100 Jahre Sozialpartnerschaft und Volksgemeinschaft
BDA und DGB feiern ihre Verbundenheit

In der Bundesrepublik war die Novemberrevolution weitgehend verdrängt und vergessen. Am 9. November standen für die Parteien und die offiziellen Vertreter des Staates zwei andere Ereignisse im Vordergrund. Zum einen gedachten sie der »Reichspogromnacht« von 1938, zum anderen feierten sie den Mauerfall 1989 – die Einverleibung der DDR und die Einführung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse in Osteuropa. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums kam der Bundestag nicht umhin, zugleich auch der Novemberrevolution zu gedenken. SPD und Gewerkschaften erinnerten in zahlreichen Ausstellungen, Veranstaltungen und Diskussionen an dieses Ereignis. Dabei fielen die Wertungen und Urteile durchaus unterschiedlich und kontrovers aus. Für die Führungen von SPD und Gewerkschaften allerdings bot der 9. November die Gelegenheit, ihren Kurs der Kooperation mit dem Unternehmerlager zu rechtfertigen und zu feiern.

Zum 16. Oktober 2018 hatten der Vorsitzende der Arbeitgeberverbände (BDA), Ingo Kramer, und der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann zu einem gemeinsamen Geburtstagsfest geladen. Sie feierten das hundertjährige Jubiläum des am 15. November 1918 geschlossenen Stinnes-Legien-Abkommen. Selbstverständlich darf zu einem solchen Anlass der staatliche Segen nicht fehlen; einer der Festredner war Bundespräsident Steinmeier: »Die Ereignisse überstürzen sich in diesen Tagen in Deutschland. […] Schnell sind die Fronten verhärtet, die Konfliktlinien schroff, Kompromiss und Ausgleich in weiter Ferne. Bereits in ihren ersten Tagen droht die junge Republik in einer Spirale der Gewalt zu versinken. Und dennoch – fast unglaublich – am selben Tag, dem 15. November 1918, geschieht etwas Erstaunliches, völlig Unerwartetes: Die »Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden« , das Stinnes-Legien- Abkommen wird unterzeichnet. […] Welch unglaublichen Mut, welche Selbstüberwindung, wie viel Verantwortungsbewusstsein müssen die Beteiligten aufgebracht haben, um in dieser aufgeheizten Stimmung, vor einem Horizont radikaler Erwartungen den Ausgleich zu suchen und einen Kompromiss zu vereinbaren! […] Der Grundstein der erst später so genannten und viel gelobten Sozialpartnerschaft wurde in revolutionären Zeiten gelegt.«

Steinmeier führte u.a. weiter aus: »Das Abkommen […] war in dieser aufgeheizten Zeit voller Unsicherheit und Ungewissheit, der gemeinsame Versuch von Arbeitgebern und Gewerkschaften, wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten – und natürlich auch das: Der gemeinsame Versuch, eigene Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten zu sichern. Die einen, die Arbeitgeber, erkannten mit etwas Zeitverzug endlich die Gewerkschaften als Vertreter der gesamten Arbeiterschaft an. Sie erklärten sich zu kollektiven Verhandlungen und verbindlichen Abschlüssen bereit. Sicher auch deshalb, weil die Gefahr von Enteignung und Verstaatlichung ganz konkret im Raum stand. Die andere, die gewerkschaftliche Seite, verzichtete darauf, die bestehenden Besitzverhältnisse aufzuheben und auf die flächendeckende Verstaatlichung. Sie wollte ihre Mitglieder vor den unwägbaren Folgen eines revolutionären Umsturzes und kompletten Chaos schützen, ja, aber sie wollte auch das: ihr eigenes Überleben und ihre Gestaltungsmacht sichern. Denn eine enteignete Industrie, gesteuert von einem sozialistischen Rätestaat, die braucht schließlich keine eigenständigen, freien und unabhängigen Gewerkschaften mehr – so die Befürchtung damals und später, im Realsozialismus, dann auch bittere Wahrheit.«

Was uns der Bundespräsident nach 100 Jahren erneut auftischt, um die aktuelle Ausrichtung von SPD und DGB zu rechtfertigen, ist die schon damals von der monarchistischen und reaktionären Rechten geschürte Mär von der »bolschewistischen Gefahr«. Ihr bedienten sich auch Ebert, Noske und Scheidemann, um ihr Bündnis mit der Obersten Heeresleitung zur Niederschlagung der Revolution zu rechtfertigen. Grund genug, diese Behauptungen anhand der historischen Fakten zu überprüfen und die aktuelle Politik der DGB-Gewerkschaften kritisch zu hinterfragen.

Das Stinnes-Legien-Abkommen:
Sozialpolitische Reformen sollten die Gefahr der Sozialisierung bannen

Es waren weder Mut noch Selbstüberwindung zweier Männer, die am 15. November 1918 zur Vereinbarung zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften führten. Die Großindustriellen, deren Vertretung Hugo Stinnes übernommen hatte, waren Getriebene der revolutionären Ereignisse. Der Zusammenbruch der alten politischen Ordnung, der Monarchie, stellte zugleich auch ihre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage. Vor den Forderungen nach der Enteignung der Großkonzerne und der Bestrafung der Verantwortlichen für Krieg und Völkermord suchten sie Schutz. Den fanden sie bei der bisher verhassten Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, jedenfalls in deren Führungsetagen. Über Jahrzehnte hatten die Industriellen im Pakt mit der Monarchie die politische und gewerkschaftliche Vertretung der Arbeiterschaft bekämpft, unterdrückt und zeitweise verboten.

In der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften hatten sich schon seit langem die Kräfte durchgesetzt, die in der alltäglichen gewerkschaftlichen Kleinarbeit das eigentliche Ziel ihrer Tätigkeit sahen: die schrittweise Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen für die arbeitenden Menschen innerhalb der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Und erste Erfolge hatten ihnen Recht gegeben, die sie nicht durch revolutionäre Reden oder gar Aktionen gefährden wollten. Die während der Kaiserzeit entstandene Partei- und Gewerkschaftsbürokratie machten deshalb die Ebert und Legien zu ihren Männern. Die Gewerkschaftsleitungen hatten bereits am 2. August 1914 ihre »Burgfriedenspolitik« verkündet. Sie sah eine enge Kooperation mit der Regierung sowie die Einstellung aller Lohnkämpfe und Unterstützungszahlungen für den gesamten Verlauf des Krieges vor. Die SPD-Fraktion im Reichstag hatte am 4. August den Kriegskrediten zugestimmt – für die Verteidigung des Vaterlandes. SPD und freie Gewerkschaften wollten ihren Ruf als »vaterlandslose Gesellen« endgültig loswerden. Das gelang ihnen – zumindest zeitweise.

Nun – nach dem Ende des vierjährigen Völkermordens – baten die Vertreter der Finanz- und Großindustrie sie um ein Abkommen. Das Unternehmerlager erklärte sich bereit, die Gewerkschaften als rechtmäßige Vertretung der Arbeiterschaft anzuerkennen. Es stimmte der Einführung des Acht-Stunden-Tages und sozialpolitischen Reformen bei der Arbeitslosen-, Kranken- und Alterssicherung zu. Die Regierung Ebert gab ihren Segen. Die Gegenleistung bestand in der Zusicherung der Gewerkschaftsvertreter, die Forderungen nach Sozialisierung nicht zu unterstützen. Es fiel ihnen nicht schwer, denn in revolutionären Forderungen und sozialen Umwälzungen sahen sie schon seit langem eine Gefahr für ihre gewerkschaftliche Tagesarbeit.

Die Führungen der freien Gewerkschaften fühlten sich am Ziel ihrer Träume. Sie wurden von den Unternehmern – und vom Staat! – als Tarifpartner anerkannt. Parlament und Regierung schufen die gesetzlichen Regelungen für ihre neue, nun anerkannte Rolle. Der Kapitalismus schien zähmbar, die Institutionen des Staates im Interesse der Arbeiterschaft nutzbar. Die Integration der Gewerkschaften in die bürgerlich parlamentarische Republik begann und endete nach 14 Jahren in einer Katastrophe.

Steinmeier führt weiter aus: »Carl Legien, moderater sozialdemokratischer Abgeordneter und Gewerkschaftsfunktionär, der auf der einen Seite radikal-revolutionäre Forderungen aus Teilen der Arbeiterschaft abzuwehren hatte, auf der anderen aber mit dem restaurativen Widerstand des alten Regimes rang.« Was der Bundespräsident verdreht und verschweigt, sind zwei Tatsachen:

Erstens: Die Forderungen nach einer grundlegenden Entmilitarisierung sowie nach der Sozialisierung der Schlüsselindustrien wurden keineswegs nur von einer radikal-revolutionären Minderheit in der Arbeiterschaft, sondern auch vom größten Teil der sozialdemokratischen Anhänger und Mitglieder geteilt, der Weg dorthin blieb umstritten (siehe Artikel auf Seite 8). Dies wurde nicht nur in den Massenstreiks, sondern auch auf dem ersten Reichsrätekongress (16. bis 19. Dezember 1918) deutlich. Die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD), so die vorübergehende Kennzeichnung nach Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), verfügte dort über eine absolute Mehrheit. Sie stellte 298 der 490 Delegierten. In zwei wichtigen Fragen verweigerte auch die überwiegende Mehrheit ihrer Delegierten den Empfehlungen des Parteivorstandes die Gefolgschaft. Die sieben Punkte der sogenannten »Hamburger Erklärung« zur Demokratisierung und Entmilitarisierung wurde mit überwältigender Mehrheit verabschiedet. Punkt sieben hält fest: »Die Abschaffung des stehenden Heeres und die Errichtung der Volkswehr sind zu beschleunigen.« Auch bei der Abstimmung über die Sozialisierung folgen die MSPD-Delegierten nicht der von Ebert vorgegeben Linie. Sie stimmen den Sozialisierungsforderungen zu und auch der von der USPD eingebrachten, zusätzlichen Aufforderung: »Die Regierung wird beauftragt, mit der Vergesellschaftung des Bergbaus sofort zu beginnen.«

Zweitens: Carl Legien rang nicht mit dem restaurativen Widerstand des alten Regimes. Während er noch mit dem Großindustriellen Hugo Stinnes, einem der größten Profiteure des Weltkrieges, über das gemeinsame Abkommen verhandelte, hatte Friedrich Ebert längst seine geheimen Absprachen mit Wilhelm Groener, Repräsentant der Obersten Heeresleitung (OHL), getroffen. Noch monarchistische Truppenteile, von »unsicheren Elementen« gesäubert, und in der Folgezeit eilig aufgestellte Freikorps und Bürgerwehren sollten Revolution, Chaos und die Herrschaft der Räte beseitigen. Die alten militärischen Kräfte der Monarchie wurden von Ebert gerufen und mit der Herstellung von Ruhe und Ordnung, mit der Beseitigung der »bolschewistischen Gefahr«, beauftragt.

Das Bürger- und Kleinbürgertum sammelte sich hinter den konterrevolutionären Verbänden, denen sie den Schutz ihres Eigentums und ihrer Privilegien übertrugen. Ausrüstung, Bewaffnung und Bezahlung der Soldateska wurden finanziert durch die Industriellen, die im und am Krieg glänzend verdient hatten. Die OHL verfolgte mit der Verteidigung der Regierung Ebert durchaus eigene Interessen. Teils mit Billigung der MSPD-Führung, – Noske: »Einer muss der Bluthund werden!« – teils auf eigene Faust entfesselten sie in den folgenden Wochen und Monaten den Bürgerkrieg. Trotzdem wurden sie durch die Regierung Ebert gedeckt und vor der Zerschlagung bewahrt. (Siehe auch Artikel »Die Novemberrevolution in Deutschland 1918«, S.1)

Enttäuschte Erwartungen in die Nationalversammlung

Der Kaiser war gegangen, die Generäle geblieben. Mit ihnen auch die gesamte Verwaltung im Reich und in den Ländern. Die Beamten, überwiegend preußisch und obrigkeitsstaatlich eingestellt, gaben weiterhin den Ton an. Die Polizei, die Justiz, die Universitäten, die Schulen und auch die Kirchen blieben ein Hort der monarchistisch eingestellten Reaktion. Dies war die Situation, als am 6. Februar 1919 die Nationalversammlung in Weimar zusammentrat. Die Gegenrevolution hatte eine wesentliche Zwischenetappe erreicht. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung und der Arbeiter- und Soldatenräte war den Versprechungen der MSPD gefolgt, die sie auf die Nationalversammlung vertröstet hatte. Doch die Erwartungen der Arbeiterschaft wurden enttäuscht. Sozialisierung und Entmilitarisierung wurden weder durch die sozialdemokratische Koalitionsregierung noch durch das Parlament eingeleitet, auch wenn die arbeitende Bevölkerung dies wiederholt durch Massenstreiks, Demonstrationen und Revolten erfolglos einforderte.

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Am 4. Februar 1920 verabschiedete die Nationalversammlung das Betriebsrätegesetz, dessen Grundzüge sich im Betriebsverfassungsgesetz der Bundesrepublik wiederfinden. In Betrieben ab zwanzig Beschäftigten konnten Betriebsräte gewählt werden. Auch in die Aufsichtsräte großer Konzerne entsandten die Beschäftigten ihre Vertreter. Deren Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte aber wurden auf soziale Belange beschränkt. Auf unternehmerische und wirtschaftliche Entscheidungen hatten sie keinerlei Einfluss. Aus den (Arbeiter-)Räten wurden amputierte (Betriebs-)Räte. Das kapitalistische Eigentum wurde nicht angetastet, die Verfügungsgewalt der Eigentümer blieb uneingeschränkt erhalten, frei von jeglicher Kontrolle durch die arbeitenden Menschen. Am 13. Januar 1920 demonstrierten etwa 100.000 Arbeiter*innen gegen das geplante Betriebsrätegesetz. Handgreiflichkeiten dienten der preußischen Sicherheitspolizei als Vorwand. Sie feuerte in die unbewaffnete Menge. 42 Menschen starben, 105 werden verletzt.

»Die bürgerliche Republik, aufgebaut nicht auf dem Siege der bürgerlichen Klassen über die feudalen, sondern auf dem Siege der bürgerlichen Konterrevolution gegen die proletarische Revolution, blieb ein jämmerliches Stück- und Flickwerk. […] Die »demokratischen Rechte« der Werktätigen hatten genau den »Spielraum«, innerhalb dessen die kapitalistische Klassenunterdrückung gesichert war. Was darüber hinausging – das fiel in das Ressort des Polizeiknüppels, und wenn es nottat, des Maschinengewehrs. Was noch zuletzt übrig blieb, vollzog die Justizmaschine, ein Brutherd der verstocktesten und heimtückischsten altersgrauen Reaktion.«1

Weimar: Republik ohne bürgerliche Republikaner

»Während die Sozialdemokratie auch während der Arbeit an der Verfassung vielfältig zeigt, dass sie aus Überzeugung Kompromisse anstrebt und zur Teilung der Macht mit dem Bürgertum bereit ist, macht auf der politischen Rechten längst die Konterrevolution mobil. Es ist nicht nur das Junkertum östlich der Elbe, es sind nicht nur rechtsextreme Offiziere, nicht nur völkische Rechte, es ist das »ganz normale« konservative Bürgertum, auch und gerade das akademische, das der Republik vom ersten Tag an den Kampf ansagt.«2

Ein wesentliches Propagandainstrument gegen die, aus der Novemberrevolution entstandene, Weimarer Republik bildete die Dolchstoßlegende. Als der Obersten Heeresleitung im September 1918 klar geworden war, dass der Krieg verloren ist, schob sie die politische Verantwortung für die aus militärischer Sicht notwendig gewordenen Waffenstillstandsverhandlungen der Regierung unter Prinz Max von Baden zu. Ihr gehörten neben den Sozialdemokraten auch das katholische »Zentrum« und die liberale »Fortschrittspartei« an. Der Grundstein für die Dolchstoßlegende war durch Generalfeldmarschall Hindenburg und General Ludendorff gelegt: Ein in den Schlachten militärisch unbesiegtes deutsches Heer sei sei nur durch den Verrat an der Heimatfront geschlagen worden. Die politischen Vertreter des Bürgertums griffen diese Legende immer wieder begierig auf in ihrem Kampf gegen die »Novemberverbrecher« und deren Republik.

Der Kapp-Putsch

Anfang des Jahres 1920 bestand die vorläufige Reichswehr aus etwa 120 Freikorps. Sie umfassten 250.000 Mann unter Waffen. Die Reichswehr »hatte sich von der Regierung nie in ihre Strukturen hinein regieren lassen, sie agierte als Staat im Staate. Nicht ob man die Regierung beseitigen solle, war unter den Generälen umstritten, sondern nur das wie und wann.«3

Am 13. März des Jahres fand dann der Kapp-Putsch, statt. Anlass war die im Versailler Friedensvertrag vorgeschriebene Reduzierung der Reichswehr auf 100.000 Soldaten. General von Lüttwitz widersetzte sich der aus diesem Grund von Noske verordneten Auflösung der rechtsradikalen »Brigade Erhard« und marschierte mit seinen Freikorps nach Berlin. Die in der Hauptstadt stehende Truppenverbände weigerten sich, die Regierung zu verteidigen. Truppenamtschef von Seeckt – Truppenamt war die Tarnbezeichnung des durch den Versailler Vertrag verbotenen Generalstabs – gab ihnen Rückendeckung: »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr.« Die Regierung floh nach Stuttgart, die SPD rief zum Generalstreik: »Kein Proletarier darf der Militärdiktatur helfen! Generalstreik auf der ganzen Linie! Proletarier vereinigt euch! Nieder mit der Gegenrevolution!« Die Gewerkschaften und nach anfänglichem Zögern auch USPD und KPD schlossen sich dem Streik an. Am 14. Januar lag das gesamte öffentliche Leben und die Betriebe still. Nach vier Tagen, am 17. Januar gaben die Putschisten auf. Um den weiter anhaltenden Streik zu beenden, »akzeptieren die Regierungsparteien [SPD, Fortschrittspartei, Zentrum] einen Forderungskatalog der Gewerkschaften: die Bestrafung der Putschisten und die Auflösung der konterrevolutionären Verbände, Aufstellung republikanisch gesinnter Truppen aus der organisierten Arbeiterschaft, Inangriffnahme der Sozialisierung und Ausbau der Sozialgesetzgebung.«4 Der Forderungskatalog wurde nie umgesetzt, die verurteilten Putsch-Generale und -Offiziere bereits im August des selben Jahres von der Regierung amnestiert.

»Schon im Kapp-Putsch versuchten sie, durch einen militärischen Handstreich wieder zur Macht zu kommen. Sie wurden durch den Generalstreik noch einmal zurückgeschlagen, aber vor der Vernichtung gerettet durch die Ebert-Noske-Scheidemann. Sie lernten aus der Niederlage. Sie begriffen, dass auf dem Wege des Putsches, rein militärisch, die Macht nicht zu erobern und zu halten sei, dass es dazu einer politischen Massengrundlage, breiter, konterrevolutionärer Massenorganisationen bedurfte. Diese schufen sie sich in der Nationalsozialistischen Partei, im Stahlhelm usw.«5

Der Zusammenbruch der Weimarer Republik

Zum Ende der Weimarer Republik und zur Machtübergabe an die NSDAP erklärt der Bundespräsident »Zugleich denken wir zurück an den langen, nicht immer einfachen Weg dieser Partnerschaft. An einen Weg, der in Krieg und Revolution begann, der durch Unterdrückung und Diktatur führte, durch den Untergang der ersten Demokratie, und der erst in der zweiten zu einem Weg der echten, dauerhaften Zusammenarbeit wurde. […] Dass die nachfolgenden staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft in Gestalt von Notverordnungen und die Konflikte, die diese nach sich zogen – vor allem in der Krise nach 1929 –, zu einem Brandbeschleuniger sozialer Unruhen und der Verächtlichmachung der Demokratie werden sollten; dass die Nationalsozialisten erst durch die Gleichschaltung der Verbände und die Abschaffung aller Tarifautonomie die deutsche Wirtschaft vollständig in den Dienst ihrer Ideologie und ihrer Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie stellen konnten – all das zeigt doch vor allem eines: Wie wichtig diese Regelungsebene zwischen Staat und Markt, diese Verbindung von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Teilhabe, für die Stabilität und Integrationskraft unserer Demokratie bis heute ist!«

Auch in seiner Stellungnahme zum Scheitern der Weimarer Republik verschweigt und vernebelt Bundespräsident Steinmeier die geschichtlichen Tatsachen. Es waren neben dem Kleinbürgertum die Großindustriellen, die entscheidend zum Untergang der Weimarer Demokratie beigetragen haben. An deren Ende förderten und finanzierten die Unternehmer die völkische Rechte in Gestalt der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und die Nationalsozialisten. Dem Faschismus übertrug die Bourgeoisie 1933 die Aufgabe, ihre gesellschaftliche Stellung, den Kapitalismus zu retten, nachdem die anderen politischen Parteien des Bürgertums abgewirtschaftet hatten. Wie war es dazu gekommen?

Das Stinnes-Legien-Abkommen bildete den Rahmen für das Handeln von Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Der Konsens, die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit mit Kapital und Kabinett, war längst zum Selbstzweck geworden. Daran hielten sie auch fest, nachdem die Gegenseite schrittweise davon abrückte und das Abkommen schließlich gänzlich aufkündigte. Der sozialdemokratischen Politik waren die Grundlagen entzogen. Die KPD konnte aufgrund ihrer pseudoradikalen Rhetorik und linkssektiererischen Haltung die enttäuschte Anhängerschaft nicht für einen revolutionären Ausweg aus der Krise gewinnen.

Die Gegenseite, die »Stinnes«, die Vertreter des deutschen Finanz- und Industriekapitals, waren nüchterner. Sie sahen in ihrem Abkommen mit Legien nur ein Mittel zum Zweck. Für die schon erwähnten sozialpolitischen Zugeständnisse sicherten sie sich, angesichts des revolutionären Ansturms, die Unterstützung der Gewerkschaftszentralen gegen drohende Sozialisierungen. Nachdem die Unruhen und Aufstände der Nachkriegsjahre – und damit die Gefahr der Enteignung – gebannt war, entfielen die Voraussetzungen, unter denen sie die Vereinbarung geschlossen hatten. Die Unternehmer fühlten sich immer weniger an das Abkommen mit den Gewerkschaften gebunden. Ihre Angriffe auf die mageren sozialen Absicherungen und die dürftigen demokratischen Rechte nahmen zu. Sie beschleunigten sich im Verlauf der Weltwirtschaftskrise. Die ehemaligen Partner aus den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, wurden zu Feinden, deren Einfluss auf die Republik gebrochen werden sollte.

Präsidialkabinette und Notverordnungen

Die Wirtschaftskrise hatte verheerende Auswirkungen auf die soziale und politische Lage der Arbeiterklasse. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit schnellten in die Höhe. Die Steuereinnahmen gingen bereits im zweiten Halbjahr 1929 zurück. Die Regierung bestand zu dieser Zeit aus einer großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller. »Es war ein zerbrechlicher Kompromiss zwischen den Interessen der Arbeiterschaft und den der Großindustrie, traditionell vertreten durch die Deutsche Volkspartei (DVP). […] Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) forderte die Befreiung von unwirtschaftlichen Hemmungen, Steuererleichterungen und Abbau der sozialen Leistungen, vor allem der Arbeitslosenversicherung. […] Im März 1930 brach die große Koalition am Streit um die Arbeitslosenversicherung dann auseinander. […] Die Empörung in den Gewerkschaften und an der SPD-Basis machten weitere Kompromisse unmöglich, und die letzte verfassungsmäßig gebildete Regierung trat zurück.«6

Präsident Hindenburg ernannte den Zentrumspolitiker Heinrich Brüning zum Kanzler. Er sollte ein Kabinett aus »Experten« ohne koalitionsmäßige Bindung zusammenstellen. Hindenburg und Brüning planten von Anfang an per präsidialer Notverordnungen gegen die starke parlamentarische Präsens der Arbeiterparteien zu regieren. Die Exekutive verselbstständigte sich. Im Jahre 1930 wurde fünf Gesetze per Notverordnung durchgesetzt, 98 wurden vom Reichstag beschlossen. Dieses Verhältnis drehte sich völlig; 1932 wurden 66 Gesetze durch Notverordnungen erlassen, nur noch fünf vom Parlament verabschiedet. »Das antiparlamentarisches Präsidialregime war gewollt; sein Sinn war eine Verfassungsänderung hin zu einer autoritären Staatsform, in der das Parlament nur minimale Kontrollfunktionen haben würde – wie im Kaiserreich.«7

Kanzler Brüning fand 1930 für die Herabsetzung der Sozialleistungen eine Mehrheit im Parlament – mit Unterstützung der SPD. Diese tolerierte das »kleinere Übel«, auch aus Angst vor möglichen Neuwahlen mit einem weiteren Aufstieg der NSDAP. Aus einer Splitterpartei (1928 Prozentzahl) wurden die Nationalsozialisten bis zum Sommer 1932 mit 37,3 Prozent zur stärksten politischen Kraft. Die traditionellen Interessenvertreter des Bürgertums, wie DVP, Fortschrittspartei oder Zentrum, waren aufgerieben; ein Großteil ihrer Wähler und Anhänger zur NSDAP übergelaufen. »Die politische Macht der Parteien des Bürgertums war zerfallen.«8

Die von Präsident Hindenburg und seinem Kanzler Brüning eingeleitete restaurative Wende entsprach 1930 noch den Interessen des Bürgertums, reichte aber 1932 nicht mehr aus. Die Interessenvertreter der Industrie hatten sich von der Regierung Brüning abgewandt, die bis dato von der SPD toleriert wurde. NSDAP und die völkische DNVP schlossen sich in der »Harzburger Front« zusammen, riefen zum Sturz der Regierung und demonstrierten mit Massenaufmärschen ihre Einigkeit. Am 1. Juni 1932 wurde Kanzler Brüning durch Franz von Papen ersetzt; am 3. Dezember folgte das nächste Präsidialkabinett unter Kurt von Schleicher9.

Der Staatsstreich vom 20. Juli 1932

Die letzte SPD-Bastion war die geschäftsführende, sozialdemokratische geführte Landesregierung unter Otto von Braun im größten Bundesland des Reiches, in Preußen. Am 20 . Juli setzte sie Reichskanzler Papen per Notverordnung ab und sich selbst als Reichskommissar ein. Die Basis von SPD und Gewerkschaften war kampfbereit und wartete, teilweise bewaffnet, in den Gewerkschaftshäusern auf das Signal zu Losschlagen. Es blieb aus. Die Parteispitze der SPD verzichtete darauf, ihre sozialdemokratischen Wehrverbände des »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« zu mobilisieren. Es genügten ein Hauptmann und drei Soldaten um den Innenminister Severing, Befehlshaber von 90.000 preußischen Polizisten, aus seinem Amtssitz zu komplimentieren.

»Der 20. Juli 1932 streckte das, was von der Weimarer Republik noch geblieben war, als Leiche nieder. Nur das Begräbnis steht noch aus. […] Die Januarkämpfe e 1919, in denen »Spartakus« der Weimarer Republik erlag, erschütterten zwei Erdteile. Die Weimarer Republik bahnte sich den Weg über die Leichen von 10.000 revolutionären Arbeitern, über die Leichen Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs. Um den 20. Juli 1932 zu inszenieren, genügten ein Hauptmann und drei Reichswehrsoldaten. Der Januar 1919 – die große geschichtliche Tragödie. Der 20. Juli 1932 – die platte Kommune der Severing und Grezesinski. […] Die parlamentarische Republik ist zu Ende, gemeinsam von Papen-Schleicher und den Nazis niedergeworfen. […] Auf dem Rücken der Nazis, mit ihrer Unterstützung, hat sich in den Sattel geschwungen dieselbe Gesellschaft, die am 9. November 1918 vor dem revolutionären Sturm in die Mauselöcher kroch, um sich sofort »auf den Boden der Tatsachen« zu stellen, zusammen mit Ebert und Scheidemann, die konterrevolutionäre Konspiration gegen »Spartakus« zu beginnen und sich mit einer Zähigkeit ohnegleichen an die Wiedereroberung der verlorenen Position zu machen: die alten Kriegsschlächter, die Junker, und in ihrem Nachtrab die Spitzen des Monopolkapitals.«10

Am 30. Januar 1933 übertrug Reichspräsident Hindenburg die Kanzlerschaft an Adolf Hitler. Die beiden Lager der Konterrevolution, die völkisch monarchistische Reaktion und die Nazis, rangen nun um die Verteilung der Macht. Die Nationalsozialisten blieben Sieger. Es war nur ein noch kurzer Weg zur völligen Zerschlagung der Arbeiterbewegung und zur Gleichschaltung der Gesellschaft. Der vollzog sich nicht ohne Selbstdemütigung der Gewerkschaften. Die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) hatte seine Mitglieder zur Teilnahme an den Feierlichkeiten der neuen Machthaber zum 1. Mai auf dem Tempelhofer Feld aufgerufen. Sie boten ihre Mitarbeit an der neuen, nationalsozialistischen Volksgemeinschaft an. Und sie hofften dadurch die legale Existenz der Gewerkschaftsorganisationen sichern zu können. Am 2. Mai stürmten SA-Trupps die Vereinshäuser; die Gewerkschaften wurden verboten.

»Die parlamentarische Republik säte die Drachensaat, die jetzt aufgeht. Die parlamentarische Republik, der illusionäre Versuch die Klasseninteressen des Monopolkapitals und des Proletariats zu vereinigen, hat sich in einem 14-jährigen Experiment selbst zum Ende geführt, das die vollständige Widerlegung all der Illusionen gebracht hat, die von Seiten des Reformismus diesem Versuch zu Grunde lagen.«11

Der Weg für den sechs Jahre später begonnenen Revanchekrieg, für den II. Weltkrieg, war geebnet. Die Vertreter des deutschen Faschismus hatten aus den Ereignissen des November1918 gelernt. Sie duldeten keine, noch so sanftmütige, zahme und willige Oppositionspartei mehr. Schließlich war aus der Anhänger- und Mitgliedschaft der Sozialdemokratie im Verlauf des I. Weltkrieges der Widerstand gegen Hunger, Not und Krieg sowie die Novemberrevolution erwachsen. Der revolutionärer Flügel der Arbeiterbewegung hatte sich in diesen Auseinandersetzungen herausgebildet.

A.B. 2.12.2018


  1. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik und was weiter? Herausg. von der KPD Opposition, Ende 1932
  2. Wolfgang Niess. »Die Revolution von 1918/19«. Seite 414
  3. Klaus Dallmer. Die Meuterei auf der »Deutschland«. S. 221
  4. Wolfgang Niess. »Die Revolution von 1918/19«. Seite 428
  5. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik und was weiter? Herausg. von der KPD Opposition, Ende 1932
  6. Klaus Dallmer. Die Meuterei auf der »Deutschland«. S. 285
  7. Ebenda Seite 291
  8. Ebenda Seite 296
  9. »Sein Konzept einer Querfrontregierung unter Spaltung der Nationalsozialisten scheiterte rasch. Die von Schleicher daraufhin angestrebte Auflösung des Reichstages ohne Neuwahlen, also einen Staatsstreich, lehnte Hindenburg ab, woraufhin Schleicher am 28. Januar 1933 demissionierte und sich ins Privatleben zurückzog. Am 30. Januar 1933 wurde an seiner Stelle Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.« (aus Wikipedia)
  10. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik und was weiter? Herausg. von der KPD Opposition, Ende 1932
  11. ebenda

aus Arbeiterpolitik Nr. 5/6 2018

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*