Gipfel der Grundrechtsverletzungen

Dokumentiert: Referat Gabriele Heinicke

Es gab viele Gründe, gegen die G20 und ihren Gipfel auf die Straße zu gehen. Die 20 »wichtigsten Industrie- und Schwellenländer« dieser Erde tragen Verantwortung für Hunger und Krankheit, für die Zerstörung der Umwelt, der Infrastrukturen vieler Länder und (Bürger-) Kriege. Die Intervention der reichen Länder führt in den ärmeren zu Krisen und Massenflucht. Der Reichtum Weniger und die Armut Vieler sind zwei Seiten einer Medaille. In der Woche des Gipfels haben mehr als 100.000 Menschen in Hamburg gegen diese Politik protestiert.

Nach der Ankündigung des Innensenators Andy Grote im Mai 2017 sollte der Gipfel ein »Festival der Demokratie« werden. Regierungschefs mit problematischem Demokratieverständnis sollte gezeigt werden, wie eine lebendige, demokratische, weltoffene Stadt mit »moderner Polizeiarbeit« funktioniert. Eigens für die Großen Zwanzig wurde in der Elbphilharmonie »Freude schöner Götterfunken« aufgeführt. Beethovens Neunte – auch für Diktatoren. Der Text der Sinfonie ist Schillers Gedicht »An die Freude«. Für heutige Verhältnisse ganz aktuell beginnt die siebente Strophe mit: »Unser Schuldbuch sei vernichtet, ausgesöhnt die ganze Welt.« Davon konnte in Hamburg keine Rede sein. Auch das »Festival der Demokratie« fiel aus.

Provozierte Eskalation

Der G20-Gipfel veränderte Hamburg schon im Vorfeld. Die Polizei übernahm die Stadt mit über 20.000 Polizisten und Bundespolizisten, über 3.000 Einsatzfahrzeugen, Räumpanzern, Wasserwerfern, Hubschraubergeschwadern, 62 Booten, 153 Polizeihunden, der »größten Ballung von Dienstpferden deutschlandweit«, deutschen und österreichischen Sondereinsatzkommandos. Die Schanze glich schon vor Beginn des Gipfels einem besetzen Areal. Die Gesamteinsatzleitung hatte der von »Richter Gnadenlos« (Ronald Schill) im Jahre 2001 als »harter Hund« zum Leiter der Bereitschaftspolizei erkorene Hartmut Dudde. Sein Vorgehen ist berüchtigt. Seine Einsätze sind mehrfach von Verwaltungsgerichten als rechtswidrig beurteilt worden.

Die örtliche Politik hielt sich im Hintergrund.

Entgegen den vorherigen Freiheitsversprechungen des Innensenators erging am 1. Juni 2017 eine Allgemeinverfügung der Polizei. Für die Zeit des Gipfels wurde auf einer Fläche zwischen Hafen und Flughafen in einem Stadtgebiet von 38 Quadratkilometern jede Versammlung und Demonstration verboten. Nicht mehr die Verheißungen der Demokratie, sondern ihre Gefahren wurden den Protestwilligen vorgehalten. Gewarnt wurde wahlweise vor spontanen Sitzblockaden – sie könnten das Leben kosten, weil die Karossen der ausländischen Gäste auf Blockierer keine Rücksicht nehmen könnten – und »militanten« Autonomen bzw. Linksextremisten. Deren von der Polizei öffentlich erwartete Zahl wuchs stetig. Von 4.000 potenziellen Gewalttätern war im Mai die Rede. Ende Juni erwartete die Polizei 8.000, einige Tage vor dem Gipfel 10.000 Menschen aus dem Spektrum eines »Schwarzen Blocks«, mit dessen Definition man sich nicht aufhielt.

Wie aus einer entfernten anderen Welt klingen die Worte des Bundesverfassungsgerichts der 1980er Jahre, in denen das Versammlungsrecht als Möglichkeit der freien, offenen, unreglementierten Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung charakterisiert wird, die sich grundsätzlich staatsfrei vollziehen können muss. Die Respektierung der Versammlungsfreiheit als ein Stück »ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, weil sie als ein »politisches Frühwarnsystem« notwendig ist, »Kurskorrekturen der offiziellen Politik« möglich zu machen (»Brokdorf-Beschluss« 1985). Nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz sind alle Gerichte und Behörden an diese Entscheidung gebunden. Kann es diese Freiheit geben, wenn man bei jedem zweiten Schritt über einen Polizeistiefel stolpert? Wenn polizeiliche Beobachtungs- und Dokumentationstrupps alle 50 Meter die Szenerie aufnehmen, ist das noch Demokratie?

Das Versammlungsgesetz verbietet in § 17a bei öffentlichen Versammlungen eine »Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern.« Darunter versteht die Polizei die Bedeckung des Gesichts, die »Vermummung«. Folgt man den Worten des Bundesverfassungsgericht im »Volkszählungsurteil« von 1983 handelt es sich dabei eher um eine Notmaßnahme zur Durchsetzung demokratischer Freiheiten: denn wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung der Grundrechte verzichten. Das beeinträchtigt nicht nur die individuellen Entfaltungschancen, »sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.«

In Hamburg galt anlässlich G 20 die Linie, dass eine Versammlung, in der Vermummte seien, nicht losgeht. Dudde hat anderes gelernt. Unter der Überschrift »Eine harte Linie gebiert Eskalation« schrieb Prof. Alberts am 9. Juli 2017 einen Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung: man müsse anmerken, vielleicht vorwerfen, dass die Positionen und Handlungen der polizeilichen Entscheidungsträger nicht dem Erkenntnisstand der Polizei-Wissenschaft entsprochen hätten. Jahrelang hätte man an der Hochschule der Polizei in Münster Versammlungsszenarien durchgespielt und immer wieder festgestellt, dass die harte Linie zur Eskalation führt. Er habe die Hamburger Polizeiführung 20 Jahre im Verfassungsrecht und im Versammlungsgrundrecht ausgebildet. Auch Dudde sei dabei gewesen. Doch leitende Polizeibeamte seien ergebnisorientiert und setzten sich vorsätzlich über Grundrechtspositionen hinweg.

Der Professor hat recht. Der Gesamteinsatzleiter hat mit seiner Polizeiarmee die Eskalation heraufbeschworen, hat provoziert, hat friedliche Demonstrationen aufstoppen und ihr Gesicht gegen die Polizei verdeckende Teilnehmende gewaltsam aus dem Aufzug zerren lassen. Auf der Halbinsel des Freizeitgebiets Entenwerder hat er den friedlichen und vom Hamburgischen Verwaltungsgericht bestätigten Aufbau des »Antikapitalistischen Camps« mit Knüppeleinsatz und Pfefferspray grob rechtswidrig unterbunden. Polizeibeamte in Kampfmontur und mit gezogenem Knüppel machten Jagd auf jedes kleine Igluzelt, das in Hamburg auf ein Stück Grün gesetzt wurde. Unverhältnismäßig, polizeistaatsmäßig, undemokratisch.

Willkommen in der Hölle

Es ist der 6. Juli 2017, ein Tag vor Beginn des Gipfels. Am Fischmarkt finden sich viele tausend junge Menschen zu einer Demonstration mit dem Motto »Welcome to Hell« ein, manche tragen schwarz, das ist hip, aber viele auch bunt. Es gibt ein paar große silberne Blockadewürfel, die durch die Luft hin- und her geschubst werden. Die angemeldete Route führt zu den Messehallen, unmittelbar zum G 20-Gipfel. Es gibt keine Auflagen. Von der Versammlungsbehörde wurde alles bestätigt wie angemeldet. Doch der Fischmarkt und die St. Pauli Hafenstraße, auf der es zu den Landungsbrücken gehen soll, ist von Einsatzhundertschaften der Polizei in schwerer Schutzkleidung gespickt. Sie säumen in doppelter Reihe stehend die Ränder der Demonstration. Dokumentationstrupps der Polizei videografieren die Menge von über 10.000 Menschen. Einen Anlass dazu gibt es nicht.

Alle wissen, dass diese Demonstration nicht weit kommen wird. Unmittelbar vor Beginn der Demonstration präsentierte Kriminaldirektor Jan Hieber ein kleines Waffenarsenal und eine Streugutkiste als angeblichen Beweis für aus Berlin anreisende Gewalttäter. Kein Mensch weiß, was diese von der Polizei der Presse präsentierten »Funde« mit der in Hamburg stattfindenden Demonstration zu tun haben könnten. Doch Polizeipräsident Meyer erklärt, Mittel dieser Art würden von den Autonomen bei der Demonstration »Welcome to Hell« zum Einsatz kommen. Er sagt: »Wir müssen davon ausgehen, dass Polizisten bei diesem Einsatz brennen werden.« Polizeisprecher Timo Zill springt ihm mit den Worten bei: »Diese Autonomen haben deutlich gemacht, dass sie z.T. schwerste Straftaten begehen wollen.« Die Anmelder der Demonstration betonen ihr friedliches Anliegen über Lautsprecher. Die Demonstration setzt sich in Bewegung, es gibt »Vermummte«. Die Polizei fordert auf, die Vermummung abzulegen. Die Veranstalter gehen durch die Reihen, reden mit den Demonstranten. Tücher werden abgelegt, nicht alle, aber viele. Kaum ist die Demonstration etwa 100 Meter gelaufen, stellen sich drei Wasserwerfer in den Weg. Es ist eine Provokation, es ist eine Falle. Die Demonstration ist eingeklemmt. Vorne Wasserwerfer und Polizei, rechts und links Polizei, außerdem der Elbhang bzw. der Elbdeich, hinten Polizei. Das Ganze sieht aus wie ein großer Gefangenentransport. Die Menge bleibt friedlich. Plötzlich ein Angriff der Polizei in die Menge. Getroffen werden viele, von Knüppeln, von Reizgas, von der Wucht des Wasserwerfers. Es entsteht Panik, viele wollen weg. Es gibt Verletzte. Willkommen in der Hölle. Jetzt fliegen Flaschen, Böller, Feuerwerk. Die Veranstalter lösen die Demonstration auf. Die Polizei behauptet später, sie seien angegriffen worden. Es ist eine Lüge.

Am 7. Juli 2017 sind immer wieder ähnliche Szenen zu sehen. An verschiedenen Orten der Stadt versammeln sich tausende von Menschen friedlich. Ohne Abwägung, ohne Respektierung der Freiheitsrechte wurden diese Versammlungen als verboten angesehen und von der Polizei aufgelöst. Schon früh am Morgen marschierte in Altona eine Gruppe von etwa 200 Demonstranten die Straße Rondenbarg in einem Gewerbegebiet entlang. Die erste Reihe trägt ein Transparent »Gegenmacht aufbauen«, eine rote Fahne weht. Für bunte Blockadeaktionen gegen G 20 ist die Demonstration auf dem Weg zu einem Treffpunkt im Hafen. Die Versammlung ist friedlich. Im Rondenbarg wird die Demonstration durch eine Polizeisperre gestoppt. Aus den ersten Reihen werden ein paar Bengalos geworfen, dann ein paar Steine, zwei Böller knallen. Es folgt ein massiver Polizeieinsatz von vorn und Wasserwerfereinsatz von hinten. Es entsteht Panik. Die Demonstrationsteilnehmer rennen auf der einen Seite in eine Böschung, auf der anderen Seite über Geländer auf einen Firmenparkplatz. Das Geländer bricht ab, Flüchtende stürzen auf den tiefer gelegenen Parkplatz. Insgesamt 15 schwer Verletzte müssen nach dem Polizeieinsatz mit dem Rettungstransportwagen ins Krankenhaus transportiert werden. Knapp 60 Personen werden festgenommen und in die Gefangenensammelstelle nach Hamburg-Neuland gebracht.

Am 8. Juli gehen in Hamburg mehr als 70.000 Menschen für »Grenzenlose Solidarität statt G20« auf die Straße. Die Route liegt weitab des Geschehens, weder in Hör- noch in Sichtweite des Treffens der Vertreter/innen der reichsten Länder dieser Erde. Die Präsenz der Polizei ist wieder massiv, die Bilddokumentation penetrant. Kontrolliert auf Schritt und Tritt statt ursprünglich und ungebändigt. Weitab vom Geschehen der Politik statt unmittelbare Konfrontation als politisches Frühwarnsystem.

Neuland

Schlachthofstraße Hamburg-Harburg. Früher war es das Gelände eines Supermarktes, dann einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Zum G20-Gipfel werden die 12.000 Quadratmeter zu einer Gefangenensammelstelle für Gipfelgegner. 150 Einzelzellen à 3 qm, Sammelzellen à 9 qm für insgesamt 250 Menschen. Alles Container. Auf dem Gelände befinden sich auch zwei kleine Container für den Anwaltlichen Notdienst G20. Auf dem Gelände ist eine Außenstelle des Amtsgerichts Hamburg neu eingerichtet, auch das sind Container. 8 Verhandlungsräume, Nach dem Stadtteil heißt es »Amtsgericht Neuland«. Schon der Name erscheint wie ein Omen.

Hunderte wurden während der Tage des Gipfels in die Gefangenensammelstelle verbracht. Oft ist die Vorführung zum Gericht äußerst zögerlich. Viele der Festgenommenen berichten, sie seien an dem Zugang zu einem anwaltlichen Beistand dadurch gehindert worden, dass nicht die Telefonnummer des Anwaltlichen Notdienstes (AND G20 des RAV), sondern das Hamburger Telefonbuch mit über 10.000 Anwältinnen und Anwälten vorgelegt wurde und aufgefordert wurde, sich einen Anwalt herauszusuchen. Bis dahin nach einer körperlichen Totalkontrolle mit Sicht in alle Körperöffnungen eine quälend lange Zeit des Wartens. Schlafen geht nicht, weil alle halbe Stunde ein/e Beamte/r kommt und Lebenszeichen verlangt. Bei vielen erfolgt die Zuführung erst nach 10, 15, 20 Stunden. Es ist die Nacht auf den 8. Juli. Auf dem langen Flur des Amtsgerichts-Neuland stehen Polizeibeamte. Sie tragen Leibchen mit der Aufschrift »Polizei«. Ein/e Gefangene/r nach der/ dem anderen wird vorgeführt. Die Verhandlungssäle haben den Charme einer IKEA-Ausstellung. Es riecht nach frischer Spanplatte. Die Staatsanwaltschaft sitzt mit dem Gericht und der Protokollführerin hinter einer Balustrade. Alle drei tragen ebenfalls Leibchen, blau, Aufschrift »Justiz«. Es ist bizarr, es wirkt uniformiert. Die Verteidigerinnen und Verteidiger des Anwaltlichen Notdienstes tragen rosa, Aufschrift »Legal Team«. Die Staatsanwaltschaft stellt sowohl Haftbefehlsanträge als auch solche auf Ingewahrsamnahme als Störer/in bis zum Ende des Gipfels. Den meisten Haftbefehlsanträgen wird nicht entsprochen, überproportional häufig allerdings bei Menschen aus dem Ausland: »Es besteht Fluchtgefahr. Der Beschuldigte ist italienischer Staatsbürger.« Es ist ein Verstoß gegen das europäische Diskriminierungsverbot. Den meisten Anträgen auf Ingewahrsamnahme wird entsprochen. Dem Gericht reicht es schon, dass jemand am Rondenbarg festgenommen worden ist. Feststellungen darüber, wie und wann die Person da hingekommen ist, ob eine Beteiligung an einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung tatsächlich stattgefunden hat, gibt es nicht. Doch es gibt ein Polizeivideo, das Aufschluss geben könnte und das auf den ersten Seiten der Akten Erwähnung findet. Es wird nicht berücksichtigt, weil es nicht da ist. Die Tiefe der rechtlichen und tatsächlichen Prüfung des Grundrechtseingriffs der Freiheitsentziehung scheint sich nach der Praktikabilität zu richten.

Bürgerkrieg?

Viel ist von bürgerkriegsähnlichen Zuständen geschrieben worden. Die gab es in Hamburg nicht. Im Schanzenviertel haben in der Nacht des 7. Juli keine politisch denkenden Menschen gewütet, sondern die Dummheit. Von der Politik und manchen Gazetten findet ein Missbrauch dieser Vorfälle statt, um einen Teil der G20-Gegner zu diskreditieren.

Was es gab, war eine paramilitärisch auftretende Polizei, die für die Tage des Gipfels im Stadtbild allgegenwärtig, beherrschend war. Was es gab, waren vielfache, massive und rechtswidrige Angriffe der Polizei auf die Grundrechte. Es gab die Demonstration eines totalen Staates im Gewande der Legalität, der den Demonstranten gegenüber nicht als Bürgerinnen und Bürgern, sondern als Feinde aufgetreten ist. Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Es blitzte – um Georg Benz auf dem Kongress »Notstand der Demokratie« im Jahre 1966 zu zitieren – »die Diktatur hinter der Fassade formaler Demokratie« hervor. Diese Entwicklung müssen wir bekämpfen.


aus Arbeiterpolitik Nr. 2/3 2018

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