Wir veröffentlichen im folgenden einen Artikel aus Kellinghusen mit einer kurzen Vorbemerkung der Autorin Erika Harzer vom 15.06.2020.
„Liebe Freundinnen und Freunde, da wir mittlerweile dank der um uns herum angesiedelten Großschlachthöfe einer der covid-19 hotspots in Deutschland sind, hab ich seit gestern auf meiner website einen Text gepostet, den ich im Oktober 2019 geschrieben habe.
Ursprünglich, als wir nach Kellinghusen gezogen sind und bald danach festgestellt haben, dass hier ein Schlachthof der Tönnies Holding angesiedelt ist, wollte ich gleich ein Radiofeature über den Umgang der Menschen hier im Städtchen mit den Arbeits- und Lebensbedingungen der überwiegend rumänischen Werksvertragsarbeiter machen. Wollte aber kein Sender haben. Dann bot ich es als Printreportage an – auch erfolglos. Dann wurde ich mehr und mehr selbst zur Aktivistin innerhalb der BI SAUstarkes Kellinghusen, wodurch ich nicht mehr journalistisch über andere Akteur*innen hätte berichten können, sondern über „uns“. Das hab ich zuletzt im Herbst 2019 gemacht und einem online-magazin angeboten. Aber auch da war ich letztlich erfolglos und packte das Stück ins Computerarchiv. Bis gestern. Jetzt, dank Covid-19, sind die Schlachthöfe mit ihren unfassbarem System der Werksverträge und dem Konstrukt der Sub-Unternehmer endlich ins bundesweite Informationszentrum gerückt.“
Wieder einmal stinkt es. Nicht nur ein bisschen. Es ist kein Geruch, der schnell verfliegt. Kein schlechtes Lüftchen. Nein, es stinkt und sitzt in meiner Nase fest. Auch wenn ich noch so schnell in die Pedale trete, muss ich den Gestank erstmal ertragen. Schnelles Entkommen geht nicht. Meine Freude darüber an der Wiese mit dem frisch gemähten Gras vorbeizuradeln und diesen Duft einzuatmen, den ich schon seit meiner Kindheit liebe: geschenkt.
Es stinkt um mich herum und dieser Gestank ist stärker als das Gras. Zumal der Wind von vorne kommt, von dort, wohin die beiden Laster, die an mir vorbeigefahren sind, langsam entschwinden. Erst am Kreisverkehr, vorne an der Einfahrt nach Kellinghusen, werde ich den Gestank loswerden. Dort biegen die Laster entgegengesetzt zu meinem Weg ab, nehmen den direkten Weg zum Schlachthof am Rand meiner neuen Heimatstadt in Schleswig-Holstein, dem nördlichsten Bundesland, flach und zwischen den Meeren gelegen.
Kellinghusen. Ein Städtchen, das versucht, von seiner Geschichte zu leben, von dem, was alles einmal war. Bundeswehrstandort, in dem in den 80ern auch mal Pershings oder andere atomare Sprengköpfe der US-Armee vermutet wurden. Irgendwann mal Luftkurort. Töpferstadt. Heute stellt sich die Stadt als „Tor zum Naturpark Aukrug“ vor, als Station des Mönchsweges, eines Radfahrfernwegs von Bremen nach Puttgarden, der wie der Name schon sagt, den Spuren der Mönche folgt, die den Norden und damit dessen Menschen – christianisierten. Kellinghusen fehlt heute der direkte Bahnanschluss, den es mal gab und der wie an vielen Orten unseres Landes dank der Autoverliebtheit seiner Menschen stillgelegt wurde, und der heute doch für die Attraktivität der Stadt so dringend nötig wäre. Für dazu ziehende. Für neue Ideen gegen den Leerstand. Um die Straßen von den Erst-, Zweit- und Drittwagen zu leeren, dem maßlosen Individualverkehr, der unsere Straßen verstopft und unsere Luft verpestet. Ja, die Innenstadt ist gezeichnet von trostlosem Leerstand. Dafür unterstreichen auch hier wie allerorts in heutigen Zeiten, an der Umgehungsstraße hässlich angelegte Einkaufsmärkte mit riesigen versiegelten Parkflächen die bundesweit übliche, gestalterische Unfähigkeit der Städtebauer. Hier also hoffe ich mein Leben etwas zu „entschleunigen“. Doch dann tauchten diese Laster auf. Nicht nur einmal, sondern regelmäßig. Viele.
Laster voller Schweine, rund 40 davon täglich. Bis ich mit meinem Fahrrad zu Hause am anderen Ende des Städtchens ankomme, wird meine Nase den Geruch „entsorgt“ haben, werden andere Düfte und Gerüche sich durchgesetzt haben. Angenehmere. Von Blumen, von Gras und Holz, vielleicht auch ein bisschen Autoabgase, vermischt mit diversen Kochdämpfen aus Küchenfenstern oder was mir sonst noch so auf der Strecke begegnet sein wird. Und damit wird auch mein Brechreiz wieder abschwellen. Den bekomme ich nämlich fast immer, wenn es dem Schweinegeruch gelingt, sich in meinen Sinnen festzusetzen. Dann, wenn mir die Transporter begegnen. Manche Laster sind zweistöckig, manche haben aber auch 3 Ebenen und alle haben sie an den Seiten kleine zu- oder aufklappbare Luken. Manchmal lugt aus einer dieser Luken ein rosa Ringelschwänzchen durch, manchmal eine nach Luft schnappende Schweinestupsnase. Und an manchen Tagen dringen durch diese kleinen Öffnungen auch mal ein paar Sonnenstrahlen ins Innere. Dann, wenn im schleswig-holsteinischen Flachland die Sonne ihre Kraft entfalten kann. Vielleicht kitzelt in solch einem Moment einer der Strahlen eine der Schweinsnasen ein erstes und gleichzeitig letztes Mal, bevor das Tier wenig später als Schlachtvieh endet, als Zahl der täglichen Schlachtquote. 6.000 Schweine dürfen vor den Toren Kellinghusens abgeschlachtet werden. Tagtäglich. Das ist die genehmigte Zahl. Schlachtvieh für die billig Schnitzel auf deutschen Tellern oder Grillrosten. Oder auf chinesischen oder in welchen Ländern auch immer die Teller zum Auffüllen stehen. Für den „König der Schweine“, wie die ZEIT vor Jahren den Eigner des Schlachthofimperiums, Clemens Tönnies bezeichnete, ein lohnendes Geschäft. Er ist Betreiber eines Modells, das als quasi vorvorletzte Etappe – danach kommt noch die Fleischzerlegung und dann der Konsum – einer für die Umwelt und den Menschen katastrophalen industriellen Fleischproduktion längst zu einer „Es war einmal ….“ Geschichte verdammt werden müsste. Hier in meiner neuen Heimatstadt werden tagtäglich aktuell zwischen 4 bis 5.000 Schweine geschlachtet. Noch wird die genehmigte Quote nicht erreicht. Demnächst dann. Doch auch 4.000 Schweine müssen angeliefert werden. Tagtäglich. An heißen Tagen für die unmittelbaren Nachbarinnen und Nachbarn des Schlachthofs eine Zumutung, wenn diese Laster mit den geöffneten Luken in der Warteschleife auf dem Hof abgestellt werden und die Tiere auf ihre Tötung warten. Quiekende, grunzende Schweine. Lärm und Gestank. Erst werden sie in ihren Tiertransportlastern angeliefert, um dann in ähnlich großer Masse als Schweinehälften in Kühllastern wieder durch das Land verteilt zu werden. Längst machen Tierschützer dagegen mobil, halten auch in Kellinghusen regelmäßig Mahnwachen ab. Doch wenn interessiert dies schon? Welche Medien berichten über eine Handvoll Tierschützer, die friedlich vor einem Schlachthof stehen und Mahnwachen abhalten? Ungestört geht sie weiter, die industrielle Fleischproduktion, die Massentierzucht für die es Unmengen von Tierfuttersoja braucht, für dessen Anbau in Ländern wie Brasilien, Paraguay und wie sie alle heißen die tropischen Wälder abgeholzt werden, die Lunge der Erde. Die als eines der Zucht-Nebenprodukte unser Land mit Gülle überfordert. Dann die Massenschlachterei. Zur Produktion für Billig-Schnitzel, Billig Nackensteak, Billig Grillwürsten für die Discounter dieser Welt, das „Geiz ist geil“ Gefühl befriedigend, und der „ich lass mir mein Steak nicht nehmen“ Haltung Nahrung bietend.
Es ist nicht der größte existierende Schweineschlachthof Deutschlands. Doch es sind auch hier in Kellinghusen schon unzumutbare Verhältnisse, die dieses System der Massentierschlachtung von Massentierzucht begleiten. Der Gestank, der bei mir den Brechreiz hervorruft, ist davon nur ein klitzekleines Mosaiksteinchen, ist unbedeutend im Gesamtkontext. Dieses System hat auch unmittelbar vor unserer Haustür Strukturen geschaffen, in denen Menschenwürde den Interessen des Marktes untergeordnet sind. Von solchen Verhältnissen erfahren wir in der Regel aus Ländern die wir so gerne „Entwicklungsländer“ nennen oder früher von erhöhter Warte aus betrachtend, zu 3. Welt-Länder machten. Ja, dort werden Menschen extrem ausgebeutet, sind rechtlos, verdienen zu viel zum Sterben und zu wenig zum Überleben und werden, wenn sie nicht mehr können, einfach aussortiert zurückgelassen mit nichts an überlebensnotwendigem. Bangladesch könnte da einfallen, Guatemala, Niger, oder, oder….
Aber bei uns doch nicht. Nicht hier in Kellinghusen, nicht in Schleswig-Holstein, nicht in Deutschland, unserem reichen Deutschland. Hier haben wir doch für alles Gesetze, haben Paragraphen, die regeln und die eingehalten werden müssen, die eingehalten werden sollten.
Doch für das System industrielle Fleischproduktion gibt es eigene Strukturen, gibt es nutzbare kleinste Lücken im arbeitsrechtlichen Paragraphengestrüpp. Dafür bietet der weltumspannende Neoliberalismus jede Menge Instrumente. Eines davon, ein ganz wichtiges ist die Arbeit mit Sub-Unternehmen, die heuern und feuern, und am besten nicht greifbar sind. So auch bei den Werksvertragsarbeitern im Schlachthof, die meisten davon von Sub-Unternehmen in Rumänien angeheuert für diese Jobs in Deutschland. Eingebettet in Rundumversorgung sozusagen, was so viel bedeutet wie moderne Sklaverei. Die Subs erstellen die Arbeitsverträge, in denen auch gleich Unterkünfte und Transport von Unterkunft zur Arbeit eingearbeitet sind. Da ist das eine mit dem anderen verbunden. Klappt’s nicht mit der Arbeit, ist die Wohnung weg. Denn auch bei der Wohnung ist das Subunternehmen aktiv. Macht den Mietvertrag mit dem Vermieter, vermietet dann unter an die Werksvertragsarbeiter. Viele Gerüchte kursierten in unserer Stadt an der Stör. Über diese Männer, die selten genug zu sehen waren und wenn, dann meist in ihren Kleingrüppchen rumänischer Landsleute. Müde Gesichter, dahinschleichende Körper. Zum Schlachthof oder vom Schlachthof. Hin zu diesen Häusern der Stadt, die schon von außen auf bessere Zeiten zurückblicken. Wie es drinnen ausschaute, darüber klärte eine Veranstaltung im Bürgerhaus der Stadt Mitte Juni 2018 auf. Der DGB Schleswig-Holstein Nordwest gemeinsam mit der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten und dem Kirchlichen Dienst der Arbeitswelt luden dazu ein und es füllte sich tatsächlich der Bürgersaal. Über 100 Menschen waren gekommen, wollten wie ich wissen, was hier mitten in unserer Stadt vor sich geht. Und wir wurden erschüttert von Bildern, die der Beamer an die Wand des Bürgerhauses warf. Kakerlaken in den Unterkünften. Mehrere einfache Betten in den Zimmern. Offene Verteilerdosen, Stromleitungen aus den Wänden hängend. Dazu erzählte eine Aktivistin des wenige Monate zuvor ebenfalls in Kellinghusen gegründeten zivilgesellschaftlichen Stützkreis für die Werksvertragsarbeiter von nicht funktionierender Toilettenspülung, fehlenden Treppenstufen und der nicht vorhandenen Privatsphäre für diese Männer, die für Tönnies die Schweine schlachten. Der Besitzer der Wohnungen saß im Bürgerhaus an diesem Abend, doch verantwortlich fühlte er sich nicht. Er habe schließlich korrekte Mietverträge mit dem Subunternehmer gemacht und wie dieser untervermietet sei dessen Sache. Er ist Geschäftsmann und Politiker. Doch verantwortlich fühlte er sich nicht! Verantwortung bleibt bei solchen Geschäften, bei solchen Strukturen genauso auf der Strecke wie die Würde der Menschen. Doch der Skandal war öffentlich. Es musste etwas passieren. Ein Subunternehmer wurde durch einen neuen ersetzt, die Wohnungen in Kellinghusen gekündigt und ein neues Mietshaus in Bad Bramstedt angemietet, renoviert und bevor die rumänischen Werksvertragsarbeiter nach dorthin verpflanzt wurden, begutachtete der Stützkreis diese Räume, sprach ihnen Bewohnbarkeit zu.
Sie wohnen jetzt besser. Aber die Wege sind weiter, machen die Arbeiter abhängiger. Der Weg zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause ist Sache des Subunternehmers. Sie bleiben abgeschottet in ihrer Welt von der Unterkunft zum Schlachthof und zurück, der Welt der rumänischen Werksvertragsarbeiter. Abgeschottet auch von Menschen, die sich um sie kümmern möchten, die mit ihnen über ihre Rechte reden wollen, über ihre Überstunden, ihre Bezahlung. Um die gäbe es oft Streit, erzählen im Stützkreis Aktive. Und Gewerkschaftler des DGB Schleswig-Holstein erzählen von den vielen Überstunden, davon, dass 10 Stunden und darüber nicht ungewöhnlich seien.
Für etwas Klarheit im bisherigen Dschungel von Vermutungen, Behauptungen, Gegendarstellungen und Unterlassungsklagen sorgte das nordrheinwestfälische Arbeitsministerium mit ihrer „Arbeitsschutzaktion Fleischwirtschaft“.
In 30 Schlachtbetrieben des Bundeslandes mit rund 17.000 Beschäftigten führten Spezialisten in den Sommermonaten 2019 unangemeldete Betriebsprüfungen durch. Nach einer bisher nur 40prozentigen Auswertung der Ergebnisse zeigte sich Mitte Oktober 2019 Arbeitsminister Laumann, CDU, schockiert über „die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie“. Das Ergebnis zeige, „Der Preiskampf in der Fleischindustrie führt oft zu überaus schwierigen – wenn nicht sogar prekären – Arbeitssituationen für die Beschäftigten. Betroffen sind in großer Zahl ausländische Arbeitskräfte, die im Rahmen von Werkverträgen beschäftigt werden.“ In der vorläufigen Auswertung wird von mehr als 3.000 Arbeitszeitverstößen gesprochen, darunter auch Fälle, in denen die Beschäftigten über 16 Stunden gearbeitet haben. Dann wurden in mehr als 900 Fällen keine arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt. Auch mehr als „100 technische Arbeitsschutzmängel mit hohem Gefährdungspotenzial wurden festgestellt (entfernte Schutzeinrichtungen, gefährlicher Umgang mit Gefahrstoffen, abgeschlossene Notausgänge, gefährlich abgenutzte Arbeitswerkzeuge).“ Arbeitsminister Laumann erwartet, dass zu den bereits festgestellten Verstößen noch Tausende weitere dazu kommen werden.
Sollten sich die Zustände in Schleswig-Holstein davon positiv abheben? Wird auch hier vielleicht das Arbeitsministerium faktenschaffend aktiv?
Ich schalte mein Gedankenkino ein, bewege mich mit diesen Zahlen und den bereits in Fernsehreportagen gesehenen Bildern in den Schlachthof ans Fließband. 10 bis sogar 16 Stunden Sauen schlachten am Tag, was macht das mit einem? Auch wenn es nur 8 Stunden sind: Ritz, ratz, ritz, ratz. Töten am Fließband, töten im Takt. Ein Tier nach dem anderen. Den Film will ich nicht weiter sehen, schalte das Hirnkino ab. Die Laster sehe ich in echt, im Lebensfilm. Manchmal – ganz, ganz selten – sehe ich noch immer die Männer irgendwo im Stadtbild, die mit großen Hoffnungen von Rumänien hier hergekommen sind und hier dazu verdammt sind im Takt zu töten, im Takt am toten Tier zu sägen, zu schneiden, zu trennen. Was macht das mit diesen Männern, frage ich mich. Das Gequiecke am Anfang, dann, wenn die Tiere vom Laster geladen werden, dem Schlachter zugeführt werden. Der Geruch, das Blut. Tag für Tag. In Schichten. Danach die Unterkunft. Mehrbettzimmer. Kein Kontakt zu uns, den Menschen hier in der Stadt. Sie sprechen kein Deutsch. Wann sollten sie es auch lernen, nach ihrer Schicht und den Transportwegen und dem noch schnellem Einkauf im Discounter, ohne richtige Rückzugsmöglichkeit in der Unterkunft. Die Skandalfotos von den Unterkünften in Kellinghusen erschütterten uns und auch die anwesenden Politiker*innen aus Stadt und Landkreis. Es musste gehandelt werden. So können Menschen in unserem Land nicht untergebracht sein. Wohnen ist was anderes als untergebracht sein. Die Werksvertragsarbeiter sind untergebracht. Sie wohnen nicht in Schleswig-Holstein.
Was sagen sie ihren Müttern, ihren Frauen, ihren Kindern daheim in Rumänien, wenn sie völlig fertig auf ihren Betten im Mehrbettzimmer liegen. Was erzählen sie von ihrem Tag in Kellinghusen, der Kleinstadt in Schleswig-Holstein? Mir geht es gut und wenn ich Glück habe, kann ich euch bald Geld schicken? Oder erzählen sie von dem Stress mit dem Vorarbeiter, mit dem Subunternehmer, der noch immer keinen Lohn ausgezahlt hat? Davon, dass sie Abend für Abend oder Nacht für Nacht völlig k.o. zurück in der Unterkunft ankommen? Dass sie mit niemanden richtig reden können, über diese Arbeit, auf die sie sich vertraglich eingelassen haben in diesem reichen Deutschland. Was wissen sie von dieser Stadt, in die sie verpflanzt wurden, um im vorgegebenen Takt Tag für Tag tausende von Schweinen zu töten und sie zu zerteilen?
Deutschland ist viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, hinter USA, China und Japan. Das klingt nach was, klingt nach gehobenem Status, nach Potenz auf dem Markt. Aber was bedeutet dies konkret: Volks-wirt-schaft? Wer profitiert von diesem Status. Die Rumänen, die sich von Clemens Tönnies Subunternehmer irgendwo in ihrem Heimatland als Werksvertragsarbeiter anheuern ließen, sicherlich nicht. Ja sie tragen dazu bei, dass das System industrielle Fleischproduktion a lá Clemens Tönnies Holding Gewinne erwirtschaftet. 6,65 Milliarden Jahresumsätze 2018 verkünden die Tönnies Holding erfreut auf ihrer Website. Auf eben dieser Seite finde ich auch unter dem Link „Emotionen“ dass die Holding eine Willkommenskultur mit individueller Starthilfe vor Ort unter dem Leitgedanken: 100 Prozent Team Tönnies betreibe. Auch für die Werksvertragsarbeiter, für die Rumänen? Für sie ist ja dieses Konstrukt mit den Subunternehmern geschaffen. Die Verantwortung für prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse dieser Werksarbeiter trägt nicht Clemens Tönnies, der Leiter des Familienunternehmens, der Kümmerer in seinem Heimatort. Das Profil der Tönnies Holding zeichnet ein verantwortungsvolles, sich kümmerndes Familienunternehmen, von dem Rheda-Wiedenbrück ganz viel profitieren konnte, mit seiner Kindertagesstätte und der eigenen Fußballarena. Clemens Tönnies ist auch Vorsitzender des Bundesligaclubs Schalke 04. Da gibt er sich gern als Kumpel von nebenan – so vermitteln es die Bilder der samstäglichen Sportschau – wenn er in der Fankurve Hände schüttelt. Doch im August 2019 sorgte er für Schlagzeilen. Da hielt er eine Rede beim Handwerkstag in Paderborn. Er stellte seine Lösungsgedanken zum Thema Klimawandel und wie der gebremst werden könne vor. Statt hier bei uns die Steuer zu erhöhen, stellte er die Frage: „Warum gehen wir eigentlich nicht her und geben das Geld dem Gerd Müller, unserem Entwicklungsminister und der spendiert jedes Jahr 20 große Kraftwerke nach Afrika. Dann werden die aufhören, Bäume zu fällen, und hören auf, wenn’s dunkel ist …. Kinder zu produzieren.“
Denkt Clemens Tönnies so über die Welt, die ihn umgibt? In der er mit dem System des Subunternehmertums die Gewinne seiner Holding festigt. Ein System in dem die schwächsten Menschen irgendwann entsorgt auf der Strecke bleiben. Die direkte Verantwortung für das Wohl und die Würde des Menschen ist darin outsourced, ausgelagert. Pfarrer Peter Kossens, dessen Bruder als Arzt regelmäßig Werkvertragsarbeiter von Schlachthofbetrieben ärztlich betreut, sagt dazu: „Die Fleischindustrie behandelt im großen Stil Arbeitsmigranten wie Maschinen, die man bei externen Dienstleistern anmietet, benutzt und nach Verschleiß austauscht.“ Kossen engagiert sich seit Jahren für diese Werkvertragsarbeiter, die dank des Subunternehmer Sytems „in vielfachere Hinsicht um einfachste Lohn- und Sozialstandards betrogen werden.“ Kann sich Clemens Tönnies davon freisprechen?
Zurück nach Kellinghusen. Zu den Ereignissen direkt vor meiner Haustür. Und die sorgen hin und wieder für Schlagzeilen, wenn zum Beispiel Anfang 2019 eine NDR Reportage Bilder vom Produktionsablauf ohne die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zeigt und einen dadurch verletzten rumänischen Werksvertragsarbeiter über seinen Unfall erzählen lässt. Oder wenn am 21. Oktober dieses Jahres junge Tierschützer unter dem Motto: „Tear down Tönnies“ den Schlachthof besetzten als Protest gegen Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur. Einige ketteten sich um vier Uhr morgens an der Rampe an, über die die Schweine in den Schlachthof geschoben werden, andere kletterten auf’s Dach des Schlachthofs und befestigten Transparente. Fight for all Beings and our planet until all are free! Kämpft für alle Wesen auf unserem Planet, bis sie alle frei sein werden! war über Stunden am Gebäude des Schlachthofs zu lesen. 26 junge, zum Teil vermummte, engagierte Menschen legten mit ihrer mutigen Aktion gut 12 Stunden den mörderischen Prozess lahm. Selbst der aus Itzehoe angereiste Polizeisprecher im Einsatz, konnte sich nicht verkneifen, gegenüber dem NDR zu erwähnen, dass er persönlich das Verhalten der jungen Leute gut fände, „dass sie sich so mutig für das Tierwohl einsetzen. Die Frage besteht natürlich, ob das mit Straftaten einhergehen muss, aber: Grundsätzlich finde ich es sehr schön, dass die Tiere hier Anwälte gefunden haben.“ Damit setzte er sich über die ihm auferlegte Neutralität hinweg. Entsprechend ließ die Kritik seiner Vorgesetzten nicht lange auf sich warten.
Ich hatte ursprünglich auch vor, distanziert über diese Geschichte „Der Schlachthof und die Stadt“ zu berichten. Das war mein Plan. Doch ich wohne hier. Dieses System industrielle Fleischproduktion spielt es sich vor meinen Augen, meinen Ohren und meiner Nase ab. Ich bin unmittelbar betroffen und von daher keine objektive Berichterstatterin. Und so lerne ich Leute kennen, die ähnlich empört sind wie ich über die Arbeits- und Wohnverhältnisse der Werksarbeiter, lerne Leute kennen, die ähnlich besorgt sind über das zukünftige Leben in unserer Stadt, die noch den Ruf hat, über gute Trinkwasserreservoire zu verfügen. Wie viele Tausend Liter davon fließen tagtäglich alleine für die Säuberung der Schweinetransportlaster? Oder für die Reinigung der Schlachträume? Weg mit dem Blut, den Schlachtresten eines nicht wirklich gelebten Schweinelebens, den Resten von Tieren, die vollgepumpt sind mit Antibiotika und was die Pharmaindustrie sich sonst noch alles einfallen ließ, um Tiere in immer kürzerer Zeit schlachtreif zu machen. Wir stellen Fragen an die Stadtverwaltung: Was passiert mit diesen Rückständen der Schlachtung, den Rückständen der industriellen Fleischproduktion? Was passiert mit dem Trinkwasser? Tagtäglich fließen diese Reste in das Abwassersystem unserer Stadt, fließen ins Klärwerk der Stadt und von dort dann in die Stör. Ist es geklärt, sauber und kann problemlos zurück in den Wasserkreislauf des Planeten gepumpt werden? Die Frage stellen wir dem Bürgermeister, stellen wir der Stadtverwaltung. Was kann die Kläranlage leisten angesichts dessen, was in diese Schweinen für die schnelle Mast alles hineingepumpt wurde? Nicht allzu lange ist es her, da wurden im Oktober 2018 in der Nähe des Gütersloher Tönnies Schlachthof multiresistente Keime in der Ems gefunden. Keime, die gegenüber 6 bis 8 Antibiotika resistent waren. Auch Kolibakterien wurden in den gleichen entnommenen Proben festgestellt, die wiederum gegen drei von vier Reserveantibiotika Resistenz zeigten. Die Alarmglocken in unseren Köpfen schlugen unüberhörbar laut.
Am 18. Dezember 2017, exakt ein Tag vor Ende meines ersten Jahres in Kellinghusen, lud die Stadtverwaltung zu einer „Anwohnerunterrichtung – Erweiterung Schlachtbetrieb und Kläranlage“. Die Geburtsstunde der Bürgerinitiative Saustarkes Kellinghusen. Damit der Betrieb auf die genehmigte Schlachtzahl ausdehnen kann, braucht es eine Erweiterung der Kläranlage, muss die Stadt investieren.
Zunächst hielt ich mich davon fern, wollte in der gewohnten Weise „objektiv“ darüber berichten, wie die Menschen meiner neuen Heimatstadt sich zu diesem komplexen Thema engagieren und positionieren. Zu den Fragen der industriellen Fleischproduktion, die einhergeht mit den Klimawandeldebatten. Zu den Fragen menschenwürdiger Arbeits- und Lebensbedingungen in diesem System Großschlachterei und Werksvertragsarbeitende. Zu den infrastrukturellen und Alltagsversorgungsfragen in einer Kleinstadt wie Kellinghusen mit diesem Großbetrieb. Doch fand ich als freischaffende Autorin keine abnehmende Redaktion. Und ich fand mich dann im Laufe der Wochen mehr und mehr als Teil der Geschichte, als Betroffene, als Wütende, als Aktive. Und entsprechend ist mein jetziger Text kein journalistisch objektiver, sondern eine Betrachtung von innen heraus, als Teil des Ganzen.
Wir sind verärgert und besorgt über so vieles, was wir als Menschen dieser Stadt als Folge der industriellen Fleischproduktion der Tönnies Holding erleben und wollen dies nicht mehr einfach nur hinnehmen.
Wir besuchen die Kläranlage, fragen in der Stadtverordnetenversammlung, fragen den Bürgermeister, fordern unabhängige Untersuchungen. Wir wollen Klarheit über den Zustand und die Verschwendung des Trinkwassers, fordern genaues Prüfen. Wollen darüber hinaus wissen, welche Katastrophenschutzpläne im Falle eines Ammoniakunfalls vorhanden sind, seitens der Stadt, der Feuerwehr, des Betriebs. Verantwortung im Fall der Fälle – wer trägt die? Wie werden die Werkvertragsarbeiter in diese Gefahrenlage eingeführt, wie in die Katastrophenschutzpläne, wo sie doch so gut wie kein deutsch sprechen?
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben. Weil sie noch nicht zu Ende ist. Wir werden gefordert bleiben mit unseren Aktionen, mit unseren Anfragen und unserer Einmischung in die Politik der Stadt. Es geht auch hier um Zukunftsfragen, individuelle, aber auch gesellschaftspolitische, es geht um unsere Ressourcen und um Menschenwürde. Wir bleiben am Ball.
Kellinghusen im Oktober 2019
Wir werden über die aktuellen Ereignisse weiter berichten unter dem Titel
„Hotspot Schlachthöfe“
Quellen:
https://toennies.de/unternehmen/ueber-uns/
https://toennies.de/verantwortung/nachhaltigkeitsthemen/arbeitgeber/
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