Mit dem Untergang der Sowjetunion 1989 zerfiel zugleich das sozialistische Lager. Dass auch dessen weltpolitischer Gegner, das kapitalistische Lager unter Führung der USA, zerbrechlich werden würde, konnte sich damals kaum jemand vorstellen. Nun ist dies unübersehbar der Fall.
Im Nachhinein gesehen gab es erste Anzeichen schon 1990 im ersten Irak-Krieg, als beispielsweise die deutsche Regierung eine direkte militärische Beteiligung verweigerte und stattdessen mit Milliardenbeträgen die US-Regierung unterstützte (oder sich frei kaufte). Den zweiten Irak- Krieg 2003 führten die USA nur noch mit einer »Koalition der Willigen«; den Krieg gegen Libyen 2011 führten die USA unter Präsident Obama dann »aus der zweiten Reihe« (in der »ersten Reihe« Frankreich, England und Italien). In keinem dieser Kriege stand das Nato-Bündnis politisch und militärisch geschlossen gegen den Gegner, wie es 1999 beim Jugoslawien-Krieg der Fall war.
Die weltpolitische Schwächung der Position der USA durch den wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Chinas ist sicherlich ein wichtiger Punkt für die Hinwendung der herrschenden Klassen der USA zu einer stärker unilateral orientierten Politik. Die verbündeten westlichen Industrieländer – genauer gesagt: deren mächtige Industrie-, Handels- und Finanzkapitalisten – hatten die Weltkonjunktur, die wesentlich vom Aufstieg Chinas geprägt war, für ihre Profite genutzt. Die Lasten für die militärische Präsenz lagen aber nach wie vor überwiegend bei ihrem US- Verbündeten.
Der Fall des Eisernen Vorhangs nützte wirtschaftlich vor allem den westeuropäischen Industriestaaten, allen voran der Bundesrepublik mit ihren starken Exportpositionen bei Chemie, Automobil und Maschinenbau. Zwei weltweite Finanz- und Wirtschaftskrisen (1998 – Zusammenbruch von wichtigen Hedgefonds – und 2009 – »Subprimekrise«), die ihren Ausgang von den Finanzmärkten der USA nahmen und die die Finanzinstitutionen Chinas kaum berührten, erschütterten den Welthandel, ohne indes den langen Aufschwung der Weltkonjunktur anhaltend zu gefährden. Neben dem Auftreten neuer, sich entwickelnder Märkte mit allerdings unterschiedlicher Nachhaltigkeit (BRICS), war es auch die Einführung der digitalen Technologien, die riesige Investitionen in allen Wirtschaftsbereichen erzwang und eine eigene Sonderkonjunktur erschuf.
Wenn heute die Welt aus der Sicht des westeuropäischen Zeitungslesers krisenhafter als je erscheint, wenn die 44-jährige Epoche der Blockkonfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg als relativ stabil und friedlich wahrgenommen wird, dann liegt es daran, dass heute die internationale Konkurrenz der Staaten und Unternehmen untereinander rapide zugenommen hat. Zugleich haben die Modernisierung der Produktionsmittel (Automation, Digitalisierung) und die Rationalisierung in Produktion (Lean Production, Just-in-Time Logistik) und Verwaltung die Qualifikationsanforderungen für viele Stellen verändert. Facharbeiter, Ingenieure und Techniker profitierten von diesem Wandel, ungelernte und angelernte Lohnabhängige sind in der Regel die Verlierer, weil ihre Tätigkeiten entweder wegfallen oder von Maschinen übernommen werden.
Die Verschärfung des weltweiten Konkurrenzkampfes, die Öffnung (fast) aller Märkte auf der Welt für das große Kapital, das auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten für seine riesigen Profite ist, ist nicht auf die Industrie beschränkt, sondern haben längst alle Wirtschaftsbereiche erfasst und spiegeln sich weltweit selbst in den Einkaufsstraßen mittlerer und kleiner Städte wider, in denen es immer weniger inhabergeführte Geschäfte gibt, sondern nurmehr Filialen großer Handelskonzerne.
In der Folge der Nachkriegskonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich auch die soziale Struktur in den Industriestaaten verändert. Aus Multimillionären – den seinerzeit Reichsten der Reichen – wurden Multimilliardäre, Eigentümerfamilien, die statistisch etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber über fünfzig Prozent des Eigentums besitzen. Eine neue Mittelschicht aus in der Regel akademisch gebildeten Lohnabhängigen und Selbständigen und qualifiziertem Fachpersonal entstand; dafür verschwand eine alte Mittelschicht aus Kleingewerbetreibenden und kleinen Unternehmern fast spurlos. Sodann ein breites Segment von Lohnabhängigen in Industrie, Handwerk und Handel, vor allem aber im Dienstleistungsbereich hauptsächlich durch Ausgliederung von Tätigkeiten aus den klassischen Industriezweigen und Gewerben zu spezialisierten Dienstleistern in der Logistik, im sogenannten Immobilienmanagement, in der Leiharbeit u. a. Am unteren Ende der sozialen Hierarchie dann die unständig Beschäftigten, die ungelernten und angelernten Lohnabhängigen und die Erwerbslosen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der tarifgebundenen Beschäftigten weiter ab (von 1996 bis 2017 im Westdeutschland von 70 auf 49 Prozent und in den östlichen Ländern von 56 auf 34 Prozent; IAB nach FAZ v. 25. 5. 2018). Außerdem nimmt die Zahl der Mitglieder unter dem Dach des DGB unverändert ab, 2017 auf knapp unter 6 Millionen – trotz steigender Beschäftigtenzahlen.
Die politischen Parteien spiegeln die gesellschaftlichen Strukturveränderungen wider, am deutlichsten wohl die sozialdemokratischen Parteien. In den Industrieländern Westeuropas waren sie lange Zeit die Parteien des industriellen Proletariats, bis sie nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend zu den Parteien der sozial aufgestiegenen Teile des Proletariats wurden und ihren breiten Anhang in der Arbeiterschaft verloren. In Deutschland, wo das Verhältniswahlrecht gilt, führte dies zuerst zu abnehmender Wahlbeteiligung früherer Wählerschichten der SPD und schließlich zur Gründung der Linkspartei als zweiter sozialdemokratischer Partei. In vielen europäischen Staaten ist die Sozialdemokratie in die Krise geraten. In einem Land mit Mehrheitswahlrecht, in England, wo kleinere Parteien in der Regel keinen oder wenig Einfluss auf die Regierungsbildung haben, bewirkte diese Spaltung innerhalb der lohnabhängigen Klassen eine Spaltung innerhalb der Labour Party.
Der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers – und das heißt gleichzeitig: der Sieg des Kapitalismus – hat sicherlich sehr dazu beigetragen, die Perspektive einer sozialistischen Alternative in den lohnabhängigen Klassen aller Länder zu verdrängen. Stattdessen erleben wir auch in den industrialisierten Staaten Europas die Hinwendung von Teilen der lohnabhängigen Klassen zu reaktionären gesellschaftlichen Lösungswegen für ihre sozialen Probleme: Die Ausgrenzung von anderen Teilen der eigenen Klasse, die Neudefinition von nationaler Zugehörigkeit und damit den Ansprüchen auf soziale Leistungen – insgesamt eine Selbstwahrnehmung in der Opferrolle und eine Betonung der Konkurrenz gegen alles Fremde oder fremd Wahrgenommene. Das ist der Boden, aus dem ununterbrochen neue nationalistische und auch nationalliberale Triebe sprießen. Das Beispiel des Brexit zeigt, dass auch die herrschenden Klassen von diesen Stimmungen überrascht werden konnten und jetzt nur unter großen Anstrengungen versuchen können, die negativen wirtschaftlichen und politischen Folgen des Referendumsergebnisses abzumildern (und am liebsten ungeschehen zu machen).
Der Sieg des Kapitalismus hat die Welt nicht sicherer gemacht, die Kriegsgefahr nicht geringer und die Lebensbedingungen von großen Teilen der lohnabhängigen Klassen auch in den entwickelten Ländern nicht besser.
16.06.2018
Hinterlasse jetzt einen Kommentar