Gedenkkundgebung für Erich Mühsam
„Nazi-Alarm in Britz!“

Korrespondenz

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Erich Mühsam 1928
Quelle: Bundesarchiv via wikimedia

„’Nazi-Alarm in Britz!‘ schrieb Erich Mühsam am 9. November 1931 hier an diesem Ort, in seiner Wohnung in der Dörchleuchtingstraße 48 in seinen Notizkalender.“ Mit diesen Worten eröffnete der Vertreter der Anwohner*inneninitiative ‚Hufeisen gegen Rechts‘ die Gedenkkundgebung am 11. Juli 2020. Weiter führte er u.a. aus: „Damals versuchten die Nazis mit einem Marsch durch die Siedlung ihre Stärke zu demonstrieren. Sie kamen nicht weit. Die Bewohner*innen – darunter auch Erich und Zenzl Mühsam – stellten sich ihnen in den Weg und versperrten den Zugang. In den frühen Morgenstunden des 28. Februar 1933 war das anders. Keiner stand parat, als die Nazi-Schergen ihn aus dem Bett holten und in das Gefängnis Lehrter Straße schleppten. Was folgte waren 17 Monate Martyrium, Folter und Qual in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. In der Nacht vom 9. auf den 10.Juli ermordete die SS Erich Mühsam im KZ Oranienburg.“

.Die über hundert Teilnehmer*innen an der Kundgebung erhielten über die Redebeiträge und die kulturellen Darbietungen der beiden Gitarristen „Trotter” Schmidt und „Bibi” Schulz mit neuvertonten Mühsam-Gedichten eine „Lehrstunde“ über alte und neue Nazis in Neukölln. In der Zeit der Weimarer Republik war der Bezirk Neukölln eine Hochburg der deutschen Arbeiterbewegung. Die Hufeisensiedlung zeugt davon. Sie wurde ab 1925 durch die GEHAG, eine vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund gegründete Baugenossenschaft, im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtet. Neben Erich Mühsam (1927 bis 1933) wohnten auch weitere bekannte Persönlichkeiten aus SPD und KPD in der Hufeisensiedlung, wie der Maler Heinrich Vogeler, der zeitweise der Opposition in der Kommunistischen Partei (KPO) angehörte. Zahlreiche Bewohner*innen der Hufeisensiedlung wurden ins Exil getrieben, landeten in den Konzentrationslager und überlebten den faschistischen Terror nicht.

Schon im Jahr 1925 – damals schien die NSDAP noch eine unbedeutende Sekte zu sein – warnte Erich Mühsam mit seinem Gedicht von dem „Land, wo die Faschisten blühn“ vor der faschistischen Gefahr auch in Deutschland (siehe Kasten). Die offiziellen Parteiinstanzen von KPD und SPD verharmlosten die Situation oder machten sich selbst etwas vor, beispielsweise mit der Behauptung, dass Deutschland nicht Italien sei, sogar noch als der Faschismus bereits an der Schwelle zur Macht stand. Es gab damals nur wenige kritische Stimmen in der Arbeiterbewegung, die solchen offiziellen Verlautbarungen der Parteivorstände widersprachen.[1]

Kennst du das Land, wo die Faschisten blühn,
im dunklen Laub die Diebeslaternen glühn,
ein Moderduft von hundert Leichen weht,
die Freiheit still und hoch der Duce steht?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
möcht ich mit dir, mein Adolf Hitler, ziehn!

Erich Mühsam aus „Mignon“, Berlin 1925

„Dieses rote Judenaas muss krepieren“, hatte der Berliner NSDAP-Gauführer Goebbels bereits 1931 verkündet. Der Brand des Reichstages in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 diente dann als Vorwand; unmittelbar danach, am Morgen des 28. Februar, wurden zahlreiche Aktivist*innen der Arbeiterbewegung festgenommen und in die Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Der Redner der Erich-Mühsam-Gesellschaft wies noch einmal auf die konkreten Umstände der Verhaftung von Erich Mühsam hin. Sie wurde von einem Kriminalbeamten geleitet und unter Mithilfe der SA vorgenommen. Die Nationalsozialisten konnten bei der Ausschaltung ihrer Gegner auf die Listen der preußischen Polizei zurückgreifen, die über lange Zeit von einem sozialdemokratischen Innenminister geführt wurde. „Angesichts der heutigen Technik bedarf es keiner besonderen Fantasie, sich die daraus erwachsenden politischen Möglichkeiten auszumalen“, so der Vertreter der Erich-Mühsam-Gesellschaft.

Erinnern heißt handeln

Dieses Motto der Anwohner*inneninitiative ‚Hufeisen gegen Rechts‘ griff deren Redner nochmals auf: „Hier zeigt sich, der Kampf gegen faschistische Bestrebungen muss dann geführt werden, wenn sie in der Entstehung sind. Sind die Faschisten einmal an der Macht, werden sie diese rücksichtslos und blutig verteidigen.“ In den letzten Jahren sind die Ortsteile Britz, Buckow, Rudow im Bezirk Neukölln zu Schwerpunkten neonazistischer Aktivitäten geworden. Rassistische Übergriffe, Brandanschläge auf politische Gegner und Morddrohungen; die Liste solcher und ähnlicher Straftaten ist lang, der Kreis der Neonazis in der Gegend überschaubar. Dennoch wurde keiner der Täter*innen bis heute gefasst oder verurteilt. Es fehlt bei den Strafermittlungsbehörden offensichtlich der ernsthafte Wille, dem rechtsradikalen Treiben Einhalt zu gebieten. „’Nazi-Alarm in Britz!‘ Der Ausruf von Erich Mühsam ist auch heute aktuell. Angesichts dieser Vorkommnisse und der Formierung der Rechten in der AfD und in ihrem Umfeld kann keiner sagen, er habe nicht gewusst, was sich […] in unserem Land zusammenbraut. Das gilt auch für unsere Sicherheitsorgane. Es ist kein Geheimnis, dass die AfD die Infiltration von Polizei und Bundeswehr zu einem ihrer zentralen Tätigkeitsbereiche erklärt hat; nachzulesen bei Björn Höcke in seinem Buch ‚Nicht zweimal in denselben Fluss‘. Die Nachrichten über den Abfluss von Daten aus Polizeicomputern in die rechte Szene sprechen dafür, dass diese Strategie nicht ohne Erfolge geblieben ist. […] Es kann nicht sein, dass sich von rechten Angriffen bedrohte Personen nicht mehr an die Beratungsstellen des LKA wenden wollen, weil sie befürchten, dass ihre Daten aus Polizeidatenbanken für Feindeslisten bzw. Bedrohungen der extremen Rechten verwendet werden.“

VVN/BdA auch für die Berliner Senatskoalition nicht gemeinnützig

Für die VVN/BdA Berlin spach auf der Kundgebung deren Geschäftsführer unter dem Beifall der Zuhörer. Der Vorstand der VVN/BdA hatte den Beschluss des Berliner Finanzamtes, ihnen die Gemeinnützigkeit zu entziehen, im vergangenen Jahr noch relativ gelassen aufgenommen. Niemand glaubte damals, dass dieser Beschluss unter einem rot-rot-grünem Senat Bestand haben werde; schließlich sei die Gemeinnützigkeit selbst im CDU-regierten NRW nicht in Frage gestellt worden. Ein Brief, der ihnen vor 14 Tagen zugestellt worden sei, belehrte sie eines Besseren. Sein Inhalt: Das Finanzamt Berlin folge der Argumentation des Bayerischen Verfassungsschutzes, der die VVN/BdA als linksextremistisch beeinflusst werte. Es liege nun an ihnen, diesen Vorwurf zu entkräften.

Obwohl der Entzug der Gemeinnützigkeit die finanzielle Austrocknung der Vereinigung zu Folge hätte, sei das Thema nicht ein einziges Mal Gegenstand im Koalitionsausschuss gewesen, noch habe es ein offizielles Gespräch mit Vertreter*innen der VVN gegeben. Die Parteien der Senatskoalition verstecken sich hinter den Beschlüssen der „unpolitischen“ Beamten aus dem Finanzamt Berlin, die sich wiederum auf die Einschätzung des Bayerischen Verfassungsschutzes stützen. Der Redner der VVN beleuchtete deshalb auch die Rolle ehemaliger Mitglieder der Gestapo bei der Gründung des Verfassungsschutzes in Bayern, wie sie auch bei Wikipedia nachzulesen ist (siehe Kasten).

Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz

Laut einer […] Studie wurden bei der Gründung der Behörde zahlreiche Experten mit einschlägiger Erfahrung aus den Reihen der Gestapo übernommen, so z. B. SS-Hauptsturmführer Leonhard Halmanseger, der sich schon am Reichssicherheitshauptamt bei der Bekämpfung der politischen Gegner der Nazis bewährt hatte, oder SS-Sturmbannführer Joseph Schreieder, der vor 1945 als Gestapo-Mann für die Bekämpfung des Widerstands in den Niederlanden zuständig gewesen war und der über den BND-Vorläufer Organisation Gehlen zum Landesamt kam. 1951 lehnte die US-Besatzungsmacht vier von sechs vorgeschlagenen neuen Verfassungsschutzbeamten unter Hinweis auf deren Vergangenheit ab. Unter den Abgelehnten befand sich auch Halmanseger, für den der damalige Innenminister Wilhelm Hoegner (SPD) eine pragmatische Lösung fand: Er wurde offiziell Beamter der bayerischen Grenzpolizei, arbeitete faktisch aber für den Verfassungsschutz. Auch andere Verfassungsschutzmitarbeiter wurden zunächst offiziell Bedienstete der Grenzpolizei. Unter dem Eindruck des Kalten Krieges wurden die Vorbehalte der US-Dienststellen gegen die erfahrenen Antikommunisten geringer, so dass Leute wie Halmanseger nun offiziell Verfassungsschutzbeamte wurden.

Aus: wikipedia

Die heutige Rolle des Verfassungsschutzes, der zahlreiche V-Leute im unmittelbaren Umfeld des NSU eingesetzt hatte, wurde während des Prozesses vom Gericht ausgeblendet. So blieb auch die Frage unbeantwortet, wieso trotz dieser Überwachung das Trio „unbemerkt“ über zehn Jahre mordend durch die Bundesländer ziehen konnte und wer die Helfer bzw. Hintermänner vor Ort waren.

Sich fügen heißt lügen!

Diesen Refrain aus dem Gedicht ‚Der Gefangene‘ schrieb Erich Mühsam im August 1919 während einer fünfjährigen Festungshaft wegen der Beteiligung an der Münchner Räterepublik. Er steht für sein gesamtes politisches Engagement: Gegen Ausbeutung und Unterdrückung, gegen die staatliche Repression in der Weimarer Republik und schließlich gegen den aufkommenden Faschismus, deren besonderen Hass er auf sich gezogen hatte und deren Opfer er bereits 1934 wurde.

Sich nicht fügen sollte auch zum Motto unseres heutigen Engagements werden, nicht nur gegen die AfD und deren rechtsterroristischen Umfeld, sondern auch gegen die sozialen und politischen Umstände, die dem Rechtspopulismus Vorschub leisten. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die Hufeisensiedlung zwar als städtebauliches Ensemble noch erhalten ist, aber mit ihrem ursprünglichen sozialen Inhalt nichts mehr gemein hat. Die einst gewerkschaftliche und nach 1945 kommunale Genossenschaft GEHAG wurde 2007 privatisiert. Sie gehört heute dem größten Immobilienkonzern in Berlin, der Deutsche Wohnen SE.


  1. Siehe die Rede Clara Zetkins „Der Kampf gegen den Faschismus“ von 1923. Abgedruckt im Sonderheft der Arbeiterpolitik „Rechtspopulismus heute und in der Weimarer Republik. Droht ein neuer Faschismus?“, Juli 2020.

aus Arbeiterpolitik Nr. 3/4 2020

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