Wir möchten vorausschicken: Erstens ist uns nicht verborgen geblieben, dass Russland und Iran, die auf der Seite des Assad-Regimes in den Krieg eingetreten sind, ihre eigenen Interessen und strategischen Ziele verfolgen. Zweitens haben wir den Gewalteinsatz und die frühzeitige Einmischung ausländischer Staaten in den innersyrischen Konflikt von Beginn an für falsch gehalten und kritisiert: den Gewalteinsatz von Assad gegen die friedlichen Demonstranten, die gegen die Diktatur auf die Straße gegangen waren, ebenso wie gegen die Waffenlieferungen des Westens an die angeblich moderaten Rebellen und alle darauf folgenden Kriegshandlungen.
Entgegen der im Westen herrschenden Mainstream-Meinung stellen wir jedoch fest: Russland und Iran haben zunächst alle Möglichkeiten für eine diplomatische und friedliche Lösung des Konfliktes ausgeschöpft; erst als sich dieser Versuch als aussichtlos erwies, haben sie militärisch eingegriffen und den Krieg in Aleppo vorerst beendet. Dafür Russland nun zu verurteilen, wie es die westlichen Mainstream-Medien fast einhellig tun, halten wir für absurd, genauso wie die einseitige Schuldzuweisung jener Gruppe von Prominenten aus Kultur und Politik, die am 7. Dezember 2016 vor der russischen Botschaft in Berlin unter dem Motto »Aleppo-Putins Schande!« demonstriert haben. Wir fordern die Initiatoren und UnterzeichnerInnen des betreffenden Aufrufs zu einer öffentlichen Debatte über den tatsächlichen Hergang des Syrienkonflikts auf. Zu diesem Zweck rufen wir einige Fakten in Erinnerung:
- Nach Aussagen des ehemaligen Oberkommandeurs der NATO, General Wesley Clark, begann die US-Regierung bereits unmittelbar nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 mit den Planungen des Regimewechsels in sieben Ländern, die von den USA als Gegner angesehen wurden, darunter Afghanistan, Irak, Libyen und auch Syrien. Um dort dieses Ziel zu erreichen, haben die USA seit 2005 die Rahmenbedingungen geschaffen. Dazu gehörte neben zahllosen medialen Propagandaaktionen gegen das Assad-Regime, die – von den USA gemeinsam mit Saudi-Arabien, Katar und Israel betriebene – Finanzierung und Ausbildung einer Armee von Dschihadisten, die fortan in der westlichen Berichterstattung unter dem verharmlosenden Label »gemäßigte Opposition« firmierte. Dabei gehörten die weitaus stärksten militärischen Kräfte dieser Opposition dem Al-Kaida-Netzwerk und der radikal-islamischen al-Nusra Front an, die zuvor von den USA selbst als »Terror-Organisationen« eingestuft worden waren. Diese Truppen sollten für den Sturz der Regierungen in Damaskus und Teheran eingesetzt werden, wie der renommierte Journalist und Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh bereits 2007 aufdeckte.
- Nach dem Beginn des Syrienkonflikts hat sich Russland zunächst nicht eingemischt, solange dieser Konflikt noch als ein rein innenpolitischer Konflikt angesehen werden musste. Erst als es dem »Islamischen Staat«, dessen Ursprung auf den Sturz Saddam Husseins und die Zerstörung Bagdads durch die USA im Frühjahr 2003 zurückgeht, gelang, mit den Mitteln des Terrors und mit militärischer und logistischer Unterstützung durch die Geheimdienste der USA, Saudi-Arabiens und der Türkei im Norden des Irak weite Gebiete mit der Metropole Mossul unter ihre Gewalt zu bringen, ist Russland aktiv auf der Seite der syrischen Regierung eingetreten. Denn es befürchtete zu Recht, es ginge auch in Syrien um einen Regime Change und um einen damit einhergehenden Verlust des russischen Militärstützpunkts im Mittelmeer.
- Bekanntlich hatte Präsident Obama den Einsatz von Chemiewaffen als ‚Rote Linie‘ der USA für ihren Kriegseintritt gegen Assad benannt. Als am 21. August 2013 bei einem Giftgas-Angriff in Ghuta bei Damaskus Hunderte von Menschen auf grausame Weise ums Leben kamen, schien der Casus Belli eingetreten zu sein. Obama kündigte an, auf den Einsatz chemischer Waffen durch das Assad-Regime mit »einem gezielten militärischen Schlag zu antworten.«
Indes konnte Seymour Hersh schon am 8. Dezember 2013 in einem langen Artikel im »London Review of Books« nachweisen, dass der Giftgas-Angriff in Ghuta nicht dem Assad-Regime angelastet werden kann, wie es bis heute geschieht. Nach Aussage des Ex-CIA- Agenten Ray Mc Govern, der zu den Chef-Analysten des CIA gehörte, konnten die mit Sarin bestückten Raketen, die angeblich aus einem Gebiet abgefeuert wurden, das unter der Kontrolle der Assad-Regierung stand, nicht von dort kommen. Assads Raketen hatten einfach nicht die nötige Reichweite. Auch handelte es sich nicht um den Typ Sarin, den die syrische Armee lagerte, wie eine spätere, vom britischen Geheimdienst M16 durchgeführte Labor-Analyse ergab. Und sollte ausgerechnet Assad so dumm und dreist gewesen sein, um vor den Augen der Weltöffentlichkeit selbst und eigenhändig den Kriegsgrund für die USA zu liefern und sein eigenes Todesurteil zu signieren?
Am 23. Oktober 2013 berichtete die türkische Zeitung »Todays Zaman« von der Pressekonferenz zweier Abgeordneter der »Republikanischen Volkspartei« CHP, Eren Erdem und Ali Seker, auf der sie Dokumente und Audio- Kassetten vorlegen konnten, in denen Details beschrieben wurden, wie Sarin in der Türkei produziert und an die terroristische al-Nusra Front weitergegeben wurde. Ein ehemaliger Offizier vom Nachrichtendienst in den USA klärte Hersh über die Zusammenhänge auf: »Wir wissen jetzt, dass der Gasangriff vom 21. August eine verdeckte Aktion von Erdogans Leuten war, um Obama über die ‚Rote Linie‘ zu stoßen.« (Man fühlt sich an die Propaganda-Lüge von den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins erinnert, die der Bush-Regierung seinerzeit den Grund für den Einmarsch in den Irak geliefert haben.)
Am 31. August kündigte Obama im Rosengarten des Weißen Hauses überraschend an, dass der Angriff auf Syrien aufgeschoben würde und dass er erst das Votum des Kongresses einholen wolle. Inzwischen waren nämlich die Chemieproben aus Ghouta analysiert und vom britischen Geheimdienst weiter nach Porton Down, USA, und an General Martin Dempsey weitergeleitet worden. Auf Grund dieses Berichtes erklärte der US- General dem Weißen Haus: Ein Angriff auf Syrien wäre ein ungerechtfertigter Akt der Aggression, denn das Sarin aus Ghouta stamme nicht aus den Arsenalen des syrischen Militärs. Obama wählte daraufhin den Plan B: Kein Bombenangriff, wenn Assad der Vernichtung all seiner chemischen Waffen unter Aufsicht der UNO zustimmen würde. Das Weiße Haus wollte jedoch seinen Irrtum nicht eingestehen. Das Assad-Regime musste auch nach diesem Kurswechsel für den Giftgas-Einsatz verantwortlich gemacht werden. - Es war schließlich Russland und kein anderer Staat, das mit diplomatischem Geschick diesen Kurswechsel dazu nutzte, dass sämtliche Chemiewaffen Syriens unter Mitwirkung der USA und der Kontrolle der UN vernichtet wurden. Die Bemühung Russlands, die Massenvernichtungswaffen Syriens abzurüsten, war eine friedenspolitische Leistung, die indes von den Regierungen und Medien des Westens mit keinem Wort gewürdigt worden ist.
- Der Bundeswehrgeneral und ehemalige Vorsitzender des Nato-Militärausschusses Harald Kujat, konstatierte oft und zu Recht, dass durch den Kriegseintritt Russlands die Genfer Syrienkonferenz überhaupt erst möglich geworden ist. Russland und Iran haben sich darüber hinaus auch große Mühe gegeben, um den Syrienkrieg diplomatisch und auf dem Verhandlungswege zu beenden. Sie haben Vorschläge für mehrtägige Waffenruhen in Aleppo immer wieder akzeptiert, während die Rebellen die Waffenruhe für ihre weitere Aufrüstung missbrauchten. Aber die westlichen Verbündeten, Saudi Arabien, die Golfstaaten, Israel und vor allem die bewaffneten Rebellen waren es, die jegliche Verhandlungen mit Assad ablehnten und seinen Sturz zur Vorbedingung für Verhandlungen machten. Dem Westen und den USA fehlte offensichtlich der Wille, ihre Krieg und Unruhe stiftenden Verbündeten zu einer Verhandlung mit Assad zu zwingen. Dabei müsste es jedem Politiker mit Weitsicht und Verstand sonnenklar gewesen sein, dass Assad überhaupt nicht zurücktreten kann, selbst wenn er wollte. Man hat es im Westen nie verstanden oder verstehen wollen: Assad repräsentiert sämtliche religiösen Volksgruppen und Minderheiten, insbesondere Aleviten, Christen, Yeziden und andere in Syrien, die sein Regime wegen seines erklärten Laizismus unterstützen und von ihm auch erwarteten, nicht einfach das Feld zu räumen und es dem IS zu überlassen mit der sicheren Aussicht einer dann zu erwartenden Massenabschlachtung der religiösen Minderheiten und Aleviten.
- Prof. Günter Meyer, langjähriger Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Johannes- Gutenberg-Universität Mainz, erklärte in einem Interview am 15.01.2017 mit der heute-Redaktion: »Ohne die militärische Intervention Russlands im September 2015 wäre inzwischen nicht nur Aleppo komplett von den Dschihadisten erobert worden. Auch das Assad- Regime wäre längst zusammengebrochen. Damit hätten die Assad-Gegner unter Führung der USA ihr Ziel des Regimewechsels zwar erreicht. Die Macht hätten jedoch die stärksten militärischen Kräfte an sich gerissen. Und das wären die islamistischen Extremisten, wie die zum Al-Kaida-Netzwerk gehörende Nusra-Front und der von der internationalen Allianz unter US-Führung bekämpfte Islamische Staat (IS). Wem, wie israelische Politiker erklärten, eine solche Terrorherrschaft lieber ist als das Assad-Regime, der kann Putin vorwerfen, dass er dies verhindert hat.«
- Freilich ist es mehr als zu beklagen, dass dabei Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen zerstört wurden und seit September 2015 durch die Bomben Russlands in Ost-Aleppo und Idlib bis zu 10 000 syrische Zivilisten starben. Zwar widerstrebt es uns, die Toten beider Seiten gegeneinander aufzurechnen. Doch angesichts der einseitigen antirussischen Berichterstattung und Propaganda in den West-Medien muss daran erinnert werden, dass 40 000 irakische Zivilisten – mindestens viermal so viel wie in Aleppo – seit August 2014 durch die Bomben der US-Geführten Koalition starben. Davon allein 15 000 in der Region Mosul. Seit 1980 haben allein die USA 14 muslimische Länder überfallen, besetzt oder bombardiert. Nicht ein einziges Mal griff in den letzten zwei Jahrhunderten ein muslimisches Land den Westen an.
»Die deutsche Bundesregierung«, schreibt Jürgen Todenhöfer, »sitzt wie der gesamte westliche Mainstream in der ‚Fankurve‘ der USA und betreibt ‚Fankurven-Politik‘: Danach sind amerikanische Bomben gute Bomben, russische Bomben böse Bomben. Moralische Objektivität darf man von Fans nicht erwarten… Al-Quaida und der IS haben in den letzten 20 Jahren mit ihren Terroranschlägen im Westen rund 5000 Menschen ermordet. Inklusive der Anschläge vom 11. September 2011. Wir haben uns zu Recht über diese Anschläge entsetzt… Aber der Westen hat laut Organisation ‚Ärzte gegen den Atomkrieg‘ seit 2001 allein im Irak, in Afghanistan und in Pakistan den Tod von 1,3 Millionen Menschen auf dem Gewissen. Doch es waren eben ‚nur‘ Iraker, Afghanen, Pakistaner.« (zit. nach der »Freitag«, 5. Januar 2017) Auch bei der Evakuierung der Rebellen durch syrische, iranische und russische Militärs haben wir in den hiesigen Medien immer nur von einer schuldigen Kriegspartei gehört: Russland und Iran. Als aber die Rebellen für jedermann ersichtlich acht syrische Busse, die zur Evakuierung der Rebellen und ihrer Familien gekommen waren, in Brand geschossen haben, waren die selben Medien plötzlich sprachlos, es gab kaum Berichte darüber, warum die Rebellen diese Tat begangen haben. - Wenige Tage nachdem die Evakuierung Aleppos als beendet erklärt wurde, haben bei ihrem Treffen in Ankara Russland, die Türkei und Iran eine Garantie dafür angeboten, dass ab jetzt der Syrienkonflikt auf diplomatischem Wege und durch Verhandlungen beendet werden sollte. Auch hier müssen wir mit Bitterkeit feststellen, dass sich kein einziger westlicher Politiker darum bemüht hat, Wladimir Putin, Hassan Rouhani und Recep Tayyib Erdogan beim Wort zu nehmen und ihr Garantieangebot als wichtig und konstruktiv hervorzuheben. Westliche Politikerinnen und Politiker scheinen nicht in der Lage zu sein, auf solche friedenspolitisch sehr wichtigen Signale zu reagieren.
Es befremdet uns außerordentlich, dass die West-Medien, auch die UnterzeichnerInnen des antirussischen Aufrufs, mit keinem Wort die fatale US-amerikanische Politik des Regime Change im Nahen und Mittleren Osten erwähnen, geschweige denn kritisieren. Sind doch das offenkundige Ergebnis dieser Politik lauter „failed states“, sog. gescheiterte Staaten, die den Nährboden für die weitere Ausbreitung des Terrorismus und den Hauptgrund für die anhaltenden Flüchtlingsströme bilden. Wie blind – fragen wir – muss man eigentlich sein, um eine schwer zu leugnende Realität zu übersehen? Dem Syrien-Experten Prof. Günter Meyer wie auch Michael Lüders zufolge, dem kenntnisreichsten Mittel- und Nahostexperten in Deutschland, tragen die US-Regierung mit George W. Bush die Hauptverantwortung auch für den Syrienkrieg, weil sie mit dem Einfall in den Irak unmittelbar die Rahmenbedingungen für die Entstehung des IS geschaffen haben. Die USA und Deutschland haben Saudi-Arabien, den Hauptwaffenlieferanten des IS und anderer Terrorgruppen, die am Syrienkrieg beteiligt sind, seit 2010 mit über 130 Milliarden Dollar massiv aufgerüstet und damit einem gefährlichen Wettrüsten im Mittleren Osten kräftigen Aufschub erteilt.
Der katholische Theologe Eugen Drewermann hat diese Politik kürzlich in einem Interview auf den Punkt gebracht: »Bereits 1991 stellte Paul Wolfowitz, Berater mehrerer US-Präsidenten und späterer Weltbankchef, eine höchst korrupte Persönlichkeit, die Agenda auf, die jetzt abgearbeitet wird: wie man den Irak und Syrien zerstört, wie man Libanon, die Hisbollah destabilisiert, Libyen angreift, den Iran dazwischen nimmt. Man kann von Glück sagen, dass Obama gegen Ende seiner Amtszeit diesen Spuk beendete, hatten doch die Israelis alle paar Tage damit gedroht, der angeblichen atomaren Gefahr, die vom Iran ausgehe, durch einen Großangriff zu begegnen.« (www.jungewelt.de/2016/12.14/069.php) Angesichts all dieser Tatsachen und des neuen Kalten Krieges zwischen dem Westen und Russland, der immer mehr Fahrt aufzunehmen scheint, sind wir außerhordentlich besorgt über die einseitige pro-westliche und anti-russische Parteinahme wider besseren Wissens. Wir rufen deshalb alle gesellschaftliche Gruppen dazu auf, sich zusammen mit der Friedensbewegung für konflikt- und kriegsvorbeugende Wege in die politischen Auseinandersetzung einzubringen, die es z. B. für den Mittleren Osten schon immer gegeben hat und auch heute noch gibt: Gemeint ist eine internationale Initiative für Kooperation und gemeinsame Sicherheit für den gesamten Mittleren und Nahen Osten, die die absehbare Entwicklung in der Region als weltpolitisches Pulverfass verhindert hätte. Auch heute müsste eine solche Perspektive vor den Anfang einer jeden Genfer Syrienkonferenz gestellt werden
Berlin, 25. Januar 2017
Prof. Dr. Elmar Altvater, Prof. Dr. Rudolph Bauer, Prof. Dr. Armin Bernhard, Dr. Axel Bust Bartels, Prof. Dr. Ulrich Duchrow, Prof. Dr. Frigga Haug, Prof. Dr. Wolfgang F. Haug,Prof. Dr. Birgit Mahnkopf, Prof. Dr. Mohssen Massarrat,. Prof. Dr. John P. Neelsen, Prof. Dr. Norman Paech, Prof. Dr. Michael Schneider, Dr. Fritz Storim, Prof. Dr. Frieder Otto Wolf
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