusswaffe Gebrauch zu machen. Am Rande der bisher größten Demonstration am 14. Juni wurden die Scheiben des Kinderkrankenhauses Necker zerschlagen. In dem Krankenhaus wurde gerade das Kind eines am Vortag von Islamisten ermordeten Polizistenpaares behandelt. Die härtesten Auseinandersetzungen zwischen Militanten Autonomen und der Bereitschaftspolizei CRS fanden in Rennes und Nantes statt, wo die Polizei zeitweise nicht mehr in die Stadtzentren kam und auch die Bargeldversorgung durch zerstörte Geldautomaten ins Stocken geriet. Um die Innenstadt von Rennes zurück zu erobern wurde Mitte Mai die Eliteeinheit RAID eingesetzt, vergleichbar der GSG 9. Zu unschönen Szenen kam es auch, als Autonome auf der Demonstration am 17. Mai mit Ordnern der CGT aneinander gerieten. Zum Glück legten sich diese Spannungen im Laufe des Mai wieder und diese Art Spaltung konnte vermieden werden.

Die erhebliche und für die letzten Jahre ungewöhnlich harte Repression der Staatsorgane forderte zahlreiche Verletzte auf Seiten der Schülerinnen und Schüler, der Demonstrierenden und der Gewerkschaften. Dazu gehören Verletzungen der Augen und der Schleimhäute durch chemische Kampfstoffe, Knöchelverletzungen durch heißes Gummi, das aus den Gummigeschossen heraus spritzt, Platzwunden usw. Der 28jährige Fotograph Romain D. wurde den am Rande einer Demonstration am 26. Mai von einer Schockgranate der Polizei getroffen und lag zunächst im Koma. Glücklicherweise erlangte er Anfang Juni wieder sein Bewusstsein. Der Student Jean-François verlor am 28. April in Rennes ein Auge durch einen »flashball«. Ein Streikposten der CGT wurde am 26. Mai im südfranzösischen Fos-sur-Mer von einem Autofahrer lebensgefährlich angefahren. Auch er lag danach im Koma. Ähnliches geschah im südfranzösischen Vitrolles durch einen Fernfahrer, der im Juli durch die Justiz freigesprochen wurde. Auf Seiten der Demonstrierenden gab es zahlreiche Aufenthaltsverbote und bis zum 18 Mai laut Innenminister Bernard Cazeneuve bereits 1.300 Festnahmen, 819 polizeiliche Gewahrsamnahmen um die Strafverfolgungen aufzunehmen und 51 Verurteilungen in Schnellverfahren. Die Studentin Manon Chelmy hatte ein Saalmikrofon geworfen, als sie bei der Räumung eines Saals in Amiens sah, wie ihr Freund von der Polizei traktiert wurde. Die Staatsanwaltschaft forderte für diese Tat 5 Jahre (!) Haft ohne Bewährung.

Bereits die Demonstration am 28. April stand unter dem starken Druck der Polizei, die versuchte, sie aufzuhalten. Hunderte, wenn nicht Tausende junger Menschen waren inzwischen darauf vorbereitet und konnten ihr Demonstrationsrecht durchsetzen, auch im Nebel der Tränengasgranaten. Auch am 1. Mai wurde die Pariser Demonstration massiv von der Polizei bedrängt, das erste Mal seit 1979. Die Polizei versuchte, den mit Brillen gegen das Tränengas, Tüchern, Masken, Augenspülung usw. ausgerüsteten Teil der Demonstration von den Gewerkschaftsblöcken abzudrängen, was am Stehvermögen der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter scheiterte, die sich solidarisch verhielten. Die Beteiligung am 1. Mai in Paris war mit 15 bis 20.000 Menschen vergleichsweise gering, sicherlich auch, weil die Bilder von Straßenschlachten am 28. April die Fernsehberichterstattung prägten. Bei den Demonstrationen am 12. und am 17 Mai wurde sie mit jeweils 10 bis 15.000 noch etwas geringer um am 19. und 26. Mai wieder auf je 25.000 anzusteigen. Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine Streikwelle angelaufen und die Demonstration am 14. Juni, bereits während der Europameisterschaft, war mit einigen Hundertausend Menschen in Paris überwältigend. Bei der Demonstration am 23. Juni, die Valls zunächst verbieten lassen wollte und die dann in einer Art Open-Air-Käfig stattfand, kamen immerhin 30 bis 40.000 Menschen, am 28. Juni noch 30.000 und am 5. Juli kamen noch einmal 20.000 Pariserinnen und Pariser zusammen.

Streiks

Mitte Mai hatten sowohl die Massendemonstrationen als auch die Nuit-Debout einen Punkt erreicht, an dem allen Beteiligten klar war, dass man sich allein mit diesen Mitteln nicht würde gegen die Regierung durchsetzen können. Anders beispielsweise als bei der Massenbewegung von 1995 hatte sich noch keine Branche herausgebildet, deren streikende Belegschaft den Kern der Sozialproteste bilden konnte, wie das 1995 bei der französischen Bahn, der SNCF, der Fall war. Deren stärkste Gewerkschaft, die CGT-Cheminots, hat inzwischen eine Führung, die nicht gerade an der Spitze der fortschrittlichen Gewerkschaftsbewegung steht. Vom 18. bis 22. April fand der Kongress der CGT in Marseille statt. Auf Druck der Basis und einiger Sektionen, wie der CGT- Goodyear, der CGT- Branchengewerkschaft für den öffentlichen Dienst und der Info›Com-CGT (Medien) wurde ein Beschluss verabschiedet, der die einzelnen Sektionen der CGT zu »grèves reconductibles« aufrief, also zu »fortsetzbaren Streiks«. Streiks, deren Dauer nicht am Anfang verkündet, sondern deren Fortsetzung oder Abbruch jeden Morgen demokratisch abgestimmt wird.

Am 26. April wurde bei der SNCF gestreikt. Die Hälfte der TGVs und der Regionalzüge fielen aus, im Elsass fuhr nur jeder Vierte Zug. Es ging zunächst um betriebliche Verschlechterungen: Pro Jahr sollten 10 bis 21 Ruhetage wegfallen, die Zahl der Doppel-Ruhetage von 52 auf 30 gestrichen werden und Ruhetage sollten bis zu 24 Stunden vorher vom Vorgesetzten verschoben werden können. Die wesentlich kleinere Bahngewerkschaft SUD-Rail verknüpfte den Streik mit der Forderung nach Rücknahme des Loi travail, die Führung der CGT-Cheminots war dazu noch nicht bereit. Am 10. Mai demonstrierten 10.000 Eisenbahner durch Paris, ca. 80 Prozent Mitglieder der CGT-Cheminots, 500 bis 600 Mitglieder der SUD-Rail. Drei Tage später verkündet die Führung der CGT-Cheminots einen Salamistreik ab dem 18. Mai: Jeden Mittwoch und Donnerstag sollte gestreikt, am Freitag morgen die Arbeit wieder aufgenommen werden. Es war klar, dass mit einer solchen Taktik die Beschäftigten der SNCF ihre Rolle von 1995 als Lokomotive der Bewegung nicht wieder würden spielen können.

Es hatte in der Zwischenzeit vereinzelte Streiks gegeben, wie den Druckerstreik am 27./28. April, der die Auslieferung von Tageszeiten in Paris komplett verhinderte, streikbedingte Störungen an den Pariser Flughäfen an diesem Tag und Ausfälle der RER-Linien (eine Art S-Bahn ins Umland) am 27. April. Keiner dieser Streiks konnte jedoch eine kritische Masse entwickeln, um die Regierung ernsthaft in Gefahr zu bringen.

Dienstag, der 17. Mai markiert den Beginn einer Streikbewegung, die die Regierung an den Rand der Niederlage bringen sollte. Weniger wichtig war, dass die CGT-Cheminots jetzt ebenfalls die Rücknahme des Loi travail zu den Streikzielen erklärte. Den entscheidenden Aufschlag machten die Routiers, die Fernfahrer, die begannen, mit ihren LKWs Warenannahmestellen von Supermärkten, Logistikzentren und Fernstraßen zu blockieren. Die im Loi travail geplante Zerstückelung der Ruhezeiten würde sie besonders hart treffen. Was jetzt begann, zeigt die Stärke der französischen Bewegung und was wir in Deutschland noch zu lernen haben: LKW-Fahrern, Platzbesetzern, Streikenden der Raffinerien, Hafenarbeitern gelang es in gemeinsamen Aktionen, die Benzinversorgung des Landes ernsthaft in Gefahr zu bringen. Und obwohl dies mit erheblichen Problemen für die Bevölkerung verbunden war, erste Lieferketten unterbrochen wurden, waren immer noch zwei Drittel der Bevölkerung dagegen, die Blockaden von Benzindepots durch die Polizei auflösen zu lassen.

Nachdem die LKW-Fahrer zunächst Warenannahmestellen und Straßen blockiert hatten, bekamen sie ein wesentlich wirkungsvolleres Ziel geboten, als die Beschäftigten von sieben der acht französischen Großraffinerien am 19. Mai die Produktion einstellten. Nun boten sich die Benzindepots an, in denen strategische Reserven für ca. drei Monate, bei eiserner Rationierung vielleicht ein halbes Jahr, lagern. Vielfältige Unterstützer bekamen sie von Platzbesetzern, Schülern, Studierenden, Rentnern usw. Die Blockaden betrafen zunächst überwiegend die Normandie und die Bretagne. In Le Havre wurde das Ölterminal des Hafens von ca. 3.000 Menschen blockiert. Am 24. Mai trat auch die achte Raffinerie in den Streik, ebenso entschieden sich 95 Prozent der Beschäftigten des Ölterminals in Le Havre zum Streik. Über dieses Terminal kommen 40 Prozent der Öleinfuhren ins Land. Am Abend begann der Streik im Ölterminal von Marseille. Zu diesem Zeitpunkt gab es an 30 Prozent der französischen Tankstellen kein Benzin mehr, besonders betroffen waren die Normandie und die Bretagne, jedoch begann die Lage auch in Südfrankreich kritisch zu werden. Flankiert wurde dieser zentrale Angriff auf die Regierung mit der Ankündigung von Streiks in den Atomkraftwerken, in der zivilen Luftfahrt, im Pariser Nahverkehr RATP und der Verschärfung des Arbeitskampfes bei der SNCF. Die CGT-Cheminots rief jetzt doch für den 31. Mai zu einem fortsetzbaren Streik auf. Es gab im Land hunderte Blockaden von Bahngleisen, Mautstellen und auch Raffinerien, um deren Streik zu unterstützen.

In dieser für sie sehr bedrohlichen Situation entschloss sich die Regierung zu zwei Manövern, die es ihr ermöglichten, sich bis zur Europameisterschaft und in die Sommerpause zu retten. Sie bot den Fernfahrern eine Sonderregelung an, in denen ihnen längere Ruhezeiten garantiert wurden. Damit konnte Valls die Routiers aus der Kampffront lösen und sich etwas Luft zum Atmen verschaffen. Das zweite Manöver bestand darin, die Blockaden der Raffinerien und Depots mit der inzwischen bekannten polizeilichen Härte zu brechen. Den Auftakt bildete die Raffinerie im südfranzösischen Fos-sur-Mer am 24. Mai. Die Bereitschaftspolizei CRS setzte Wasserwerfer und schweres Gerät ein. Einen Tag später wurde die Blockade der Raffinerie in Douchy-les-Mines in Nordfrankreich geräumt. Bis zum 30. Mai wurden zahlreiche Blockaden von Benzindepots geräumt und die Treibstoffversorgung begann sich etwas zu entspannen, obwohl immer noch sieben von acht Raffinerien bestreikt wurden. Bis zum Beginn der EM versuchte die Regierung, durch Zugeständnisse in den Teilbereichen SNCF, Fluglotsen, vorbeugend im Bildungsbereich, Forschung usw., der Bewegung Wind aus den Segeln zu nehmen. Zu diesem Zeitpunkt sonderte MEDEF-Präsident Pierre Gattaz ab, die Mitglieder der CGT würden sich »wie Ganoven, wie Terroristen« benehmen (le Monde vom 30.5.2016).

Der ökonomische Druck auf die Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt erreicht, was damals natürlich noch nicht erkennbar war. Die Streiks in den Raffinerien und Atomkraftwerken dauerten an, der Pariser Nahverkehr wurde bestreikt, der Konflikt an den Flughäfen war noch nicht gelöst und es kamen weitere Streikbewegungen dazu, wie der Streik der Pariser Müllabfuhr. Als es am 2. Juni, nach schweren Regenfällen, zu Überschwemmungen kam, das Kellergeschoss des Louvre evakuiert werden musste und der Betrieb der RER-Linie C nicht wegen der Streiks, sondern wegen des Wetters eingestellt wurde, drängte sich der Eindruck auf, dass der Regierung das braune Wasser der Seine buchstäblich bis zum Hals stand. Unglücklicherweise ging auch der Streikbewegung nach und nach die Luft aus.

Der Streik bei Électricité de France hatte keine Engpässe zur Folge, was die Überkapazitäten an französischem Atomstrom zeigt. Den Beschäftigten von EdF gelang aller dings Anfang Juni noch ein Spaß, als sie den Werften in Staint-Nazaire den Strom abdrehten und geschätzte 800.000 bis eine Million Haushalte mit billigem Nachtstrom versorgten. Der Streik in den Raffinerien bröckelte erst Mitte Juni langsam ab, nach Beginn der EM am 10. Juni, auch, weil den Familien langsam das Geld ausging. Der Streik der Pariser Müllabfuhr, der einige Tage vor Beginn der EM begann, wurde in den ersten Tagen der Europameisterschaft durch eine private Streikbrecherfirma unterlaufen, die die Müllberge wegschaffte um den internationalen Kameras ein »sauberes Paris« zeigen zu können. Der Streik im Nahverkehr RAPT begann erst um den 15. Juni abzubröckeln, bis dahin mussten allerdings noch 70 Prozent der Regionalzüge und einzelne RER- Linien streikbedingt ausfallen, auch solche in Richtung Stade de France. Am 23. Juni endete schließlich der Bahnstreik, der die SNCF jeden Tag 20 Millionen Euro gekostet hatte, insgesamt eine gute halbe Milliarde. Die Regierung hatte im Vorfeld der EM Druck auf den SNCF-Vorstand ausgeübt, der daraufhin am 6. Juni den Angriff auf die Ruhezeiten zurück nahm. Allerdings mit dem Haken, dass es eine Öffnungsklausel gibt, wenn ab 2023 private Bahngesellschaften unterwegs sind. Deren Haustarife können dann den Branchentarif unterbieten: Loi travail lässt grüßen. Noch am 8. Juni hatten sich alle Personalversammlungen der CGT für eine Fortsetzung des Streiks ausgesprochen, obwohl die Führung geneigt schien, das Kompromissangebot anzunehmen. Auch am 23. Juni waren 57 Prozent der CGT-Basis gegen die Annahme. Die Führung der CGT-Cheminots verzichtete aber darauf, als Mehrheitsgewerkschaft ihr Veto-Recht (s.o.) gegen den von der Minderheitengewerkschaft CFDT unterschriebenen Kompromiss wahrzunehmen und ließ den Kompromiss damit durchgehen.

Solidaritätskassen

Als Schwäche stellte sich im Frühjahr und Sommer heraus, was früher eine Stärke der französischen Gewerkschaften war: Sie verfügen über keine Streikkassen. Damit können Belegschaften in den Streik treten, ohne dass eine Gewerkschaftsbürokratie sie daran hindern kann. Momentan hat sich das Kräfteverhältnis aber so geändert, dass viele Familien die wirtschaftlichen Folgen der Streiks immer schlechter stemmen können. Es hat in Frankreich eine breite Diskussion über Solidaritätskassen gegeben und einige wurden eingerichtet.

Die größte wurde auf Initiative der Info›Com- CGT (Medien) zusammen mit der CGT für die Pariser Druckereien, der CGT- Air France und der CGT- Goodyear eingerichtet.
Es wurden schon über 500.000 Euro gesammelt und auch schon über 300.000 Euro an Streikende ausbezahlt. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Gewerkschaft ein Streikender angehört oder ob er unorganisiert ist. Wichtig ist, dass er an einem »gréve reconductible« also einem »fortsetzbaren Streik« (s.o.) teilgenommen hat. Pro Streiktag werden je nach sozialer Lage 30 bis 50 Euro bezahlt. Über die Höhe des Streikgeldes entscheidet die Organisation, der er angehört. Die Organisatoren sind sich der Gefahr, die von einer derart großen Kasse ausgeht, sehr bewusst. Jeder Spendeneingang wird auf Facebook dokumentiert. Wenn Schecks übergeben werden, gibt es große Fotos von den Schecks, die im Internet zu sehen sind. In Deutschland ruft beispielsweise die GEW-Nordhessen zu Spenden für diese Solidaritätskasse auf.

Die Schwäche der Regierung und die Selbstvernichtung der sozialistischen Partei

Auch wenn sich die Regierung mit Ach und Krach bis in die EM und in die Sommerpause retten konnte: Sie geht aus der Auseinandersetzung nicht gestärkt hervor. Nach wie vor konnte sie die Mehrheit der Bevölkerung nicht überzeugen, die Mehrheit ihrer ehemaligen Wählerinnen und Wähler schon gar nicht. Sie hat sich und die sozialistische Partei vor aller Augen erkennbar für die Erfordernisse des Kapitals prostituiert bis zur politischen Selbstvernichtung. Sie konnte für die Verabschiedung des verhassten Gesetzes keine Mehrheit in der Nationalversammlung finden, sondern musste Artikel 49-3 bemühen. Dieser verbietet jede Debatte und verbindet die Verhinderung eines Gesetzes mit einem Misstrauensvotum gegen die Regierung, also ihren Sturz. Für dieses Misstrauensvotum fehlten bei der Abstimmung am 12. Mai nur zwei Stimmen. Von den erforderlichen 58 Abgeordneten der parlamentarischen Linken, stimmten nur 56 für das von der parlamentarischen Rechten eingebrachte Misstrauensvotum. Dabei wäre der Sturz der Regierung Valls ungefährlich gewesen. In Deutschland ist ein solches Misstrauensvotum konstruktiv, d.h. mit dem Sturz des einen Kanzlers muss automatisch sein Nachfolger gewählt werden. Dies ist in Frankreich nicht der Fall. Valls wäre gestürzt worden und die Abgeordneten der sozialistischen Partei hätten mit Hollande verhandeln können: Wir wählen deinen neuen Premierminister, dafür verschwindet das Gesetz. Für dieses Manöver fanden sich zwei Abgeordnete zu wenig ein und der politische Preis für die sozialistische Partei wird furchtbar sein. Schon die Ankündigung von Valls, Artikel 49-3 anzuwenden, hatte 71 Prozent der Bevölkerung schockiert, sicherlich noch mehr bei den ehemaligen Anhängern der PS. Das ganze Notstandsregime, die Polizeigewalt, die Repression, das Arsenal aus den Waffenkammern der 5. Republik ist dem Teil der Bevölkerung, der sich selber zur politischen Linken zählt, absolut zuwider. Wurde diese 5. Republik doch aus einem Militärputsch der Algeriengeneräle im Mai 1958 (Opération Résurrection) geboren, den Charles de Gaulle nur durch seinen Staatsstreich gegen die 4. Republik einfangen konnte. Dieser Widerwille kann nur durch die nackte Angst paralysiert werden und so taumeln das Land und sein politisch schon erledigter Präsident von einem Terroranschlag zur nächsten Notstandsverordnung. Dieser Zustand, der ohne ein aktives Eingreifen der Jugend-, Studenten-, Platzbesetzer- und Gewerkschaftsbewegung, passiv an seinen notwendigen Endpunkt kommen muss, kann nur einen Nutznießer hervorbringen: Die extreme Rechte, den Front National.

Der Front National

Während die Massenbewegung gegen das geplante Loi travail in den französischen Medien präsent war, ging der Front National in Deckung. Ihn plagte das gleiche Problem, das seine inneren Widersprüche schon während der Massenbewegung im November und Dezember 1995 schonungslos aufgedeckt hatte: Als Sammlungsbewegung unter rassistischen und extrem chauvinistischen Parolen gibt er sich den Anschein, über dem Klassengegensatz zu stehen. Wenn aber konkrete Klassenauseinandersetzungen stattfinden, muss dies seine Mitgliedschaft zwischen zwei unvereinbaren Polen auseinander reißen. Sowohl eine Unterstützung des Loi travail und damit der Regierung, als auch eine Unterstützung der CGT und der anderen beteiligten Gewerkschaften sind für den FN gefährlich und nicht durchführbar, ohne einen entscheidenden Teil der eigenen Anhänger zu verprellen. Hatte die Blockbildung zwischen Unterstützern und Gegnern der Gewerkschaftsproteste 1995 noch das Verhältnis 60 zu 40, so hielten in diesem Jahr 26 Prozent der FN- Anhänger die Bewegung gegen das Arbeitsgesetz für gerechtfertigt und weitere 46 Prozent sogar für »sehr gerechtfertigt«, insgesamt 72 Prozent. Die Stellungnahmen aus der Partei spiegelten den Klassengegensatz innerhalb des Front National wider, der in bewegungsarmen Zeiten durch irrationale und menschenverachtende Erklärungsmuster verschleiert werden kann. Die Jugendorganisation FNJ führte im März eigene Kundgebungen gegen das »Loi El Khomri« durch, der Generalsekretär des FN, Nicolas Bay, nannte es ein Geschenk der Regierung an den Unternehmerverband MEDEF. Der stellvertretende Vorsitzende, Florian Philippot, nannte den Gesetzentwurf ein von der EU gewolltes Regelwerk zur Prekarisierung französischer Lohnabhängiger und zur Lohnsenkung. Den Parteimitgliedern stellte er frei, an den Demonstrationen teilzunehmen. Diese Haltung entspricht den deklassierten oder von Deklassierung bedrohten Teilen der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums in den abgehängten Regionen wie Nordfrankreich oder Lothringen, die zum Teil in den 1970er und 80er Jahren noch KPF gewählt hatten.

Im direkten Gegensatz dazu wird auch der wohlhabendere Teil der Anhänger, beispielsweise in Südfrankreich bedient: Der FN-Bürgermeister von Béziers, Robert Ménard, hat besonders die Interessen der südfranzösischen Unternehmer im Auge. Das geplante Gesetz würdigte er als einen kleinen Schritt in die richtige Richtung. Als die Regierung geringfügige Zugeständnisse machte, beklagte er die zunehmende »Kastration« des Gesetztes. Die Nichte von Marine Le Pen, Marion Maréchal-Le Pen, erklärte, für die kleinen und mittleren Betriebe gehe das Gesetz nicht weit genug. Die beiden FN-Vertreter im Senat brachten einen Antrag auf Verschärfung des Gesetztes ein, zogen ihn aber auf Druck der Parteispitze vor Beginn der Senatsdebatte am 13. Juni wieder zurück.

Ausblick.
Erinnerung an den Erfolg gegen den CPE 2006

Dass der Front National während der Massenbewegung auf der politischen Bühne keine Hauptrolle spielen kann und sich in Widersprüchen windet, bedeutet natürlich nicht, dass sein Potential und die von ihm ausgehende Gefahr verschwunden wären. Im Gegenteil ist seine große Chance gerade die Enttäuschung der Massen nach einer möglichen Niederlage der Bewegung. Und auch die Terroranschläge und die von ihnen erzeugte Angst werden nicht der Regierung nutzen, die spätestens nach dem Anschlag in Nizza von bürgerlich-konservativen Hardlinern und der extremen Rechten vor sich her getrieben wird.

Und doch ist die Wut der Bevölkerung nicht verschwunden. Der Aufruf zum Aktionstag am 15. September durch die sieben Organisationen ist der mutige Versuch, das Spiel doch noch zu gewinnen. Für diesen Versuch spricht die Einsicht in den Ernst der Lage, in die Gefahr, die vom Front National ausgeht. Es spricht dafür aber auch die Erfahrung mit dem Widerstand gegen den »Ersteinstellungsvertrag«, CPE, der 2006 noch nach seiner offiziellen Inkraftsetzung gekippt werden konnte. Damals spielten neben den Bewegungen der Jugend und der Gewerkschaften auch die in den Banlieues aufgestaute Wut eine Rolle. Sollte es im September 2016 gelingen, die Energie dieser berechtigten sozialen Wut in gemeinsamen und solidarischen Aktionen zu nutzen, kann die Bewegung gegen die geschwächte Regierung noch eine Chance haben.

Bedeutung für die Lage der arbeitenden Bevölkerung in Europa und in Deutschland

Es ist offensichtlich, dass das Ergebnis der Auseinandersetzung in Frankreich direkte und indirekte Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Gewerkschaftsbewegung in ganz Europa haben wird. Frankreich, das von seiner Wirtschaftsstruktur und der Mentalität seiner Bevölkerung her eher einen Teil Südeuropas bildet, hat aufgrund seiner Rolle als Feigenblatt für den nach 1945 wieder auferstandenen deutschen Imperialismus, aufgrund seines geostrategischen Gewichts und seiner Atomstreitmacht eine völlig andere Bedeutung als beispielsweise Griechenland.

Gleichwohl sehen wir in allen Ländern der EU die Tendenz, die Lage der arbeitenden Bevölkerung zu verschlechtern. Dies betrifft nicht nur die direkte Umsetzung bei Tarifverträgen, bzw. deren Aushebelung, und bei der Arbeits- und Sozialgesetzgebung. Widerständige Gewerkschaften sollen gebrochen werden oder sich der Konkurrenzlogik unterwerfen. Ein Erfolg der Unternehmer in Frankreich wird die nächste Runde in Deutschland einläuten.

Wir sehen darüber hinaus überall die Tendenz, die parlamentarische Demokratie zu schwächen, von innen auszuhöhlen, durch Überwachungs- und Notstandsmaßnahmen zu überformen und zu überwältigen. Der Kapitalismus scheint in seinem momentanen Zustand immer weniger verträglich zu sein, mit der parlamentarischen Demokratie. Die Diskussionen der Jugendlichen auf dem Place de la République, aber auch in Madrid oder Athen spiegeln dies wider. Gerade die junge Generation und die, die noch kommen werden, sind betroffen von ihrer Reproletarisierung. Dies betrifft nicht nur ihre prekäre ökonomische Lage, sondern auch ihre prekäre Lage als Citoyens, als Bürger einer parlamentarischen Republik. Ob sich diese Entwicklung in immer weiter zugespitzter Anwendung von Repression und Gewalt, nach innen und außen, oder im Aufbruch durch eine neue Bewegung und ein Erkennen der eigenen Lage vollziehen wird, kann niemand vorhersagen. Fest steht nur, dass die Opfer um so geringer sein werden, je früher wir beginnen, uns gemeinsam zu wehren.

On lâche rien! Wir geben nichts auf!

Abgeschlossen: 30. Juli 2016

Dank an Bernard Schmid aus Paris, ohne dessen fundierte Berichterstattung im Labournet dieser Artikel nicht zustande gekommen wäre.


[1] siehe den Vortrag des sozialistischen Arbeitsinspektors Gérard Filoche am 16. Juni in Nizza

[2] Stefan Brändle, FR, 19.2.2016; Samuel Laurent und Pierre Breteau, le Monde, 19.2.2016

[3] Voiture de transport avec chauffeur, Transportfahrzeug mit Fahrer, eine Fahrlizenz unterhalb der Taxi-Lizenz, die Uber durchsetzen will, nachdem wiederholt Uber-Pop-Fahrer von regulären Taxifahrern verprügelt wurden. Daraufhin verbot die Regierung Uber-Pop)


aus Arbeiterpolitik Nr. 3 / 2016

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