Schon auf der Fahrt zum Alexanderplatz ließ sich erahnen, dass die Kundgebung am 07.06.2020 aus Anlass der Ermordung von George Floyd etwas Besonderes werden würde. Der Zug der S-Bahn war voll mit jungen Leuten, die überwiegend in Schwarz gekleidet waren. Sie trugen eine Vielzahl von selbstgemachten Pappschildern bei sich mit einfachen Botschaften.
Bei der Einfahrt in den Bahnhof Alexanderplatz wurde die Erwartung bestärkt. Auf dem von der Hochbahn aus gut einsehbaren, sehr breiten Bürgersteig der Karl-Liebknecht-Str., der an der westlichen Grenze des Alexanderplatzes liegt, zogen dicht gedrängt Hunderte junger Leute Richtung S-Bahn, so, als ob die Veranstaltung bereits zu Ende sei. Doch der Eindruck trog. Sie waren auf der Suche nach einem geeigneten Ort, wo sie ihren Protest anbringen konnten. Und der war schwer zu finden.
Beim Verlassen des S-Bahnhofes wurde dies offenbar. In der Passage zwischen dem äußeren Rand der Häuser des Alexanderplatzes und dem S-Bahnhof war es proppenvoll. Die Durchgänge zum Platz waren durch Absperrgitter und massiv auftretende Polizeikräfte gesperrt. Selbst wenn man die Barrieren überwunden hätte, wäre man nicht auf den Platz gekommen, weil es einfach kein Durchkommen gab. Auch in der Passage drängten sich die Menschen so dicht, dass es kaum ein Fortkommen gab. Vorwärts ging es nur in Trippelschritten, die immer wieder durch starke Gegenbewegungen unterbrochen wurden. Bis man eine Stelle erreichte, die wenigstens etwas Bewegungsfreiheit gewährte, dauerte es ewig.
Ohne Plan und Struktur
Rechnet man, dass auf den Alexanderplatz etwa 15-20.000 Menschen passen, bei verdichteter Aufstellung sicher noch mehr, geht man ferner davon aus, dass der feste Cordon um den Platz noch einmal mindestens 10.000 Menschen zählte und berücksichtigt man, dass es während der etwa zwei Stunden langen Dauer der Manifestation ein ständiges Kommen und Gehen gab, so liegt man nicht falsch, wenn man insgesamt von mindestens 40.000 Protestierenden ausgeht.
Die Veranstaltung war nicht durchorganisiert. Ein Komitee hatte sich spontan gebildet und über Twitter, Facebook und Instagram einen Termin für den Protest angekündigt. Die Vorbereitung der Initiativgruppe beschränkte sich auf die Wahl des Ortes, die Festlegung der Uhrzeit und die Anmeldung bei den Behörden. Plakate, Transparente, etc. wurden nicht gestellt. Sie mussten von den Teilnehmenden mitgebracht werden. Bereits in den zurückliegende zwei Wochen hatte es kleinere Kundgebungen ähnlichen Charakters vor der amerikanischen Botschaft am Brandenburger Tor gegeben.
Bei der Kundgebung am Alexanderplatz gab es keine vorbereiteten Reden. Phasen der Stille wechselten sich mit Phasen gemeinsam artikulierter Sprüche wie „Black lives matter“ oder „No justice, no peace“ ab.
Überraschend an dieser Manifestation waren zwei Dinge. Zum einen die hohe Zahl der Teilnehmer, die trotz der von Medien und Politik unentwegt geäußerten Warnungen vor größeren Menschenansammlungen erschienen waren. Allein das Tragegebot von Masken wurde überwiegend beachtet. Zum anderen der Umstand, dass sich fast ausschließlich junge Leute zusammengefunden hatten. Kaum einer war über 25, viele sicher noch Schüler.
Motive der Jugendlichen
Eine große Rolle bei der Mobilisierung spielte die persönliche Betroffenheit. Durch die in den letzten zehn Jahren vollzogene Öffnung der Grenzen, die Internationalisierung der Produktion und die diversen Flüchtlingsbewegungen gibt es in der Schule und an der Universität immer mehr Jugendliche, deren Eltern aus anderen Ländern und Kulturen stammen. Für Schüler und Studenten gehört dies zur Alltagsrealität. Aus welchem Land jemand stammt, welchen kulturellen Hintergrund er hat, welcher Nationalität er und seine Eltern angehören, ist ihnen vollkommen egal.
Doch nicht alle in der Gesellschaft sehen dies so. Diskriminierungen für irgendwie „fremd“ aussehende Mitbürger gibt es noch vielfältig, bei Vermietern, bei Behörden, bei den staatlichen Sicherheitsorganen und bei dem Teil der Bevölkerung, der nach wie vor ausländerfeindlich gesinnt ist. Dass Rassismus nicht nur ein Phänomen der USA ist, sondern auch in der Bundesrepublik präsent ist, wollten viele der Teilnehmer nachdrücklich aufzeigen, Betroffene wie diejenigen, die mit ihnen zusammenleben und arbeiten.
Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass Jugendliche weltweit in großer Unruhe über ihre Lebensbedingungen und die Perspektiven der Zukunft sind. So gab es in den letzten zwei Jahren eine Vielzahl von Protestveranstaltungen zum Klimaschutz, die fast ausschließlich von Schülern und Studenten organisiert und besucht wurden.
Während sie zu ‚Vor-Corona-Zeiten‘ noch aus einer sozial gesicherten Situation protestieren konnten, hat sich diese mittlerweile dramatisch für sie geändert. Die Joberwartungen sind quasi über Nacht gering geworden, Praktikumsplätze werden plötzlich abgesagt und neue kaum angeboten. Durch den Wegfall von Nebenjobs etwa im Gastronomiegewerbe haben Tausende StudentInnen kein Einkommen mehr. Das öffentliche Leben ist dramatisch eingeschränkt, Kontakte zu Gleichaltrigen sind in der Schule und im Unibetrieb kaum möglich. Das Lernen für Prüfungen hat sich weitgehend in den häuslichen Bereich verlagert und findet dort isoliert statt. Private Treffen sind mit Sanktionen bedroht. Die Information der Medien wird als einseitig, regierungsnah empfunden. Ein öffentlicher Diskurs über die Corona Maßnahmen findet nicht statt. Kritische Stimmen werden ausgegrenzt wie diffamiert. Auf den weit verbreiteten Infokanälen wie YouTube werden viele Beiträge nach kurzer Zeit von den Zensoren des Unternehmens vom Netz genommen und nicht nur die der sog. Verschwörungstheoretiker.
Eine allgemeine Unsicherheit macht sich breit, bei der ungewiss ist, wann sie beendet sein wird. Der Alltag hat sich dramatisch geändert, die Zukunft sieht düster aus. Schlimmer ist wahrscheinlich noch das Ohnmachtsgefühl, das viele Jugendliche beschleicht, nichts gegen die Zustände unternehmen zu können. Wenn dann doch die Staatsmacht auftritt und das bereits drastisch eingeschränkte öffentliche Leben mit ständigen Eingriffen weiter verengt, die letzten Freiräume beschnitten werden, explodiert wie in Stuttgart oder bei der Kasernierung von ganzen Wohnblöcken in Göttingen und Berlin die angestaute Wut. Dieses derzeit gerade bei Jugendlichen weit verbreitete Gefühl, ein Objekt der Exekutive und seiner Sicherheitsorgane zu sein, die geschützt durch Ausnahmegesetze willkürlich Regeln anwenden, ist sicher ein weiterer Grund für die Breite der Solidaritätsbewegung.
Hinzu kommen noch andere Wahrnehmungen der letzten Monate. So zeigen alle westlichen Staaten, die von sich behaupten, Teil einer ‚Wertegemeinschaft‘ zu sein, eine komplette Ignoranz gegenüber den Flüchtlingen aus anderen Kontinenten. Sie zucken bei den vielleicht 20.000 im letzten Jahr im Mittelmeer Ertrunkenen nur mit den Schultern und behaupten, sie haben mit dem Schicksal dieser Menschen nichts zu tun. Sie leisten ohne moralisch mit sich in Zweifel zu geraten keinerlei Hilfestellung für die Flüchtlinge, die in den Lagern in Libyen oder Griechenland unter den elendigsten Bedingungen ohne medizinische Versorgung, ohne ausreichende Lebensmittel zusammengepfercht überleben müssen. Einzelne Länder verboten sogar die private Seenotrettung, ließen Schiffe nicht in ihre Häfen einfahren oder weigerten sich, wenn die Seenotretter doch noch nach zermürbenden Verhandlungen vor Anker gehen konnten, lange Zeit, die Boote wieder auslaufen zu lassen.
Während die Schicksale der Flüchtlinge anonym bleiben und deren Namen nur selten bekannt werden, war George Floyd ein real existierendes Individuum, bei dem man minutenlang den verzweifelten Kampf um sein Leben mit eigenen Augen verfolgen konnte. Hier wurde konkret nachvollziehbar, mit welchen Methoden die Staatsgewalt ihre Macht durchsetzt, wie sie ihre Ordnung schafft. Sie gestand George Floyd aus rassistischen Motiven nicht einmal das Recht auf Leben zu. Die Antwort der Jugendlichen auf diesen Staatsmord war einfach und klar: Uneingeschränkte Solidarität mit dem Opfer.
Was bleibt
Die Berliner Manifestation war, wie auch die anderen weltweit, keine Revolte. Im Kern war sie ein Kampf um demokratische Rechte, vor allem um die Kernforderungen des bürgerlichen Selbstverständnisses, dem Recht auf Gleichheit aller, ohne Abstriche für einzelne ethnische oder soziale Gruppen, dem auf körperliche Unversehrtheit und dem auf individuelle Freiheit. Die TeilnehmerInnen solidarisierten sich mit den amerikanischen Aktivisten. Sie unterstützten deren Warnung an die konservativen und reaktionären Eliten Amerikas, die mit breitem Widerstand rechnen müssten, falls sie in der Krise die Spaltung der abhängig Beschäftigten entlang ihrer Herkunft oder kulturellen Zugehörigkeit vertiefen wollten. Und sie richteten eine Botschaft an die hiesigen Institutionen und Organe des Staates, dass auch diese eine breite Bewegung zu erwarten habe, falls sie kommende Konflikte zu den Krisenfolgen und der Zukunftsgestaltung mit Repression und Polizeigewalt zu lösen versuchen.
In den folgenden Wochen gab es in Berlin noch weitere Kundgebungen und Demonstrationen zum Rassismus in den USA und in der Bundesrepublik. Sie zogen nicht mehr so viele Leute an wie Anfang Juni. Es waren jeweils noch einige Tausend.
Angespornt durch belgische und britische Aktivisten haben die Manifestationen in Berlin wie im Bundesgebiet eine politische Debatte über die koloniale Vergangenheit Deutschlands ausgelöst. Denkmäler mit rassistischen Motiven werden ebenso in Frage gestellt wie Statuen von Vertretern des Kolonialismus, Straßenumbenennungen gefordert und, wenn auch noch verzagt, eine Entschädigung der vom Kaiserreich ermordeten Hereros und Nama verlangt. Einige dieser Forderungen stehen schon seit Jahren auf der Agenda. Doch reaktionäre wie konservative Kräfte leisten im Verbund mit der bürgerlichen Presse erbitterten Widerstand gegen die Auslöschung ihres Geschichtsbildes, häufig unterstützt durch SPD.
Dass diese Diskussion aus den Hinterzimmern der Politik wieder in die Öffentlichkeit gezerrt wurde, und nunmehr deutlicher als bisher gesehen werden kann, wer auf welcher Seite steht, ist ein Verdienst der breiten Solidaritätsbewegung. Von der Thematisierung der Kolonialgeschichte ist der Weg dann auch nicht mehr weit zur Zuspitzung innenpolitischer Fragestellungen, wie der Verweigerung einer Studie zum Rassismus in der Polizei des Innenmisters, zur Afrikapolitik der Bundesregierung wie der EU. Hier soll nicht wie seitens der EU behauptet, eine Partnerschaft „auf Augenhöhe“ entwickelt, sondern die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse gefestigt werden. Ökonomisch sollen die afrikanischen Länder als Absatzgebiete für überschüssige Waren aus Europa erhalten bleiben. Die restriktiven Regeln für den Import von Gütern aus Afrika nach Europa werden nicht gelockert. Ein erheblicher Teil der von der EU bereit gestellten Gelder werden nicht für die wirtschaftliche Entwicklung der Ländern bereit gestellt, sondern in die Sicherheitskräfte resp. der Maghreb Staaten mit der Verpflichtung, mit vor allem polizeilichen Mitteln die bestehende Flüchtlingsströme um nahezu jeden Preis zu stoppen
H.B, 23.07.2020
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