Die Sowjetunion in der Breschnew-Zeit

In einer Phase weltweiter Umbrüche endete die UdSSR in der Stagnation


Die Zeit der späten sechziger und der siebziger Jahre, also im Kern die Amtszeit Breschnews als Generalsekretär der KPdSU, ist zuweilen als »goldene Zeit des Realsozialismus«1 bezeichnet worden. Diese Charakterisierung stützt sich darauf, dass die Menschen in der Sowjetunion nun in einigermaßen ruhigen und sicheren Verhältnissen lebten. Es war nicht der versprochene Wohlstand des Kommunismus, er war auch recht bescheiden im Vergleich etwa zu den USA oder Westdeutschland. Aber die Menschen hatten ihr Auskommen und ihre Sicherheit. Das Land war in breitem Ausmaß industrialisiert, und es hatte eine wahre Bildungsrevolution stattgefunden. Das alles hatte den Sieg über den deutschen Faschismus und den Aufbau eines sozialistischen Lagers in Osteuropa und Ostasien ermöglicht. Ökonomisch schien es so, dass die Sowjetunion den kapitalistischen Westen ein- bzw. überholen könne. Weltpolitisch befand sich das sozialistische Lager im Bunde mit Befreiungsbewegungen Südostasiens, Afrikas und Lateinamerikas zeitweise in der Offensive.

Doch andererseits waren die Sowjetmenschen an ihre Grenzen gelangt. Die Generationen zuvor hatten Bürgerkrieg, Interventionen, Hungersnöte, den Zweiten Weltkrieg überstehen müssen. Sie hatten den brutalen Existenzkampf und den damit verbundenen Massenterror unter Stalin erlebt. Sie hatten revolutionäre Umwälzungen von der NEP bis zur Einführung der Fünfjahrespläne mitgemacht und unterstützt. Nun schien die Zeit gekommen, in der sie die Früchte dieser Anstrengungen genießen konnten. Das Versprechen des Parteiprogramms von 1961: »Die heutige Generation von Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben« bestärkte sie darin. Doch die Experimente der Chruschtschow-Zeit, die die Produktivkräfte auf die erforderliche Höhe bringen sollten, waren gescheitert. Die Entstalinisierung war in bürokratischer Parteiherrschaft stecken geblieben. Resignation griff um sich, kommunistische Ideale wurde zu Lippenbekenntnissen.

Im Rückblick ist deshalb die Zeit Breschnews auch als »Phase der Stagnation« bezeichnet worden. Sie hob sich deutlich von der Risikobereitschaft, Experimentierfreudigkeit und Zuversicht unter Chruschtschow ab. Die politische und administrative Führung, die Funktionäre der Wirtschaft wie auch die Bevölkerung in der Sowjetunion richteten sich in den gegebenen Verhältnissen ein. Die notwendige Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft auf sowjetischem Boden und im internationalen Rahmen wurde damit versäumt.

Autoritäre Parteiherrschaft

Die neue Parteiführung um Breschnew, Kossygin und Podgorny hatte zunächst das begreifliche Bestreben, sich vom Vorgängerregime spürbar und sichtbar abzusetzen, ohne dessen Abgrenzungen von der Stalin-Zeit völlig preiszugeben. Auch Chruschtschow wurde Personenkult vorgeworfen. Also wurde jetzt eine kollektive Führung propagiert. Das war relativ preiswert zu haben und sprach die kritischen und ungeduldigen Menschen positiv an. Auch die sachliche Kritik an den gescheiterten Reformen konnte man damit verbinden: Die vorherige Parteiführung, so hieß es jetzt, habe den Rat kompetenter Fachleute in den Wind geschlagen. Es fielen Begriffe wie »Subjektivismus«, »Phantasterei«, »großsprecherische Ankündigungen«, »übereilte Entscheidungen«, »Ignorieren der praktischen Erfahrungen«2.

Ausgangsbasis war die Tatsache, dass die sowjetische Politik bisher von Stalin, danach Chruschtschow zentral von einer Person abhängig war. Natürlich konnten diese ihre Entscheidungen nur unter den vorgegebenen Umständen treffen, aber wenn es darum ging, wer die Richtung bestimmt, so schien es nur auf den Generalsekretär anzukommen. Dies sollte in Zukunft anders gehandhabt werden. Die allerhöchsten Posten wurden also unter den führenden Genossen aufgeteilt (Breschnew – Parteichef, Kossygin – Regierungschef, Podgorny – formelles Staatsoberhaupt, hinzu trat der »Parteiideologe« Suslow), und die unteren Ebenen sollten entsprechend verfahren3. Der weitere Verlauf zeigte freilich, dass dies allein kein entscheidender Beitrag zur Entbürokratisierung der kommunistischen Partei sein konnte. Dazu fehlte wirksamer Druck von unten aus der Parteibasis, den Betrieben, den Gewerkschaften und dem, was heutzutage »Zivilgesellschaft« genannt wird. In der Folge stellte sich der Personenkult auch unter Breschnew (wenn auch in gemäßigter Form) Zug um Zug wieder her.

Die Parteiführung war nicht bereit, sich auf unvorhersehbare Risiken für ihre eigene Stellung durch die Demokratisierung von Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einzulassen. Die Unsicherheit durch den Stalin’schen Terror ebenso wie die Chruschtschow’schen Experimente, so nachvollziehbar sie vor dem Hintergrund ihrer historischen Bedingungen auch sein mochten, prägten diese Parteielite. Das Breschnew-Lager hatte sich gegen Chruschtschow nur durchsetzen können, weil es sich mit alten Stalinisten verbündete. Letztlich befürchteten alle Fraktionen, dass eine zu weit gehende Öffnung zur antistalinistischen Kritik das Ansehen und den Bestand der Partei gefährden könnten. Genau daran hakte es fortan. Unter Breschnew wurden die Probleme einer überstarken Zentralisierung nicht mehr prinzipiell hinterfragt. Damit war die Gefahr gegeben, in einer Sackgasse zu enden. Auseinandersetzungen um den Kurs der KPdSU hatten außenpolitische Wirkungen. In erster Linie ist hier die Position der Kommunistischen Partei Chinas zu nennen. Hatte diese schon die Politik der »friedlichen Koexistenz« mit dem US-Imperialismus als gefährliche Illusion und Kapitulation verurteilt, so war die Enttabuisierung Stalins für sie gleichbedeutend mit der Aufgabe des richtigen Weges zum Sozialismus. So hoffte man in Moskau und Peking darauf, dass dieser Bruch im kommunistischen Lager wieder beigelegt werden könnte.

Es scheiterte zumindest im ideologischen Sinne unter damaligen Umständen daran, dass die Restauration des Stalinismus in der Sowjetunion innenpolitisch nicht mehr durchsetzbar war. Die Parteiführung wollte dieses Risiko nicht auf sich nehmen, sondern suchte einen Mittelweg, die Kritik an Stalin einstellen, aber eine »nachstalinistische« bürokratische Politik umsetzen zu können, die ihre politische und gesellschaftliche Stellung bewahrte. Aber ein entscheidendes innergesellschaftliches Hindernis für die weitere Entwicklung des Sozialismus bestand damit fort: Wollte man wirklich den Kommunismus in der Sowjetunion aufbauen und damit auch positiv auf verbündete Opposition (kommunistische/sozialistische Parteien, Gewerkschaften, sympathisierende Intellektuelle, Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt« etc.) in der kapitalistischen Welt ausstrahlen, musste der »Stalinismus« mit allen seinen Folgen überwunden werden.

Um hier nicht missverstanden zu werden, weisen wir auch an dieser Stelle auf die bereits in vorhergehenden Artikeln4 problematisierte historische Funktion und das Verdienst des »Stalinismus« hin, nämlich unter Bedingungen des brutalen Existenzkampfes gegen den Imperialismus und speziell das faschistische Regime Nazi-Deutschlands und seiner Verbündeten den Bestand der Revolution verteidigt zu haben. Nur dank der strikten Zentralisierung der politischen Entscheidungen und der Konzentration der ökonomischen Mittel auf die entscheidenden Projekte hatte man es erreicht, dass der Sozialismus nicht schon in den zwanziger Jahren oder im Zweiten Weltkrieg zusammengebrochen war. Doch in der Phase, um die es hier geht, gelang es nicht, die stalinistischen Strukturen und deren Folgen, besonders im Bewusstsein der Lohnabhängigen bis hin zu den Funktionären der KPdSU, zu überwinden. Die »Entstalinisierung« mündete nicht in eine sozialistische Demokratie, sondern in eine liberalisierte, gleichwohl autoritäre Parteiherrschaft. Menschen in Opposition dazu mussten nicht mehr um ihr Leben bangen, aber sehr wohl um ihre gesellschaftliche Stellung und ggf. um ihre persönliche Freiheit.

Natürlich sahen sich im kapitalistischen Westen alle antikommunistischen Kräfte in Staat, Gesellschaft und Gewerkschaften mit ihren Kritiken und Vorbehalten erneut bestätigt. Dies wäre auch unter einem günstigeren äußeren Erscheinungsbild des realen Sozialismus kaum anders zu erwarten gewesen. Kommunistische Bewegungen, Parteien und Aktivisten im Westen hatten es politisch unter ihren jeweiligen Bedingungen ohnehin schwer, den Aufbau des Sozialismus als realitätstüchtige und positive Alternative zu propagieren. Die globale Systemkonfrontation bestärkte in der Sowjetunion die Beharrungskräfte, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Gleichzeitig wuchsen in Ost und West die Bedingungen und Kräfte heran, die auf einen Ausweg drängten, zumindest im Sinne der späteren »Entspannungspolitik« und unter Wahrung der jeweiligen Interessenlagen.

Entwickelter Sozialismus als Zielvorgabe

Aufgegeben wurde das Ziel des Kommunismus natürlich nicht. Das hätte die gegebenen Grundlagen von Gesellschaft und Staat auf einen Schlag in Frage gestellt. Aber die Breschnew-Fraktion gab frühzeitig die Losung aus, fortan gehe es erst einmal um den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft bzw. des entwickelten Sozialismus (also der ersten Stufe in der Entwicklung zum Kommunismus). Das hieß erstens: Diese Phase sei eben noch nicht erreicht; zweitens: Im Prinzip erhalte der Einzelne erst einmal nur, was seiner Leistung für das Gemeinwesen entspreche; drittens: Die Geschwindigkeit des Aufbaus werde gedrosselt. Statt revolutionärem Schwung ging es darum, sich im Gegebenen einzurichten. Dem folgten die Führung, die mittleren Kader und die Gesellschaft.

Die neue Politik resultierte zwangsläufig aus den Ergebnissen des vorherigen Kurses. Ansatzpunkt der Kritik war vor allem die Landwirtschaft: In diesem Sektor waren große Erfolge erzielt worden, wenn man sie mit der Ausgangslage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verglich. Es war jedoch nicht gelungen, die grundlegenden strukturellen Mängel zu beseitigen. Dazu kamen desaströse Fehleinschätzungen und deren Folgen sowie überzogene Versprechungen und Erwartungen, die nicht eingelöst worden waren5.

Entsprechendes galt aber auch in der Industrie und in der Gesamtökonomie. Im Bruttoinlandsprodukt hatte man den großen Vorsprung der USA ein wenig verringern können (Verhältnis des BIP UdSSR zu USA: 1946 = 20,8 %, 1950 = 31,7 %, 1960 = 35,2 %, 1964 = 34,9 %). Doch erstens hatte dieser Erfolg auch mit einer nicht optimalen Entwicklung in den USA zu tun, und zweitens wurden die Wachstumsraten des BIP schwächer (ein Rubel, der 1963 investiert wurde, ergab 15 Kopeken weniger als 1958).

Interessant ist hier ein Vortrag6 im Juni 1965 von Abel Aganbegyan. Er gehörte zum »Institut für industrielle Produktion« in Nowosibirsk. Dessen Forschungsergebnisse waren etwa zwei Jahrzehnte später ein Grund dafür, dass Aganbegyan zu einem der führenden Ökonomen der Perestroika aufstieg. 1965 wurde seine Kritik einer breiteren Öffentlichkeit deshalb bekannt, weil sein Vortrag (beziehungsweise die Notizen davon) im Samisdat7 veröffentlicht wurde (obwohl er kein Mitglied der Opposition, sondern der Nomenklatura war). Dass man dieses Verfahren wählte, lag wohl daran, dass seine Ausführungen die harte Realität schonungslos widerspiegelten.

Sein Urteil war vernichtend: Die sowjetische Industriestruktur sei eine der schlechtesten unter allen Industrieländern. Pläne zur Einführung neuer Technologie wurden zuletzt nur zu 70 % erfüllt. In der Werkzeugmaschinenfertigung stand meist die Hälfte der Maschinen still. Um eine Tonne Stahl zu erzeugen, brauchte man dreimal so viele Kohle wie in den USA.

Als eine Ursache für die Probleme wurde von ihm die Tatsache ausgemacht, dass die Sowjetökonomie faktisch immer noch eine Art Kriegswirtschaft war: Von den rund 100 Millionen Beschäftigten waren enorme 30 bis 40 Millionen nur für die Rüstung tätig. Das war natürlich auf den Rüstungswettlauf mit dem Westen zurückzuführen: Die eigentlich schwächere Sowjetökonomie musste sich sehr viel stärker anstrengen, um der Nato doch noch halbwegs Paroli bieten zu können. Aber zwangsläufig war die Kehrseite der Medaille, dass damit die zivile Wirtschaft der SU beeinträchtigt wurde. Und das wiederum musste auf Dauer die Gesamtökonomie schädigen.

Der andere Minuspunkt war die enorme Zentralisierung. Das Plansystem war in wesentlicher Hinsicht seit den 30er Jahren nicht verändert worden. In jener Zeit war Planung noch recht einfach gewesen: Um die Industrialisierung des Landes voranzutreiben, brauchte man etwa nur zu entscheiden, in der Stadt X einen Bergwerksschacht zu bohren, in einer anderen Region Y zwei weitere Hochöfen hochzuziehen, in einem dritten Ort Z ein Chemiewerk zu bauen etc. Für die Produkte galt Entsprechendes: Statt hundert Panzer oder Raupen müsse das örtliche Kombinat im nächsten Planjahrfünft 150 pro Jahr fertigen.

Je weiter jedoch die Industrialisierung voranschritt, desto mehr Firmen fielen allein dadurch unter das Plansystem (mit deutlich mehr verschiedenartigen Produkten). Potenziert wurde das Ganze dann zusätzlich, weil die Konsumgüterindustrie eine immer größere Bedeutung bekam: Die Rüstung kann man auf ein, zwei Panzer-Typen begrenzen. Bei Konsumgütern geht es aber von vornherein um den Massenbedarf. Es sind also vergleichsweise viele Varianten in geringen Stückzahlen zu fertigen. Entsprechende Anforderungen zu Qualität, Komplexität, Flexibilität sind an Planung und Produktion zu stellen.

Je weiter die Wirtschaft anwuchs und sich zergliederte, desto mehr »Daten« wurden erzeugt, die miteinander abgeglichen werden mussten. Schätzungen liefen auf »mehrere Trillionen« Abstimmungsprozesse hinaus, und das in einer Zeit, wo nicht einmal die zentrale Planbehörde Mitte der 60er Jahre über einen Computer verfügte. Die Datenflut war also immer schwerer zu verarbeiten. Im Endeffekt war kaum noch zu ermitteln und zu kontrollieren, was in der Wirtschaft tatsächlich vorging. Aganbegyan behauptete, manche Einschätzungen der CIA seien realistischer gewesen als Berichte der eigenen Planbehörden. In der Realität handelten die verschiedenen Planstellen – statt ernsthaft zu planen – irgendetwas untereinander aus. Am Ende verordnete die Zentrale einen mehr oder weniger verbindlichen Gesamtplan.

Viele dringlich erwartete Produkte konnten so nicht erzeugt werden. So ging die Lebensmittelversorgung in den Städten zurück. Auf der anderen Seite wurden jedoch beispielsweise Nähwaren oder Uhren in einem Ausmaß produziert, dass man zwei Jahre lang überhaupt nichts Neues hätte anfertigen und dennoch keine Nachschubprobleme gehabt hätte. Die negative Entwicklung betraf nicht mehr allein die Ökonomie, auch der Lebensstandard fiel. Die – versteckte8 – Arbeitslosigkeit stieg: In großen Städten belief sie sich – nach Schätzung des o. a. genannten Instituts – auf durchschnittlich 8 %, in kleineren und mittleren Städten sogar auf gut 30 %.

Liberman-Reform:
Rationalität von Plan und Einzelbetrieb

Auch, wenn man die »großen Experimente« fortan scheute, musste die Wirtschaft umgebaut werden. Ausgangspunkt dafür wurden die Überlegungen des sowjetischen Ökonomen Jewsei G. Liberman, die dieser bereits seit Mitte der fünfziger Jahre veröffentlicht und 1962 in einem Prawda-Artikel unter der Überschrift »Plan, Gewinn, Prämie« dargelegt hatte. International gehörte er zu einer Tradition, welche von dem polnischen Wirtschaftswissenschaftler Oskar Lange ebenfalls Mitte der 50er Jahre begründet worden war. Einige dieser Fragen wurden auch in der Plandebatte in Kuba und im Zusammenhang mit dem NÖSPL-Kurs ab 1963 in der DDR diskutiert. Diejenigen Artikel, die nach einiger Zeit als Liberman-Debatte firmierten, waren von der SED gleich in den eigenen Organen nachgedruckt und diskutiert worden. Bald darauf tauchte das Ganze dann in den Reformdebatten in der Tschechoslowakei und in Ungarn auf. Dass diese Probleme gleichzeitig in so verschiedenen Zusammenhängen analysiert wurden, ist allein bereits ein Hinweis darauf, dass die in Frage stehende Problematik für das realsozialistische Wirtschaftsmodell schon sehr bedeutend war.

Liberman selbst hatte in dem erwähnten Artikel (und auch eine ganze Weile danach) freilich noch nicht »dem Markt« das Wort geredet. Ihm ging es zunächst allein darum, dass der Plan in der bisherigen Form die Rentabilität der Betriebe völlig außer Acht ließ. Gemeint war damit Kostenneutralität plus Überschuss im Verhältnis zwischen dem planmäßigen und rationalen Einsatz von Arbeitskräften, Betriebsmitteln, Rohstoffen bzw. Vorprodukten und dem Ertrag der Produktion für den gesellschaftlichen Bedarf.

Bisher ging es in der Produktion um die berüchtigte »Tonnenideologie«: Im Plan standen z. B. 100 Bagger oder 10.000 Tonnen Stahl. Nicht die Effizienz im Umgang mit den zugeteilten Ausgangsmaterialien war dabei wichtig, sondern das Ergebnis. Wenn das Werk mehr Bagger/mehr Tonnen ablieferte, war das gut und wurde honoriert. Aber das System war nicht darauf ausgerichtet, dass dieser Vorgang optimiert wurde. Lange Zeit war das kein Problem: Rohstoffe und Arbeitskräfte gab es genug. Es war die Zeit des Aufbaus aus den ursprünglich agrarischen Verhältnissen bzw. nach dem Krieg, der hohen Steigerungsraten und der elementar niedrigen Ansprüche. Solange aber nur die zahlenmäßige Erfüllung, nicht die Rentabilität (Kostenneutralität plus Überschuss) in der Fertigung entscheidend war, wurde das zum Hemmschuh für eine differenziertere Wirtschaftsform, weil die Betriebe kein Interesse an einer kostengünstig und rational organisierten Produktion hatten.

Liberman forderte deshalb, in Zukunft müsse der Gewinn im Mittelpunkt der betrieblichen Aktivitäten stehen. Wer besonders rentabel arbeite, dürfe dann einen nicht zu unterschätzenden Teil des Überschusses behalten und diesen in den Prämientopf der Belegschaft einzahlen. Damit sich das Interesse des Betriebes an einer besonders rentablen Lösung vergrößerte, durfte natürlich zugleich das von oben geschnürte Korsett, der Plan, nicht allzu eng sein. Wer praktisch keine Möglichkeiten habe, etwas anders zu machen, der könne auch keine Chance sehen, anders zu arbeiten, damit am Ende ein nennenswerter Gewinn zu erzielen sei. Also dürfe es nur noch vergleichsweise wenige Kennziffern für die Betriebe geben. Die Aussicht auf Gewinn müsse dazu führen, dass die Betriebe nur das produzieren, wofür es ein gesellschaftliches Interesse gebe.

Gemeint war nicht der kapitalistische Profit, der aus der privaten Aneignung entsteht. Es ging um den Überschuss im Betriebsergebnis, der der jeweiligen Belegschaft zugute kommen soll. Dadurch sollen Arbeitsmotivation und Interesse an der Entwicklung des Betriebes gefördert werden. Im Kapitalismus bestimmt der Erfolg am Markt das Überleben des Unternehmens. Im Sozialismus geht das begreiflicherweise nicht. Aber jenseits abstrakter politischer Motivation muss es einen Mechanismus geben, der die Betriebe zwingt, a) kostengünstig und b) für den tatsächlichen gesellschaftlichen Bedarf zu produzieren.

Das akute Problem war, wenn Planung konkret so aussah wie in der Sowjetunion in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, dann war auch durch die Überzentralisierung der Anarchie Tür und Tor geöffnet. Denn auf diese Weise wurde Planung in weiten Bereichen zur Fiktion. In der Konsequenz hieß das, dass ein größeres Maß an Flexibilisierung herzustellen war, um gesamtgesellschaftlich die Wirtschaft doch noch geordnet fortentwickeln zu können. Die einzelbetriebliche Rechnungsführung sollte einen wesentlich größeren Stellenwert bekommen, d. h. die Preise für die Produkte der Betriebe sollten auf den tatsächlichen Kosten der Herstellung beruhen. Damit sollten Betriebe auch die Möglichkeit erhalten, sich auf dem »Markt« umzuschauen, um ihre Maschinen, Vorprodukte, Energie usw. möglichst kostengünstig zu beziehen.

Zugleich sollten die Beschäftigten stärker in die Planung einbezogen werden. Die Betriebe sollten »Gegenpläne« erstellen. Einfluss darauf hatten die »Gesellschaft der Rationalisatoren«, die »Organe der Volkskontrolle« und die nun häufiger stattfinden Betriebsversammlungen. Auf der Ebene der Betriebe wurden zugleich »Fonds der materiellen Stimulierung«, also zur Lohnfindung, eingerichtet. Allerdings waren die Beharrungskräfte immens: Die oben wollten nicht unbedingt Einfluss aus der Hand geben, die unten wollten sich nicht mit zusätzlicher »gesellschaftlicher Arbeit« abgeben, die von der eigenen Freizeit abging. Im Endeffekt gab es bis 1975 erst in einem Drittel der Betriebe Gegenpläne.

Natürlich führte das zu weitergehenden Diskussionen, die den ursprünglichen Sinn in Zweifel zogen. Weil mit dem größeren Freiraum für Betriebe die zentrale Planhoheit ein Stück weit ausgehebelt wurde, besteht bereits mit der Installierung der allerersten Marktelemente die Gefahr, dass schlussendlich die sozialistische Ökonomie zerstört werden könnte. Setzt man diesen Prozess fort oder lässt ihn zumindest zu, wird sich irgendwann Quantität in Qualität verwandeln, so dass die Gefahr besteht, dass aus der Ökonomie selbst heraus das Ende des Sozialismus eingeläutet wird. Dementsprechend spielte nicht nur in der Sowjetunion selbst, sondern auch unter vielen westlichen Linken bei der Einschätzung der 1965er Reform dieser Gesichtspunkt (Gefahr der Rückkehr zum Kapitalismus) eine nicht unerhebliche Rolle. In der Praxis hat man das später in Jugoslawien, in der Perestroika oder in China gesehen.

In der Liberman-Reform ging es eigentlich um »Simulation der Marktwirtschaft«, nicht um echten Markt von einander unabhängiger Wirtschaftssubjekte im kapitalistischen Sinne. Der neue wirtschaftspolitische Kurs der Sowjetunion sollte sich dem sozialistischen Anspruch gemäß an den unmittelbaren Interessen der werktätigen Menschen orientieren. Aber in der Praxis ergibt sich eine Gratwanderung zwischen dem, was dem Betrieb im »simulierten Markt« überlassen werden kann, und dem, was der Kontrolle durch den übergeordneten Plan bedarf. Es ist hier nicht der Raum gegeben, das jeweilige Scheitern des NÖSPL in der DDR, des »Gulaschkommunismus« in Ungarn, des »Prager Frühlings« in der Tschechoslowakei, der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien zu untersuchen. Ihre Bedingungen waren sehr unterschiedlich. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Konfrontation mit dem imperialistischen System des Westens im Kalten Krieg nicht die Zeit und die Gelegenheit ließ, ökonomische und politische Modellvorstellungen ohne Störung von außen zu entwickeln und auszuprobieren.

Wirtschaftsentwicklung bis Mitte der 70er Jahre

Ab Mitte der 60er Jahre bekamen die bäuerlichen Betriebe mehr Freiraum. Zuvor galt die Landwirtschaft in erster Linie als stoffliche und finanzielle Quelle zur Unterstützung der sozialistischen Entwicklung des gesamten Landes: Von dort sollte Mehrprodukt abgeschöpft werden, um den Aufbau der Industrie voranzutreiben und die Ernährung der wachsenden städtischen Arbeiterschaft sicherzustellen. Für die Bauernschaft war das eine scharfe Ausbeutung, viele verloren ihre Lebensgrundlagen und wanderten in die Städte ab9. Nun sollte die Rollenverteilung umgekehrt werden: Die Industrie sollte der Landwirtschaft bei deren Weiterentwicklung helfen. Die staatlichen Investitionen im Agrarbereich wurden gesteigert (fast eine Verdreifachung: 1961 – 65 = 48,6 Mrd. Rubel, 1966 – 70 82,2 Mrd. Rubel, 1971 – 75 = 131,5 Mrd. Rubel), die Pflichtabgaben der Betriebe an den Staat gesenkt und die Preise für Agrarprodukte erhöht. Sowchosen und Kolchosen sollten mit diesen zusätzlichen Einkünften ihre Produktion modernisieren. Die Ausweitung des landwirtschaftlichen Angebotes sollte zu besserer Versorgung der Städte führen. Der Anteil der agrarischen an den gesamtstaatlichen Investitionen stieg auf ein gutes Viertel.

Trotzdem wurde der landwirtschaftliche Ausstoß nur graduell verbessert. Zwar ging man von der Neulandgewinnung in klimatischen Problemzonen ab und wandte sich der Produktivitätssteigerung zu. Doch der dringend notwendige Umstieg von der extensiven zur intensiven Landwirtschaft gelang nicht. Trotz der Verfünffachen der materiell-technischen Ausstattung der agrarischen Betriebe von 1965 bis 1985 wurde nur eine Verdoppelung der Arbeitsproduktivität erreicht. Hinzu kam, dass sich Transportprobleme in dem riesigen Land schnell addierten. Es gelang nur unzureichend, Verarbeitungskapazitäten in der Nähe der Erzeugerregionen zu konzentrieren. So versickerten immer noch 20 – 40 % der Ernte irgendwo zwischen Acker und Verbraucher.

Deutlich wurde das im internationalen Vergleich; im Verhältnis zur westlich-kapitalistischen Landwirtschaft blieb der Ausstoß immer noch sehr gering. In der Mitte der achtziger Jahre (also fast unmittelbar nach dem Ende der Breschnew-Zeit) soll die Produktivität der sowjetischen Landwirtschaft gerade mal ein Viertel der amerikanischen betragen haben. Gleichzeitig sorgte aber mit Rücksicht auf das soziale Klima der Staat dafür, dass die Endverbraucherpreise für landwirtschaftliche Produkte seit 1962 nicht mehr erhöht wurden. Währenddessen stiegen die Löhne deutlich. Viele Städter hätten sich also gerne mehr, zumindest besseres, gegönnt. Der Geldüberhang in den Taschen der Werktätigen erschien im Endeffekt als zunehmende Mangelwirtschaft.

Insgesamt ging es aber in der sowjetischen Ökonomie rein mengenmäßig bergauf. Der Fünfjahresplan von 1970 bis 1975 gilt als der effektivste in der Geschichte des Landes. Allein im Jahre 1970 war doppelt so viel produziert worden wie in allen Fünfjahrplänen vor dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Die industrielle Fertigung konnte um 50 % gesteigert werden. Das galt auch für die Konsumgüterindustrie, die einen Zuwachs von 49 % verzeichnen konnte. Die Fertigung von Produktionsmitteln konnte um 51 % gesteigert werden. In diesem Zeitraum waren fast 2.000 neue Großbetriebe entstanden. In diese Ära fiel zum Beispiel die Entstehung des Automobilwerks Togliatti. Hier waren 1970 die ersten Ladas vom Band gelaufen. Anfang der 80er Jahre konnte man dann immerhin darauf verweisen, dass nunmehr 20 % der weltweiten Industrieproduktion auf die Sowjetunion entfielen. In den Bereichen Stahl, Erdöl und Dünger nahm man schon vorher weltweit den ersten Platz ein.

Die Ergebnisse für die Bevölkerung

Die Bevölkerungsstruktur veränderte sich weiterhin. Russland und weite Teile der Unionsrepubliken insbesondere im Süden der Sowjetunion waren zu Zeiten der Oktoberrevolution noch reines Agrarland gewesen. Noch in den letzten Jahren der Chruschtschow-Zeit dominierte die Bevölkerung der Sowchosen und Kolchosen – wenn auch nur knapp. Aber am Ende der Breschnew-Ära lebten fast zwei Drittel der Einwohner in den Städten. Ein anderes Indiz dafür, dass die Sowjetunion besser als früher dastand, ist die Erzeugung des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf, wie die folgende Tabelle zeigt:

Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Westen
Jahr BIP SU pro Kopf
(in Dollar)
Im Vergleich
zu USA (in %)
Im Vergleich zu den
12 ersten
Euro-Ländern (in %)
1929 1.386 20 32
1948 2.402 26 54
1964 4.430 35 49
1973 6.058 36 49
1982 6.544 36 45

Mark Harrison, Economic Growth and Slowdown, in: Edwin Bacon/Mark Sandle (Hg.),
Brezhnev reconsidered, Basingstoke/New York 2002, S. 46

Zunächst einmal ist das eine rein ökonomische Größe. Aber je mehr produziert wurde, desto mehr gab es zu verteilen. In der Beziehung zum Westen allgemein fällt auf, dass zum einen der Abstand statistisch geringer wurde, andererseits natürlich noch riesig war. Speziell im Verhältnis zu Westeuropa ist zu beachten, dass der Vergleich unmittelbar nach dem Krieg besonders günstig war. Das lag daran, dass zum einen große Gebiete im westlichen Europa noch in Schutt und Asche lagen, während zum anderen die Sowjetunion davon profitierte, dass noch während der Kampfhandlungen viele neue Fabriken weit hinter die Front verlegt worden waren, die umso nachhaltiger produzieren konnten, nachdem der faschistische Feind hinter die Grenze zurückgetrieben worden war. Realistischer sind deshalb erst die späteren Zahlen. Insgesamt hatte sich die relative Situation der UdSSR verbessert, obwohl die kapitalistischen Länder zur gleichen Zeit ebenfalls enorm boomten. Letztlich wurde auch hier deutlich, dass die Sowjetunion längst nicht mehr das unterentwickelte Agrarland aus der Frühphase des Aufbaus des Sozialismus war.

Insbesondere den Städtern ging es in der Sowjetunion eindeutig besser. Zwischen 1965 und 1970 war das Durchschnittseinkommen der Arbeiter und Angestellten um 26% angewachsen. Das reale Pro-Kopf-Einkommen ging sogar um 33 % hoch. Drei Viertel des in dieser Zeit neugeschaffenen Nationaleinkommens war allein für den Konsum der Beschäftigten ausgegeben worden. 1960 lebten erst 40 % der Sowjetbürger in eigenen, in sich abgeschlossenen, Wohnungen. 1980 waren es ungefähr 80 %.

Die Ernährungsgewohnheiten verschoben sich zu höherwertigen Lebensmitteln, wenn auch nur leicht. Der Kartoffelkonsum stagnierte, der von Fleisch und Früchten jedoch stieg. Interessant ist auch der internationale Vergleich, zunächst wiederum bei den Lebensmitteln: Unterstellt, ein höherer Verzehr von Brot und Kartoffeln steht für ein ärmeres Land, ein größerer Verbrauch von Fleisch und Eiern für ein reicheres, dann fiel die UdSSR neben den Vereinigten Staaten immer noch sehr deutlich zurück. Aber von so einem mittleren Einkommensland Westeuropas wie Großbritannien war die Sowjetunion nicht mehr weit entfernt.

Verzehr von Nahrungsmittel/Kilogramm pro Kopf
1965 1970 1973
Fleisch 41,0 48,0 52,0
Milcherzeugnisse 251,0 307,0 307,0
Fisch 12,6 15,4 16,2
Kartoffeln 142,0 130,0 142,0
Gemüse 72,0 82,0 85,0
Früchte 28,0 36,0 40,0

Philip Hanson, The Rise and Fall of the Soviet Economy,
London et al. 2003, S. 115


Internationaler Vergleich:
Verzehr von Nahrungsmittel/Kilogramm pro Kopf
UdSSR 1973 Großbritannien 1970
USA 1971
Brot 145 73 65
Kartoffeln 124 102 66
Fleisch 52 76 110
Eier (Anzahl)
195 283 321
Milch 307 216 254

Philip Hanson, a. a. O., S. 116

Entsprechend sah es bei dauerhaften, also höherwertigen Konsumgütern aus. Die Verbreitung nahm deutlich zu. Auch hier zeigt der internationale Vergleich den großen Abstand zu den USA und den geringeren zu Großbritannien. Aus solchen Daten konnten die Sowjetbürger den Schluss ziehen, dass sie zwar noch sehr weit hinter den USA zurücklagen, aber eine »Aufholjagd« realistisch und lohnend erschien. Die Sowjetunion näherte sich schon dem Kreis der Länder mit mittlerem Einkommen an.

Eigentum von dauerhaften Konsumgütern
Stückzahl pro 1.000 Einwohner
1965 1970 1973
Radios 165 199 216
Fernsehgeräte 68 143 195
Kameras 67 77 77
Motorräder 17 21 23
Kühlschränke 29 89 142
Waschmaschinen 59 141 173

Philip Hanson, a. a. O., S. 115


Internationaler Vergleich: Eigentum von dauerhaften Konsumgütern
Stückzahl pro 1.000 Einwohner
UdSSR 1973
Großbritannien 1970
USA 1971
Radios 216 340 1.695
Fernseher 195 305 474
Telefone 53 314 627

Philip Hanson, a. a. O., S. 116

Allerdings wissen wir, wie die Geschichte weiter ging. Die spätere Entwicklung deutete sich in den einzelnen Sektoren an. Bei den Lebensmitteln war so etwas wie das Licht am Ende des Tunnels zu erkennen. Bei den dauerhaften Konsumgütern dagegen war diese Perspektive fundamental schlechter. Der Abstand zur Weltspitze (den USA) war weiterhin enorm. Da die Fertigung solcher Güter einen ganz anderen -höherwertigen- Produktionsapparat voraussetzt, zeigte sich also schon auf dieser Ebene, dass es mit dem sowjetischen Industriepotenzial nicht so gut aussah, wie sich das auf den ersten Blick darstellte.

Trotzdem wird nachvollziehbar, warum diese Epoche als das »goldene Zeitalter« des Sozialismus verstanden wurde. Solche Veränderungen schlugen sich auch in der Struktur der Kommunistischen Partei nieder: Mehr Menschen konnten sich mit ihr identifizieren. 1961 hatte sie circa 9,2 Millionen Mitglieder gehabt; 1983 waren es um die 18,1 Millionen, die im Sinne der KPdSU Einfluss auf den Fortgang der Gesellschaft nehmen konnten. Zugleich fiel der Anteil der Bauern und der der Proletarier nahm zu: 1961 entstammten 33,9 % der Arbeiterschaft, 17,6 % waren Kolchosbauern. 1983 entfielen auf die Arbeiterschaft 44,1 % und auf die Bauern 12,4 % 10.

Die Probleme der Wirtschaftsentwicklung ab Mitte der siebziger Jahre

Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre wurde jedoch immer deutlicher, dass die sowjetische Wirtschaft mit grundlegenden Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Während in den fünfziger Jahren noch deutliche Wachstumszahlen zu verzeichnen gewesen waren, sanken sie bis in die späten Siebziger dramatisch, Anfang der achtziger Jahre waren es die niedrigsten seit Anbeginn der Sowjetunion11. Die Dramatik der Lage wird deutlich, wenn man die Entwicklung auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren hin aufschlüsselt:

Wachstum in verschiedenen Wirtschaftssektoren
1964 – 73
1973 – 85
Industrie 5,8 2,9
Landwirtschaft 3,0 0,1
Konsum 4,5 2,5
Investitionen 5,8 2,4

Philip Hanson, a. a. O., S. 133

In den kapitalistischen Ländern verlief die Entwicklung zwar zunächst ähnlich. Nach dem Krieg musste wieder aufgebaut werden, später folgte der Boom des Koreakrieges (die Basis für das in der BRD so genannte »Wirtschaftswunder«) usw. Durch das Ende der Rekonstruktionsperiode, die Krise des Weltwährungssystems und das allgemeine Sinken der Profitraten folgte dann ein relativer Niedergang. Der entscheidende Punkt war allerdings, dass im Westen ein ganz neues Modell entwickelt wurde, das zu einer neuen ökonomischen Effizienz, zur Niederkonkurrierung des Ostens und letztlich zur heutigen Globalisierung des Kapitalismus führte.

In der Sowjetunion hingegen war solch eine Kurs-Änderung systemimmanent schwierig. Viel zu sehr basierte die dortige Wirtschaft auf der Veränderung von extensiven Faktoren: Um den gesamtwirtschaftlichen Ausstoß zu erhöhen, wurden schlicht neue Betriebe errichtet und zusätzliche Arbeiter eingestellt. Eine durchgreifende Modernisierung der Fabriken fand nicht statt. In der folgenden Tabelle sieht man, welche große Bedeutung der »Kapital«-Einsatz (die extensiven Faktoren) in der Sowjetunion hatte und wie sich zugleich die Arbeitsproduktivität immer negativer entwickelte:

Tempo des Anstiegs verschied. Indikatoren – in Prozent
1961 – 1970
1971 – 1978
1978 bzw. 1979
Grundfonds (Kapitaleinsatz)
in der gesamten Wirtschaft
8,9 8,2 7,2
Grundfonds (Kapitaleinsatz)
nur in der Industrie
9,8 8,2 7,4
Arbeitsproduktivität 6,2 4,3 3,7
Gesamte industrielle
Produktion
8,5 6,5 3,4

Melanie Tatur, Taylorismus in der Sowjetunion, Frankfurt/New York 1983, S. 15

Dies führte aber nicht zum Nachdenken über einen weiteren Reformschub. Vielmehr trat eine neue Entwicklung ein, die genau das verbergen konnte. Ab den sechziger Jahren waren in Sibirien große Öl- und Gasfelder entdeckt worden. Für deren Produkte ließen sich ab der ersten Ölkrise 1973 sogar noch einmal explosionsartig erhöhte Preise auf dem Weltmarkt erzielen. Die entsprechenden Exporteinnahmen wuchsen dementsprechend exorbitant. Da sich die Schwerfälligkeit der sonstigen Wirtschaft aber durch solche Einnahmen problemlos kaschieren ließ, gab es insofern auch keinen Anlass, dort wieder nachhaltig zu reformieren. Scheinbar paradox waren die hohen Öl-Einnahmen ein weiterer Grund, warum sich so etwas wie die Stagnationsperiode ausbilden konnte.

Diese Schwerfälligkeit hatte ihre eigentliche Grundlage aber darin, dass die Liberman- (bzw. Kossygin-) Reform von 1965 letztlich nicht das gebracht hatte, was man sich von ihr erwartet hatte. Sie war schlicht nach und nach »versandet«. Als ein zentrales Problem hatte sich die »materielle Interessiertheit« erwiesen. Der Sinn lag ja darin, den Beschäftigten und den Betriebsleitern Anreize zu bieten, damit sie besser und härter arbeiteten. Aber deren Gegenstrategie sah anders aus: Sie weichten von Seiten der Betriebe gleich zu Beginn des Planungsverfahrens die Pläne auf, um so garantiert an Prämien und Boni zu kommen. Für die Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft war das natürlich kontraproduktiv.

Das wesentliche Problem war freilich die Planung selbst. Eigentlich hatte sie dezentralisiert werden sollen. Genau dazu war den Betrieben mehr Macht gegeben worden. Das Ganze hätte auf mehr Planung von unten statt von oben hinauslaufen und die Zentrale auf die Setzung der grundlegenden Rahmenbedingungen beschränken sollen.

Das ließ sich in der Praxis nicht so einfach umsetzen. Die Bemühungen der Chruschtschow-Zeit, den Stalin’schen Zentralismus in der Planwirtschaft durch regionale Volkswirtschaftsräte12 zu überwinden, hatten zu einem Kompetenzwirrwarr geführt, regionale gegen zentrale Planungsbehörden ausgespielt und Planungsfehler nicht verhindert. Entscheidend wurde nun, dass man – um gegen dieses planerische Chaos vorzugehen – die Planungszentren auf der Ebene der Unionsrepubliken auflöste und deren Kompetenzen erneut an Moskau zurückgab. Die Dezentralisierung sollte dadurch verwirklicht werden, dass nun branchenbezogene Leitungssysteme eine größere Relevanz erhalten sollten. Aber die Betonung der Branchen stärkte im Endeffekt sogar eine Tendenz, welche in Moskau zu umfassenden Ministerien für Stahl, für Öl, für die Automobilindustrie und sonstiges führte. Somit wurden nun doch alle wesentlichen Beschlüsse in der Hauptstadt gefällt und GOS-PLAN stärker gemacht als bisher. So wurde damit fortgesetzt, die bestehenden Verhältnisse zu verwalten.

Es kann hier nicht um eine simplifizierende Alternative ökonomischer Mechanismen gehen, etwa »sozialistische Marktwirtschaft« vs. »bürokratische Planwirtschaft«. Im Sozialismus geht es nicht um ein abstrakt optimales Wirtschaftsmodell, dem man nur technokratisch zu folgen habe, damit alles von allein läuft. Das kann nicht unsere Vorstellung sein, wenn wir uns von der Abhängigkeit von ökonomischen Vorgaben (Adam Smith, »Die unsichtbare Hand«) befreien wollen. Statt Vorgängen, die sich unbewusst hinter unserem Rücken vollziehen, sollten wir gesamtgesellschaftlich politisch entscheiden, was ökonomisch im Interesse aller Gesellschaftsmitglieder sinnvoll ist. Das erfordert natürlich ein gewisses Maß von ökonomischer Entwicklung. In den dreißiger Jahren standen in der Sowjetunion drängendere Prioritäten des Überlebens auf der Tagesordnung. In den siebziger und achtziger Jahren muss man aber die hemmenden Faktoren eher auf der politischen Ebene sehen.

Stärkung der Beharrungstendenzen nach innen und außen

In der Konsequenz von all dem verstärkten sich die autoritäre Parteiherrschaft und der Bürokratismus. Die »kollektive Führung« von ganz oben hatte sich nach unten fortgesetzt. Doch mit Demokratisierung oder Basisinitiativen hatte das nichts zu tun. In der Praxis dominierten der »Pluralismus der Institutionen« und das »Regieren von Büroangestellten«. Da es den Druck von oben wie unter Stalin und auch noch unter Chruschtschow nicht mehr gab, konnten sich die »Kader« breitmachen; sie entschieden alles.

Weil man im Innern so sehr auf einen Kurs orientierte, der tiefgreifende Veränderung im Land scheute, musste eine solche im sozialistischen Ausland umso gefährlicher wirken. Deshalb wurde in Moskau im »Prager Frühling« 1968 vor allem die Gefahr gesehen, dass die bisherige Stabilität des sozialistischen Lagers in Frage gestellt würde. Dass man durch die Veränderungen, die in der Tschechoslowakei angestrebt worden waren, dem Sozialismus wieder ein neue Perspektive hätte geben können, wurde ausgeklammert. Dabei war die sowjetische Führung nicht von Beginn an gegen die Prager Reformen. Erst in dem Moment, als die Machtstellung der KPTsch gefährdet schien, erfolgte von Moskau aus die militärische Intervention der Staaten des Warschauer Vertrages.

In dieser Zeit hatte die Sowjetunion zusammen mit der BRD, Frankreich und den USA eine Entspannungspolitik in Gang bringen können. Hier machte sich der Bruch in der Entwicklung des Weltkapitalismus deutlich. Die erste Hälfte der siebziger Jahre waren noch davon geprägt gewesen, dass die USA und ihre Bündnispartner immer größere Probleme bekommen hatten. Da war zum einen der Vietnam-Krieg, der für die USA aus einer Verflechtung innen-, außen und wirtschaftspolitischer Gründe verloren ging; ein Land der »Dritten Welt« hatte sich gegen die »Supermacht« durchgesetzt. Noch schwerer wog das Ende der Nachkriegskonjunktur in der imperialistischen Welt. Diese Phase des Umbruchs im imperialistischen Lager, deren Ursachen und Erscheinungsformen im Rahmen dieses Artikels nicht darstellbar sind, schlug sich in einer bürgerlichen Revolte – im Alltag als Studentenbewegung wahrgenommen – nieder, die zu vielen gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen führen sollte. Erst einmal hieß das für das kapitalistische Lager, dass es defensiv auftreten musste. Das waren gute Chancen für die Entspannungspolitik mit Moskau.

Aber mit der Entwicklung des globalisierten Kapitalismus ab Mitte der 70er Jahre änderten sich viele Grundbedingungen. Damit stieg zunächst einmal sehr deutlich die wirtschaftliche Macht des Westens. Zugleich nahm aus imperialistischer Sicht auch die Notwendigkeit zu, die Welt politisch und ökonomisch noch mehr zu durchdringen. Verstärkte Investitionen rund um den Globus mussten abgesichert werden. Der Einfluss des sozialistischen Lagers galt als bedrohliche Einschränkung. Also frönte man im Westen dank Reagan und Thatcher einer immer aggressiver gegen die Sowjetunion gerichtete Außenpolitik.

Nach und nach etablierten sich in den NATO-Staaten Führungen, die wieder in Kategorien des Kalten Krieges dachten. Moskau versuchte nun, sich dort festzukrallen, wo auch immer es möglich war: in Mozambique, Angola und Afghanistan. Zugleich wurde die eigene Aufrüstung vorangetrieben, was den Druck seitens des Westens wiederum verstärkte. Das Problem für die Sowjetunion war natürlich, dass sie auf Dauer ökonomisch nicht mehr mithalten konnte. Das »Totrüsten« der Sowjetunion seitens der ökonomisch überlegenen NATO-Staaten wurde zumindest von den USA bewusst inszeniert und führte schließlich zum Erfolg im westlichen Sinne. Aus heutiger Sicht ging an der Perestroika kein Weg vorbei – die Frage war nur: welche Umwälzung, mit wem und zu wessen Nutzen13.

Gesamtwertung der »Stagnationsperiode«

Im Nachhinein wird zwar häufig die gesamte Breschnew-Zeit als Stagnationsperiode abgetan. Schon in den Fehlern der Wirtschaftsreform von 1965 wird die eigentliche Ursache dafür gesehen, warum die sowjetische Ökonomie solch großen Probleme bekam, dass ab Mitte der 80er Jahre mit der Perestroika nur noch eine Radikalkur übrigblieb. Wäre die Liberman-Reform anders angelegt gewesen, so wären der UdSSR viele der späteren Probleme erspart geblieben. An dieser Auffassung ist sicher einiges richtig.

Doch für die damaligen Entscheidungsträger hatte sich die Lage gerade nicht von Anfang an so dramatisch dargestellt. Lange Zeit konnte die Sowjetunion weiterhin auf Erfolge verweisen. Und als sich diese Erfolgskurve abzuflachen begann, sah man zugleich, dass es in den führenden kapitalistischen Ländern noch schlimmer aussah. Bekanntlich zeichnete sich dort zu jener Zeit das Ende der Nachkriegskonjunktur ab. Die eigenen Probleme in der Sowjetunion sahen daher nicht so negativ aus. Es gehört ja auch nicht zu den Erfordernissen des Sozialismus, ökonomische Zusammenhänge um jeden Preis zu optimieren. Das passiert im Kapitalismus mit dessen Zwang zur Profitmaximierung. Warum hätte man diesem Beispiel folgen sollen, solange die sozialistische Wirtschaft zu funktionieren schien?

Solche Relativierungen ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass sich die ökonomische Entwicklung in der Sowjetunion deutlich zum Negativen veränderte. Zu unterscheiden sind zwei Perioden in der Breschnew-Ära: zunächst einmal diejenige von Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre und dann diejenige ab jener Zeit bis in die frühen Achtziger. So gibt es für diese Zeitabschnitte zwei scheinbar widersprüchliche Charakterisierungen: »Goldenes Zeitalter« des Sozialismus und Stagnationsperiode. Doch es war die zweite Phase, die die erste ablöste und den Weg in den Niedergang bedeutete.

Hierfür waren die drei genannten Faktoren verantwortlich: Erstens waren nach all den Revolutionen und Kämpfen der jüngeren Zeit in der Sowjetunion zu wenige bereit, noch einmal an die Front zu marschieren. Zweitens schienen sie es auch nicht unbedingt zu müssen, denn die enormen Ölfunde boten eine Menge an zusätzlicher Finanzkraft. Drittens war es ihnen unmöglich, weil der Widerstand der alten Beharrungskräfte gegen eine tiefgreifende Wirtschaftsreform zu groß war.

Die Blockkonfrontation des Kalten Krieges war eine asymmetrische, in der die Sowjetunion über Jahrzehnte standgehalten hatte, aber letztlich die unterlegene Seite war. Dem globalen Kapitalismus hatte sie über lange Zeit von außen Grenzen gesetzt, die sich auch in dessen Innern auswirkten. Aber gestürzt werden kann dieser nur von innen heraus, wenn die Klassenkräfte dazu herangereift sind.

13.5.2017


  1. Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991, München 1998, S. 883
  2. Helmut Altrichter, Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991, München 2013, S. 15
  3. Wir kennen diese Diskussionen und Verfahrensweisen der kollektiven Führung auch im bürgerlichen Parteienspektrum unter Grünen und Parteilinken.
  4. vgl. Die Sowjetunion in der Nachkriegszeit, Abschnitt Das Problem des Stalinismus, Arbeiterpolitik 5/2017, S. 17
  5. vgl. Die Sowjetunion in der Nachkriegszeit, Abschnitt Wirtschaftspolitik des Übergangs, Arbeiterpolitik 5/2017, S. 19f.
  6. im Folgenden nach: Abel Aganbegyan, The Real State of the Economy, in: Stephen F. Cohen (Hg.), An End to Silence – From Roy Medvedev’s underground magazine »Political Diary«, New York/London 1982, S. 223 – 227
  7. Selbstverlag, oft ein Instrument von Oppositionellen bzw. »Dissidenten«
  8. Natürlich ist das nicht die Arbeitslosigkeit, wie man sie im Kapitalismus kennt, sondern es geht um Beschäftigte, die in ihrem Betrieb den Gegebenheiten nach nicht produktiv eingesetzt, aber auch nicht versetzt oder entlassen werden können und ihren Lohn bekommen müssen.
  9. In den »Weißen Flecken« haben wir diese Konflikte im Zusammenhang mit der Kollektivierung der Landwirtschaft in der frühen Sowjetunion ausführlich dargestellt.
  10. Günther Rosenfeld/Horst Schützler, Kurze Geschichte der Sowjetunion 1917 -1983, Berlin (DDR) 1985, S. 218
  11. Hildermeier, a. a. O., S. 886
  12. vgl. Die Sowjetunion in der Nachkriegszeit, Abschnitt Wirtschaftspolitik des Übergangs, Arbeiterpolitik 5/2017, S. 19f.
  13. vgl. hierzu Kapitalismus in Russland, Arbeiterpolitik Nr. 4/2016, S. 15 – 22

aus Arbeiterpolitik Nr. 1 / 2018

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