Sie dachten, sie wären an der Macht, aber sie sind nur an der Regierung…

Dokumentiert

Zur Innenpolitik von Rot-Grün
aus: Arbeiterpolitik, Nr. 4, November 1999

Nur wenige Monate nach der Bundestagswahl scheinen die Verhältnisse auf den Kopf gestellt zu sein: Lob und Anerkennung der Regierungspläne durch die Vertreter der Banken, der Industrie, des Mittelstandes. Die deutschen Unternehmer im Schulterschluß mit der sozialdemokratisch-grünen Regierung warnen die Unionsparteien vor sozialem Populismus und fordern sie auf, den Sparhaushalt von Eichel und die Rentenpläne Riesters zu unterstützen. …Besser als jedes Lehrbuch des Marxismus es vermag, haben die Ereignisse der letzten Monate die wirklichen Machtverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft aufgezeigt.

…16 Jahre nach dem Scheitern der Regierung Schmidt gibt es in der SPD keinen nennenswerten Widerstand gegen den Kurs von Kanzler Schröder. Die Sozialpolitiker sind an den Rand gedrängt, ihre Forderung, »die SPD müsse ihr soziales Gesicht wahren«, wird ein frommer Wunsch bleiben. Die sozialdemokratische Linke ist zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschmolzen. Sie verfügt weder über eine politische Strategie noch wagt sie es, ihre Kritik am Regierungskurs in die Praxis umzusetzen. Bei den entscheidenden Abstimmungen beugt sie sich der Parteiräson.

…Was in den 60er und 70er Jahren noch als selbstverständliches Instrument staatlicher Wirtschaftspolitik galt, wird heute als sozialistisches Marterwerkzeug gebrandmarkt. Wo die herrschende Klasse offener und rücksichtsloser auftreten kann, da ist die politische und ideologische Vernebelung in der alten Form nicht mehr nötig. Nach dem Fall der Mauer konnte die Modernisierung der SPD in rasantem Tempo vorangetrieben werden. Sozialdemokratische Vorstellungen und Forderungen wurden nach und nach über Bord geworfen, praktisch alles, was bei der Anpassung an die kapitalistischen Notwendigkeiten im Wege stand. Der Markt und die Herstellung der bestmöglichen Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Wirtschaft wurden zur heiligen Kuh erklärt, der sich alle staatlichen Handlungen unterzuordnen haben. …Die SPD hat sich politisch den Ideologen des »Neoliberalismus« in der Union soweit angenähert, daß die Unterschiede zwischen den beiden Volksparteien kaum noch auszumachen sind.

…Die rot-grüne Regierung versucht, auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik den Konsens mit den Unionsparteien und der FDP herzustellen. In den kommenden Jahren werden die wesentlichen Entscheidungen in einer unausgesprochenen, großen Koalition fallen, in der nur die PDS noch keinen Platz hat. Die SPD hat die Aufgabe übernommen, an der die CDU-FDP-Koalition zuletzt gescheitert war: die Einbindung der Gewerkschaften und der arbeitenden Bevölkerung durch das »Bündnis für Arbeit« in die große Koalition der staatstragenden Parteien und der Unternehmerverbände.

…Auch in und zwischen den Gewerkschaften wachsen die Widersprüche, werden die Fronten klarer. Viele, die trotz aller Kritik noch den politischen Vertreter der Gewerkschaften in der SPD gesehen haben, sind maßlos enttäuscht und desillusioniert. Innerhalb der zersplitterten Gewerkschaftslinken haben auf örtlicher und bundesweiter Ebene die ersten Treffen stattgefunden, auf denen über eine gemeinsame politische Grundlage gegen den Anpassungskurs diskutiert wurde. Die Frage, wollen wir zulassen, daß die Gewerkschaften auch in Zukunft als Anhängsel der Regierungspolitik sich den Interessen der Unternehmer beugen und wie die Lemminge der Sozialdemokratie in die Selbstaufgabe folgen, oder nehmen wir die politische Auseinandersetzung in und außerhalb der Gewerkschaften auf?


aus Arbeiterpolitik Nr. 1 / 2018

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