Was bleibt?

Die Oktoberrevolution war ein herausragendes Ereignis der Weltgeschichte; sie hatte der Befreiung der Arbeiterklasse und damit der Emanzipation der Menschheit vom Kapitalismus ein breites Tor geöffnet. Die weitere Entwicklung führte zu großen welthistorischen Durchbrüchen (sozialistische Umgestaltung im Osten, staatliche Sozialpolitik im Westen, antikoloniale Befreiungsbewegungen, Antifaschismus, Verteidigung und Ausbau demokratischer Rechte). Doch wir mussten als Zeitgenossen die globale Wende erleben. Mit dem Untergang der bisherigen sozialistischen Gesellschaften (Sowjetunion und Osteuropa) bzw. ihrer Transformation in regulierte kapitalistische Verhältnisse (China und Ostasien) scheint der 1917 begonnene Revolutionszyklus an sein Ende angelangt zu sein. Was bleibt uns aus heutiger Sicht zu sagen? Sind diese Resultate durch die Zeitenwende um 1990 wieder vollständig zurückgerollt?

Die internationale Lage

Wir befinden uns nicht in einem Zustand der Welt vor 1914. Schauen wir uns die Beschreibung Thalheimers der internationalen Lage bei Kriegsende 1945 noch einmal an (vgl. Arbeiterpolitik 3/2017, S. 28): 1. das relativ einheitliche Lager der imperialistischen Siegermächte unter der Vormachtstellung der USA, 2. das von der Sowjetunion geführte sozialistische Lager, 3. die Halb- und Vollkolonien als »(wenn auch rebellische) Unterwelt der Weltpolitik«. In allen drei Gruppierungen haben wir seitdem durchgreifende Entwicklungen erlebt.

Der sozialistische Block ist als solcher untergegangen, die Arbeiterbewegung und die antikapitalistische Linke haben einen schweren Rückschlag erlitten, von dem sie sich bisher noch nicht erholt haben. Das allein spricht scheinbar für eine Revision historischer Resultate. Aber das wäre zu kurz gesprungen.

Der imperialistische Verband (NATO- und EU-Staaten, Japan, Australien etc.) befindet sich ebenfalls soweit in fortschreitender Desorganisation, dass interne Widersprüche sichtbarer werden. Hierzu gehören Klassenwidersprüche, auf die die Existenz des sozialistischen Lagers über Jahrzehnte prägenden Einfluss hatte. Im Windschatten der Blockkonfrontation hat sich die westeuropäische Arbeiterklasse einen relativen Wohlstand und eine sozialstaatliche Absicherung ihrer Lebenslage erkämpft, die historisch beispiellos sind. Auch wenn dies seit einem Vierteljahrhundert in Frage gestellt wird, sind die damit erworbenen Ansprüche nicht vom Tisch. Sie werden weiterhin geltend gemacht. Die Formen und die Zielrichtung sind umkämpft. Teile der Arbeiterklasse tendieren aufgrund ihrer subjektiven Verarbeitung von Erfahrungen dazu, es mit dem Rechtspopulismus zu versuchen. Die Aufgabe von klassenbewussten Linken ist es, in diesem Dilemma nicht aufzustecken, sondern weiter den emanzipativen Ausweg zu suchen.

Auch das dritte Lager hat sich stark verändert. Die Staaten wurden formal und real unabhängig, mussten und konnten sich in einer bipolaren – kapitalistischen oder sozialistischen – Welt entscheiden. Die Existenz der Sowjetunion hat diese Wahl über Jahrzehnte möglich gemacht. Aber auch ihr Verschwinden stellte nicht den Kolonialismus – weder offen noch versteckt – wieder her, sondern hinterließ eine bunt gegliederte Staatenwelt, in der an dem einen Pol große Schwellenländer herausragen, die die Richtung internationaler Politik mitbestimmen, am anderen Ende gleichwohl Verlierer als »gescheiterte Staaten« stehen.

Erbe der sowjetischen Geschichte

Die Sowjetunion war der erste sozialistische Staat der Welt. In der Auseinandersetzung mit dem imperialistischen Block war sie der prinzipiell fortschrittliche Faktor in der Weltpolitik. Vom sowjetisch geführten Sozialismus bleibt bei allen historischen Mängeln weit mehr als eine erfolgreiche »Entwicklungsdiktatur«, nämlich eine beispiellose zivilisatorische Aufbauleistung für die Menschen in ihrem Einflussbereich und indirekt auch im kapitalistisch gebliebenen Teil der Welt. Es war der erste Versuch der Menschheit, im großen Rahmen den Weg aus dem Kapitalismus heraus zu finden1. Es kommt darauf an, aus dem Gang der Geschichte und den Verhältnissen der Gegenwart die richtigen Schlüsse für die antikapitalistischen Strategien unserer Zeit zu ziehen.

War die SU sozialistisch? Wir haben dazu die in den Diskussionen der KPO aufgestellten Kriterien herangezogen in der Fassung, die ihnen Thalheimer in »Die Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion« gegeben hat: 1. Planwirtschaft, 2. Bedarfsdeckungswirtschaft, 3. Tendenz zur Hebung des allgemeinen Lebensstandards, 4. Aufhebung der Kapitalistenklasse, gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln. Wir haben betont, dass dies nur »Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft« bzw. »Anfänge von Sozialismus« sind. Es sind strukturelle, ökonomische Merkmale von Vergesellschaftung. Dagegen müssen wir feststellen, dass die politischen Bedingungen fehlten: Die Macht lag nach der Durchsetzung und Festigung der sozialistischen Grundlagen nicht bei den Werktätigen, es gab keine freie Selbstorganisation außerhalb der herrschenden Partei, keine innerparteiliche und gesellschaftliche Demokratie. Somit ist festzustellen: Der ökonomischen entsprach keine politische Vergesellschaftung.

Diesen Widerspruch analysierte Thalheimer in einer weiteren wichtigen Broschüre: »Über die Revolution der Kunst und die Kunst der Revolution«, in der er den Schwerpunkt der Analyse auf die Gefahren legte, die dem Sozialismus in seiner damaligen Verfassung drohten. Dazu versicherte er: »Wir kritisieren hier nicht, wir stellen fest und erklären.« Mit anderen Worten: Es geht tatsächlich nicht nur um »materielle Schwierigkeiten«, sondern auch um die Problematisierung politischer Entscheidungen, die zum Zeitpunkt, als sie gefällt wurden, den Umständen nach richtig waren, aber gleichzeitig negative Konsequenzen für die Zukunft enthalten konnten. Dies muss in der Rückschau, in den Nachwirkungen als Problem gesehen und diskutiert werden. Es betrifft die politische Haltung, in der in Gegenwart und Zukunft von uns Entscheidungen zu treffen sind.

Resümierend können wir dennoch festhalten: Von den Grundlagen her war die Sowjetunion eindeutig sozialistisch – auch »Anfang von Sozialismus« ist Sozialismus. Es handelte sich um eine Kombination von öffentlichem Eigentum, unzureichender technisch-materieller Basis und hinter den gesellschaftlichen Errungenschaften zurückgebliebenem politischen Bewusstsein der Arbeiterklasse. Das Wissen um die Erfolge und Fortschritte der ersten sozialistischen Übergangsgesellschaft bleibt ebenso im historischen Gedächtnis der Menschheit wie die Erfahrung ihrer Grenzen und Niederlagen.

Zukunft des Sozialismus

Zwei Lehren sind mindestens aus der Geschichte des sowjetischen Sozialismus zu ziehen:

a) Sozialismus kann nur dann dauerhaft verteidigt werden, wenn die überwältigende Mehrheit der Arbeiterklasse ihn will. Das ist eine alte Lehre: Schon im Gründungsprogramm der KPD hieß es, dass »(d)er Spartakusbund … nie anders die Regierungsgewalt übernehmen (wird) als durch den klaren und unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse …«. Das kann auch für die Zeit des Aufbaus, der Verwirklichung und der Verteidigung des Sozialismus nicht anders sein. Mit anderen Worten: Sozialismus und Demokratie bedingen einander. Dies war schon immer die Voraussetzung. Angesichts der historischen Zwangslagen der Sowjetunion soll jedoch keineswegs behauptet werden, dass der Weg der Bolschewiki »falsch«, »voluntaristisch« etc. gewesen sei. Aber er stellt eine historische Periode mit entsprechenden Besonderheiten da, die nicht verallgemeinert werden dürfen.

b) Sozialismus kann ebenso nur dann dauerhaft verteidigt werden, wenn ihm kein materiell überlegener Imperialismus hochentwickelter kapitalistischer Staaten gegenüber steht. In diesen selbst muss der Übergang zum Sozialismus gelingen. Was das beim gegenwärtigen Stand des Klassenbewusstseins und der Klassenauseinandersetzungen bedeutet, welcher ökonomische, soziale, politische, moralische Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise stattgefunden haben muss, wie die Herausbildung einer entschlossenen politischen Führung des Proletariats sich vollzogen haben muss, um dann den erneuten Anlauf zur Revolution zu schaffen – über all das zu spekulieren, ist unter den gegenwärtigen Umständen müßig.

Geschichte kennt niemals ein Ende. Seit Beginn der kapitalistischen Entwicklung gibt es das Auf und Ab von »kapitalistischer Akkumulation und Krisen, imperialistischer Expansion und Kämpfen um politische Befreiung und sozialen Fortschritt«2. Auch heute ist es keineswegs so, dass es keine Klassenkämpfe, politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, sozialen Bewegungen gäbe. Zwar fehlt es derzeit an der Verdichtung dieser Kämpfe zu einem sozialistischen Aufbruch. Aber es besteht immer Hoffnung und Notwendigkeit, den Kampf um die Emanzipation der Menschheit fortzuführen.

Doch die Entwicklung braucht ihre Zeit: »Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind« (Karl Marx, Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie). Die Oktoberrevolution als Auftakt eines weltweiten Übergangs zum Sozialismus mag im Nachhinein »verfrüht« erscheinen, um dieses große Ziel im ersten Anlauf zu erreichen. Ihre Rolle als »Lokomotive der Geschichte« hat sie aber in vieler Hinsicht erfüllt, bis hin zur Niederkämpfung der Reaktion und des Faschismus, solange die Sowjetunion dazu in der Lage war. Erstaunlich ist nicht, dass der Sozialismus in dieser historischen Situation der Unterlegenheit an materiellen Ressourcen verloren hat, sondern vielmehr, dass er siebzig Jahre standgehalten und durchgreifende soziale Veränderungen weltweit bewirkt hat. Daran ist anzuknüpfen, ohne die Geschichte simpel wiederholen zu wollen. »Sind wir also einmal geschlagen, so haben wir nichts anderes zu tun, als wieder von vorn anzufangen« (Friedrich Engels).

Zur Problematik der Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland

Mit unserer kleinen Artikelserie von 2017/2018 haben wir auf früheren Arbeiten aufgebaut, nämlich der Artikelserie von 1988 bis 1990 (und Broschüre) »Weiße Flecken«, in der wir die Zeit von 1921 (NEP-Periode) bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs dargestellt hatten (vgl. Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2017, S. 22). Mit den »Weißen Flecken« beteiligten wir uns seinerzeit an einer politischen Debatte, in der es um die Position zur damaligen Sowjetunion ging, die sich in der Auseinandersetzung um einen grundlegend neuen Kurs der sozialistischen Entwicklung befand (welcher dann jedoch – entgegen ursprünglichen Absichten – in einen Existenzkampf mündete).

In den neuen Beiträgen geht es um die Weiterentwicklung unter einer neuen Fragestellung, die den veränderten Verhältnissen angemessen ist: Warum hat die russische Arbeiterklasse den Sozialismus nicht verteidigt, und wo steht sie heute? Als Beiträge der neuen Reihe sind folgende zu verstehen:

  • Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg (Arbeiterpolitik 3+4/2017),
  • Sozialismus als Weltsystem im »Kalten Krieg«, Aufgabe der »Entstalinisierung« (Arbeiterpolitik 5/2017),
  • Die Sowjetunion in der Breschnew-Zeit (Arbeiterpolitik 1/2018).

Im chronologischen Zeitablauf schließt sich daran der Artikel »Kapitalismus in Russland« aus Arbeiterpolitik 4/20163an. Eine historische Analyse der letzten Jahrzehnte der sowjetischen Geschichte ist für das Verständnis der Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland nur ein Weg, aber grundlegend, weil sie die Vorgeschichte des heutigen – kapitalistischen – Russlands darstellt. Für eine differenziertere Vorstellung von der Gegenwart der russischen Arbeiterklasse sind natürlich noch weitere, umfassendere Kenntnisse und Arbeiten erforderlich.


  1. Im Gegensatz zu einer Aussage in einem Diskussionsbeitrag in Arpo 5/2017, S. 23 stellen wir noch einmal ausdrücklich klar: Für Lenin und die Bolschewiki hatte die Revolution in Russland ihren Sinn als Auftakt zur Weltrevolution.
  2. vgl. hierzu Ingo Schmidt, »Das Kapital« im historischen Kontext lesen, in: ders. (Hrsg.), Das Kapital @ 150 – Russische Revolution @ 100, Hamburg, 2017, S. 52
  3. vgl. hierzu den Abschnitt: Warum hat die russische Arbeiterklasse den Sozialismus nicht verteidigt, und wo steht sie heute?, S. 21f.

aus Arbeiterpolitik Nr. 1 / 2018

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*