Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie:
Verpasste Chance


Nachdruck aus der »Arbeiterstimme«, Nr. 199,  Frühjahr 2018


Vorspann

Der nachfolgende Text, den wir aus der Arbeiterstimme Nr. 199 übernehmen, zeichnet die diesjährige Metalltarifrunde auf. Wir teilen die Einschätzungen im Wesentlichen, haben aber Vorbehalte gegenüber der ‚verpassten Chance’, weil damit eine historische Entwicklungsmöglichkeit angesprochen wird, die von den realen Kräfteverhältnissen innerhalb der IGM nicht gedeckt war und ist. Daran ändert auch die 68%-Mehrheit mit dem Wunsch einer generellen Arbeitszeitverkürzung nichts. Gerade die individualisierte Arbeitszeitverkürzungsmöglichkeit ohne Lohnausgleich weist nachdrücklich auf die derzeitigen Grenzen der Aktivierbarkeit hin. Von daher kann nicht von einer ‚verpasste(n) Chance’ gesprochen werden, die Tarifrunde bewegte sich lediglich im üblichen Kompromisskorridor inklusive des unternehmerfreundlichen Entgegenkommens seitens der IGM wie beim Weiterbestehen der 18%-Quote bei 40 Std.-Arbeitsverträgen.


Verpasste Chance

In der diesjährigen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie kam es am 6. Februar zu einem Pilotabschluss in Baden-Württemberg, der inzwischen in allen Tarifgebieten der Metall- und Elektroindustrie übernommen worden ist.

Die Eckpunkte des Abschlusses sind im Wesentlichen:

  • 4,3 Prozent mehr Entgelt ab dem 01.04.2018, 100 Euro für die Monate Januar bis März 2018, ein tarifliches Zusatzgeld in Höhe von 27,5 Prozent eines Monatsentgelts sowie ein Festbetrag von 400 Euro ab 2019.
  • Anspruch auf befristete Reduzierung der Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden für bis zu 24 Monate.
  • Zusätzliche freie Tage für Kindererziehung und Pflege sowie Entlastung bei Schichtarbeit.

Der ausgehandelte Tarifvertrag ist sehr komplex und deshalb teilweise sehr schwer zu bewerten. Der Grund dafür liegt in den vielen Einmalzahlungen, die bis auf die Abschlagszahlung von 100,– Euro für die Monate Januar bis März in die Entgelttabellen eingehen. Da der Tarifvertrag eine Laufzeit von 27 Monaten hat, ist die tatsächliche Tariferhöhung nicht 4,3 Prozent, sondern sie liegt deutlich niedriger. Die tatsächliche prozentuale Erhöhung muss berechnet werden. Das geschieht mit der sogenannten Westrick-Formel. Diese wurde von dem Staatssekretär Westrick Anfang der 60er Jahre für Tarifverträge mit einer Laufzeit von mehr als zwölf Monaten entwickelt. Mit dieser Formel berechnet, kommen verschiedene politische Akteure bei der Bewertung des Tarifabschlusses auf eine tatsächliche Tariferhöhung zwischen 1,9 und 2,8 Prozent. Bei diesen Berechnungen wurde aber übersehen, dass das tarifliche Zusatzgeld (T-ZUG) in Höhe von 27,5 Prozent des Monatsentgelts und der Festbetrag von 400,– Euro ab 2019 ebenfalls tarifliche Leistungen sind und damit tarifdynamisch wirken. Der genaue rechnerische Vergleich der einzelnen Entgeltmonate und Entgeltbestandteile der Jahre 2017, 2018 und 2019 ergibt die tatsächlichen Erhöhungsbeträge. Diese liegen dann für das Jahr 2018 bei knapp vier Prozent und für das Jahr 2019 bei ungefähr 3,5 Prozent. Anzumerken sei noch, dass der tarifliche Festbetrag von 400 Euro die erste Sockelerhöhung in der Metall- und Elektroindustrie seit vielen Jahren ist, was zur Folge hat, dass dies in die Zukunft wirkt und die unteren Entgeltgruppen, wenn auch geringfügig, stärker angehoben werden. Das sieht erst einmal nicht schlecht aus. Und man kann auch davon ausgehen, dass dieses Ergebnis von der Mitgliedschaft akzeptiert wird. Konkret hat eine KollegIn in der Ecklohngruppe 5 durch das tarifliche Zusatzgeld und die Lohnerhöhung ein jährliches Plus von ca. 1300 Euro. Im Jahr 2019 gibt es den Festbetrag von 400 Euro obendrauf.

Angesichts der konjunkturellen Lage der Metall- und Elektroindustrie ist das Entgeltergebnis allerdings nicht so glänzend, wie es seitens der IG Metall dargestellt wird. Die Gewerkschaft hatte einmal zur Erstellung einer Lohnforderung die Formel: Inflationsausgleich plus Produktivitätssteigerung plus Umverteilungsfaktor. Die Inflation liegt zurzeit bei rund zwei Prozent und die Produktivitätssteigerung 2017 bei 3,2 Prozent. Das reale Ergebnis der Tarifrunde liegt also deutlich unter diesen zwei Faktoren. Von einer Umverteilung von Teilen der Profite hin zu den abhängig Beschäftigten kann schon gar nicht die Rede sein. Damit reiht sich das Tarifergebnis ein in die Ergebnisketten der zurückliegenden Jahre. Die Ergebnisse lagen da oft nur gerade über dem Inflationsausgleich.

Die »Zugeständnisse« in der Entgeltfrage waren ein kluger Schachzug der Unternehmer. Damit bremsten sie die IG Metall in der Arbeitszeitfrage aus. Kaum war die Forderung der IG Metall bekannt, tönte es von Gesamtmetall, nur kostenneutrale und flexible Arbeitszeitregelungen wären möglich. Flächendeckende und unkompensierte Arbeitszeitverkürzung passe nicht in die Zeit. Abwanderungen wegen des bereits verbreiteten Fachkräftemangels wären die Folge. Wieder einmal stand der Untergang des Abendlandes vor der Tür. Die Argumentation von Gesamtmetall glich der der Jahre 1984 und 2003, als die IG Metall die 35-Stunden-Woche für die Metall- und Elektroindustrie (2003 in Ostdeutschland) anging. Gesamtmetall zeigte sich in der Arbeitszeitfrage auch ähnlich unnachgiebig wie 1984 in Baden-Württemberg und 2003 in Sachsen. Und es gab bei den Unternehmern auch offensichtlich die Bereitschaft, diese Frage zur Bruchstelle bei den Verhandlungen zu machen. Aber im Gegensatz zu den damaligen Forderungen hatte die Forderung der aktuellen Tarifrunde keinen rein kollektiven Charakter. Bei der Forderung zur Arbeitszeit handelte es sich um individuelle Ansprüche für eine Minderheit der Beschäftigten. Für den kollektiven Teil, also die Entgeltforderung, machte Gesamtmetall ein relativ gutes Angebot, das von der IG Metall akzeptiert werden musste. Damit aber waren die Forderungen zur Arbeitszeit nicht mehr streikfähig. Ein längerer, harter Streik wie der von 1984 kann nur erfolgreich geführt werden, wenn sich die überwiegende Mehrheit der Streikenden mit der Forderung identifiziert und sich einen Nutzen von ihr verspricht. Mit der Solidarität alleine kann keine wochenlange Auseinandersetzung geführt werden. Eigentlich eine Binsenweisheit. Und die IG Metall hat in der Vergangenheit auch immer eine solche Forderungsstruktur entwickelt, wenn es um tarifliche Verbesserungen von Teilen der Mitgliedschaft ging. Das heißt, die Forderung spaltete sich auf in einen kollektiven Teil, der alle Beschäftigten betrifft, und einen strukturellen Teil, der nur für Teile einer Belegschaft wirkt (z.B. Auszubildende).

Und so sieht das Ergebnis, die Arbeitszeit betreffend, dann auch aus. Der IGM-Vorsitzende Jörg Hofmann sieht in dem Abschluss »eine Umkehr bei der Arbeitszeit«. Viel zu lange wäre die Flexibilität ein Privileg der Arbeitgeber gewesen. Jetzt hätten die Beschäftigten erstmals verbindliche Ansprüche, sich für kürzere Arbeitszeiten zu entscheiden. Anzumerken ist, dass die »Entscheidung« für kürzere Arbeitszeiten mit entsprechenden Lohneinbußen verbunden ist, denn einen Lohnausgleich gibt es nicht. Das ist tatsächlich eine Umkehr bei der Arbeitszeit, denn in der Vergangenheit war die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung immer mit dem Lohnausgleich verbunden. Entsprechend ist die Reaktion der Unternehmer. Überschwänglich lobt der Verhandlungsführer der Unternehmer im Südwesten, Stefan Wolf: »Wir haben sehr viel bekommen, nämlich sehr viel Öffnung bei den Arbeitszeiten nach oben«. Hier hält die IG Metall entgegen, dass auch weiterhin die Quote von maximal 18 Prozent der Belegschaft, mit denen Arbeitszeitverträge von 40 Stunden vereinbart werden können, erhalten bleibt. Will der Unternehmer diese Quote überschreiten, kann der Betriebsrat dieser Überschreitung wirksam widersprechen. Allerdings kann das erst geschehen, wenn die Quote um vier Prozent überschritten ist. Widersprüche durch Betriebsräte wird es geben und zwar dort, wo es konsequente Betriebsräte gibt. Aber was geschieht in den Betrieben, wo sich Betriebsräte als »Co-Manger« verstehen? Selbst Jörg Hofmann stellt in einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« fest, »real arbeitet ein großer Teil der Belegschaft selbst in tarifgebundenen Unternehmen deutlich länger [als 35 Stunden/Woche]«. Das kommt zustande, weil nicht wenige Betriebsräte großzügig Überstunden gewähren und Verstöße gegen Arbeitszeitgesetze und Tarifverträge stillschweigend dulden. Und da sollen sie ausgerechnet jetzt dieses neue Instrument zur Verhinderung längerer Arbeitszeiten nutzen?

Nein, dieser Tarifabschluss wird weiter mit dazu beitragen die 35-Stunden-Woche zu unterhöhlen. Dabei ist die Zeit überreif, grundsätzlich die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich in Angriff zu nehmen. Das hat nicht zuletzt die Beschäftigtenumfrage der IG Metall des vergangenen Jahres gezeigt. Daran haben 680 000 Beschäftigte teilgenommen. Eine große Mehrheit von 67,9 Prozent wünschte sich eine kürzere Arbeitszeit und 82,3 Prozent würden die Arbeitszeit zeitweise absenken, um beispielsweise Angehörige zu pflegen oder Kinder zu betreuen, wobei sie dafür einen finanziellen Ausgleich erwarteten. Dieser letztere Teil der Umfrage floss in die Forderung dieser Tarifrunde ein, mit dem jetzt vorliegenden Ergebnis.

Wenn sich eine Mehrheit von fast 68 Prozent der Befragten eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit wünscht, kann das auf die Mitgliedschaft hochgerechnet werden. Die Voraussetzung für die Durchsetzung einer solchen kollektiven Forderung nach genereller Arbeitszeitverkürzung wäre damit besser gewesen, als das 1984 der Fall war. Damals wurde die Forderung für die 35-Stunden-Woche erst während des Arbeitskampfes richtig in der Mitgliedschaft verankert.

Dass in diesem Jahr viel Druck in den »Belegschafts-Kesseln« war, hat sich auch bei der Mobilisierung der MetallerInnen gezeigt. Rund 1,5 Millionen Beschäftigte nahmen an den kurzzeitigen Warnstreikaktionen und den ganztägigen Warnstreiks teil. Alle Warnstreikkundgebungen waren gut besucht und die Stimmung zeigte eine große Kampfbereitschaft. Die Ankündigung ganztägiger Warnstreiks, die in der Streiktaktik der IG Metall neu waren, wurde mit tosendem Beifall beantwortet. Die Voraussetzungen für einen Erzwingungsstreik waren gegeben. Begonnen bei der boomenden Konjunktur, bis zur Stimmung und Mobilisierung der Mitgliedschaft – wenn die Forderung neben dem Entgelt die generelle Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleichausgleich beinhaltet hätte. So gesehen handelt es sich bei dieser Tarifrunde um eine verpasste Chance. Ein Erzwingungsstreik hätte eine große gesellschaftliche Bedeutung gehabt. So hätte die vorhandene gesellschaftliche Lähmung und Rechtsentwicklung nachhaltig beeinflusst werden können. Eine Auseinandersetzung, von der Hunderttausende abhängig Beschäftigte betroffen gewesen wären, hätte manche krude Auffassung in deren Köpfen über die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse zurechtgerückt. Sie hätte den Gegensatz der Interessen von abhängig Beschäftigten und Kapitalisten – kurz den Klassengegensatz – sichtbar gemacht. Doch es kam nicht so. Wie schon gesagt – eine verpasste Chance.

Frühjahr 2018


aus Arbeiterpolitik Nr. 2/3 2018

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