Im Folgenden stellen wir das Buch von Wolfgang Ruge „Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte“ vor. Dabei möchten wir auch auf die von uns 1988 veröffentlichte Broschüre zum Thema: „Weiße Flecken – Über die Geschichte der Sowjetunion“ hinweisen, die den bis heute aktuellen Diskussionsstand der Gruppe Arbeiterpolitik widerspiegelt.
Seine erste Kritik des Stalinismus hat der Ostberliner Historiker Wolfgang Ruge[1] gleich nach der Implosion der DDR veröffentlicht; zum großen Teil hatte er sie wohl schon fertig im Kopf. Zahlreiche Zeitungsartikel und das im Herbst 1990 folgende Buch haben ihm nicht wenige Anfeindungen von Lernunwilligen eingetragen. Die Buchmacherei hat es jetzt wieder neu herausgebracht: „Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte“.
Wolfgang Ruge analysiert die stalinistische Entgleisung der Sowjetunion nicht vom nur-theoretischen Standpunkt aus; er hat diese Geschichte selbst erlebt in ihren schwärzesten Auswüchsen und ist nur mit knapper Not der Vernichtung durch Arbeit entkommen. Er hätte allen Grund gehabt, den Sozialismus zum Teufel zu wünschen und zum Gegner über zulaufen. Dass er sich in drei Büchern und vielen Artikeln auf weit über tausend Seiten bemüht, der Gemeinde der ehemals Gläubigen die Entwicklung von den sozialistischen Ansätzen hin zum Massenterror ohne Beschönigung zu erklären – wohl auch: sie sich selbst zu erklären – und zum sozialistischen Neuanfang aufzurufen, zeigt seine tiefe Überzeugung von der letztendlich guten Sache, von der Fortschrittsfähigkeit der Menschheit.
Wolfgang Ruge hat sich 1933 als 16-jähriger Jungkommunist nach Moskau gerettet. Dort entging er zwar den großen „Säuberungen“, denen massenhaft Kommunisten zum Opfer fielen, auch Menschen aus seinem Umfeld. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde er aber 1941 trotz sowjetischer Staatsbürgerschaft mit anderen Deutschstämmigen[2] deportiert, in Zwangsarbeitslager zum Holzfällen – darunter wolgadeutsche „kulakische“ Sowjetfeinde, aber z. B. auch ein hochdekorierter Kampfflieger der Roten Armee und ein Mitglied des Obersten Sowjet. Wer aus Schwäche die Holz-Norm nicht schaffte, bekam weniger Verpflegung, wurde noch schwächer, verhungerte, erfror oder wurde erschossen.
Erst 1956 konnte Ruge seine Entlassung in die DDR durchsetzen – mit einem sowjetischen Diplom in Geschichtswissenschaft in der Tasche, das er von seinem Verbannungsort aus in einem Fernstudium erworben hatte. In der DDR arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften, unter Schweigegebot bezüglich seiner russischen Erlebnisse. Er wurde einer der bekanntesten Historiker der DDR. Seine Erfahrungen in Stalins Sowjetunion hat er sehr anschaulich und schauerlich zu einer Teil-Autobiographie verarbeitet, die in der ersten Fassung 2003 erschien.[3]
War der Stalinismus zwangsläufig oder vermeidbar? War das Sozialismus? Das sind Wolfgang Ruges zentrale Fragestellungen, und er stellt spannend und verständlich dar, „wie dieser ursprünglich emanzipatorische, also tatsächlich auf die Befreiung der arbeitenden Klassen gerichtete Vorsatz unter den gegebenen Umständen immer unkenntlicher wird und schließlich in eine unvorstellbar opferreiche, repressive Herrschaftspraxis mündet.“[4]
In „Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte“ beschreibt Ruge, wie die russische Intelligenzija, durch die zaristische Despotie zum Verschwörertum getrieben, mit all ihren Bemühungen scheitert, das leidende Volk zu erlösen. Ein Sturz des Regimes scheint nur noch durch die Arbeiterbewegung möglich – Lenins Konzept einer revolutionären Arbeiterpartei wird in der Illegalität autoritär und konspirativ. Die Partei ist ihm der Hebel zur Machteroberung. Dieses Revolutionsverständnis sieht die Massen als Objekt – es stimme nicht gerade mit dem von Marx und Engels überein, stellt Ruge zutreffend fest.[5]
Die Unausweichlichkeit der russischen Revolution lag begründet in dem ungeheuerlichen Reformstau auf dem Lande, der sich schon 1905 entlud: Bauern stürmten und brandschatzten die Schlösser und brachten ihre Herrschaft um – nach der Niederschlagung der 05-er Revolution rächte sich der Adel mit Massenexekutionen. So vertiefte sich der Klassenhass, später im Bürgerkrieg Grundlage des Sieges der Roten Armee.
Die Lernprozesse der Massen in den acht Monaten nach der Februarrevolution 1917 beleuchtet Ruge leider nur unzureichend. Zwar hat Lenin die Unmöglichkeit einer bürgerlichen Zwischenetappe frühzeitig erkannt und sie mit seiner autoritär strukturierten Partei zu verhindern gesucht – aber warum können die Bolschewiki im Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären die Mehrheit in den Arbeiter- und Soldatenräten, ja auch in den Bauernräten erringen und eine neue Regierung installieren? Das Abwirtschaften der Kerenski-Regierung, die den Krieg nicht beenden und den Bauern nicht die Aneignung der Adelsgüter freigeben konnte, ohne auch das schwache städtische Besitzbürgertum der Wut der Massen auszuliefern, lag außerhalb des Einflusses der Bolschewiki und ist nicht von ihnen „gemacht“.
Bestimmen Sachzwänge oder die Absichten Lenins?
Anschaulich stellt Ruge die extremen Notlagen dar, die die revolutionäre Regierung im Ringen um die nackte Existenz zur schrittweisen Ausschaltung der Räte und zur verschärften Parteiherrschaft drängen, so beim Frieden von Brest-Litowsk, bei den Getreidebeschlagnahmungen, bei den Gewaltexzessen des Bürgerkrieges – die andere Seite der Medaille, die autoritäre Elitekonzeption Lenins, seine Gewaltausübung und die hierarchische Struktur seiner Partei, dürfte dabei aber wohl mehr Folge als Ursache gewesen sein.
Wolfgang Ruge will die Zuspitzung zur Diktatur hauptsächlich auf Lenins Wirken zurückführen. Auf welche „gewaltigen Schwierigkeiten, die sich vor Lenin und seiner Regierung völlig unabhängig von seinem Tun und Lassen auftürmten“[6], Lenin notgedrungen mit Improvisation reagierte, beschreibt Ruge mit großer Anschaulichkeit, nur sucht er sich immer wieder Schlupflöcher aus seiner eigenen Analyse, um das Abgleiten ins Diktatorische auf Lenins politische Einstellungen zurückzuführen. So zeigt er die Existenzkrisen, die man gehofft hatte, mithilfe kommender westeuropäischer Revolutionen zu vermeiden, und die Griffe nach scheinbar rettenden Strohhalmen. Dann aber führt er das Handeln der Partei auch unvermittelt darauf zurück, dass Lenin konzeptionslos bleibt, keine konsistente Staatsstruktur entwirft und die montesquieusche Gewaltenteilung ablehnt. Hier will Ruge offensichtlich beweisen, dass die Geschichte auch bei der Entwicklung der Sowjetunion „offen“ war, weil menschengemacht.
So spürt man hinter Ruges Argumentation mitunter die Absicht, seiner Ex-SED-Genossenschaft den Kopf zu waschen und das erstarrte Dogmengebäude einzureißen – dabei schießt er manchmal über das Ziel hinaus, indem er Wurzeln der stalinistischen Auswüchse schon im Marxismus verortet. Was von Marx als Tendenz analysiert war, so das Heranreifen der Bedingungen für den Sozialismus, kritisiert er als Automatismus und mechanistische Gesetzmäßigkeit, ganz so wie die Parteigewaltigen den Marxismus jahrzehntelang verzerrt haben. Auch die letztendliche Bestimmung historischer Entwicklungen durch die ökonomischen Notwendigkeiten versteht Ruge nicht als widersprüchliche Summe ökonomisch motivierter, teils mächtiger Einzelwillen, sondern kritisiert sie als voluntaristisches Einführen einer „bewusstlos agierenden Macht“.
Marx und Engels hatten angesichts der nach Veränderung schreienden Verhältnisse in Russland zwar eine vorpreschende russische Revolution mit Signalwirkung für möglich gehalten.[7] Sie waren aber unter anderem an dem jahrzehntelangen Hin und Her der französischen Revolution geschult – ihrem weiten historischen Blick kann man nicht unterstellen, dass sie einer einsam bleibenden russischen Revolution den Aufbau des Sozialismus in einem derart unterentwickelten Land zugetraut, geschweige denn ein solches Experiment als Prüfstein für eine „gesetzmäßigen Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus/Kommunismus“ akzeptiert hätten. Die Parole „Der Sozialismus hat auf ewig gesiegt“ hat sich als etwas vorschnell erwiesen – das kann man allenfalls denen vorwerfen, die sich an dieser falschen Gewissheit festgeklammert und sie verbreitet haben, nicht aber Marx und Engels, so wie Ruge das hier tut. So bleibt seine Kritik an diesem Punkt gefangen in den Voraussetzungen, die das Parteiregime geschaffen hat.
Für die Gründung der Tscheka sieht Ruge die „außerordentliche Härte des Klassenkampfes“ als Ursache und hält ihre demokratische Kontrolle unter den Bedingungen des Bürgerkrieges für undenkbar. Die Hungersnot, die Bauernaufstände am Ende des Bürgerkriegs und der Aufstand der Kronstädter Matrosen werden zwar als Grund angeführt für die notgedrungene Wiederzulassung der Märkte – und die Widerstände in der Partei gegen diese Rückkehr zu kapitalistischen Mechanismen muss Lenin mit dem Fraktionsverbot unterbinden. Entgegen der Stringenz seiner eigenen Argumentation schiebt Ruge dann aber plötzlich den Gedanken ein, dass eine Parteispaltung womöglich demokratisch gewirkt hätte – Lenin habe verkannt, dass Einparteiensysteme diktaturfördernd sind.
Auch wenn Lenins Entschiedenheit und Führungsqualitäten große Bedeutung zukam, so waren seine Äußerungen doch stets von taktischen Notwendigkeiten bestimmt, um unter den rückständigen – für einen Sozialismus unmöglichen – russischen Bedingungen die Macht zu erobern und zu erhalten. Sie sind deshalb nur von geringer Allgemeingültigkeit – dennoch meint Ruge, Lenin gelte „zu Recht als bedeutendster kommunistischer Theoretiker“.[8]
Woher kommt dieses widersprüchliche Festhalten am Lenin-Dogma?
Wolfgang Ruges Familie gehörte am Ende der Weimarer Republik zum inneren Kreis der KPD – seine Mutter „arbeitete“ für den Geheimdienst der Komintern – zu einer Zeit, als man längst „Heil Moskau“ rief, das Führerprinzip kopiert hatte und kommunistischen Abweichlern mit Schlägertrupps zu Leibe rückte.[9]
Das Revolutionsverständnis Rosa Luxemburgs – die Organisation ist treibender Teil der Selbstertüchtigung der Massen für deren Machtergreifung – hatte sich durch die Begeisterung für die russische Revolution, die blanquistische Parteikonzeption Lenins, die Unterordnung unter die Komintern, die Rubelfinanzierung und die Zwangsmaßnahmen Stalins in sein Gegenteil verkehrt: Die KPD und ihre großen Führer waren in den Mittelpunkt gerückt. Um sie habe die Arbeiterklasse sich zu scharen – dann werde sie zur Revolution geführt. Für das „Wie“ fiel den Führern dann nur noch die lautstarke revolutionäre Selbstdarstellung ein, die gemeinsame praktische Klassenaktionen und -lernprozesse verhinderte.
Diese Auffassung von der Partei als ausschlaggebendem Faktor wirkt offensichtlich ewig lange nach, und so sucht auch Ruge hauptsächlich nach Punkten, wo die Partei sich hätte anders und besser entscheiden müssen – er wünscht sich eine bessere Parteiführung, die es zu Stalins Herrschaft gar nicht erst hätte kommen lassen. Vor allem bedauert er, dass Lenin nicht so war, wie er ihn sich gewünscht hätte. Hier behindert Lenins „schöpferische Anwendung“ des Marxismus noch die Kritik des „Leninismus“. Dies macht das eigenartige Nebeneinander in Ruges Analyse aus: Er propagiert alternative Wege, deren Gangbarkeit er soeben argumentativ den Boden entzogen hatte. Damit kommt Wolfgang Ruge aber sehr viel näher an eine schlüssige und verständliche Darstellung als all jene, die die Geschehnisse in der Sowjetunion aus den Aussagen der Führungspersonen ableiten wollen.
Der Weg in die Despotie
Schon unter Lenin sind also die wesentlichen Voraussetzungen für Stalins Gewaltherrschaft geschaffen: die Gewöhnung an Gewaltexzesse durch die aufgezwungene Brutalität im Bürgerkrieg, ein unkontrollierter Geheimdienst, die Verfolgung von Abweichlertum in der diktatorisch herrschenden Partei. Und 1922 wird dann Stalin, der wenig anderes kann als Bankraub, Massenexekutionen, Taktik und Organisieren – und als Volkskommissar für Arbeiter- und Bauerninspektion bereits die Kontrolle der Staatsorgane unter sich hat – auf Vorschlag Lenins zum Generalsekretär des ZK der KPdSU berufen. Alle wichtigen personellen „Vorschläge“ für die formalen Parteiwahlen laufen nun über Stalins Schreibtisch. In Folge des Niederbruchs der Produktion ist die Arbeiterklasse 1921 weitgehend verschwunden, und viele kommunistische Arbeiter sind im Bürgerkrieg gefallen oder im gewaltig aufgeblähten Apparat aufgegangen – die neu in die Partei strömenden Massen sind bereits an Gehorsam gewöhnt.
Weil die westeuropäische Revolution, mit deren Unterstützung Lenin und die Seinen fest gerechnet hatten, ausgeblieben war, rückte der Wirtschaftsaufbau im isolierten Russland immer mehr in den Vordergrund. Damit wuchs die Bedeutung der Organisation von Staat und Partei ins Übermächtige, und es war der organisationsgewaltige Stalin, der die Parole des „Sozialismus in einem Lande“ auch aussprach. Das sozialistische Experiment ging schleichend in ein erzwungenes nationalistisches Aufbauprogramm über.
Ruge beschreibt, wie Sinowjew 1924 (nach Lenins Tod im Bund mit Stalin) Trotzki zwingt, seine eigene Überzeugung zu verdammen – Heuchelei, Selbstkritik und die Pflicht zur kritiklosen Zustimmung werden selbstverständlich. Während der Periode der NEP[10] bis 1928 baut Stalin Im Hintergrund seine Machtposition aus und schaltet seine Konkurrenten aus, bis er das von Trotzki übernommene Programm zur radikalen Industrialisierung und zur Militarisierung der Arbeit widerstandslos durchsetzen kann. Schon Ende der 20er Jahre beginnen die Strafarbeitslager anzuschwellen. 1929 war der Partei- und Staatsapparat vollständig auf Stalin eingeschworen.
Hätten die Marktmechanismen bestehen bleiben können bei gleichzeitiger Weiterexistenz der Parteidiktatur, wie Bucharin das wollte? Die Bourgeoisie hatte ja vor der Modernisierungsaufgabe versagt, und die Bauern hatten auch 1927 wieder das Getreide zurückgehalten, weil sie auf dem Markt nichts Vernünftiges kaufen konnten. Die Frage scheint ungeklärt. Aus Sicht der Parteimehrheit damals war das kein gangbarer Weg mehr.
Es ist kein angehäufter Reichtum vorhanden, und so kann die Industrialisierung nur auf Kosten der Bauern durchgezogen werden. Das Zurückhalten von Nahrungsmitteln kann die diktatorisch herrschende Partei dabei ebenso wenig dulden wie eine wirtschaftliche Basis liberaler Ideen. Prüfstein der Berechtigung der Parteiherrschaft wird der industrielle Fortschritt zwecks Besserung der Lebenslage der Bevölkerung und die Verteidigungsfähigkeit gegen äußere Bedrohung. Die sozialistische Propaganda ist Stachel der Aufbaubegeisterung der Jugend, die die millionenfachen Opfer der verhungernden Kleinbauern, der in der Zwangsarbeit Umgekommenen und die wirtschaftlichen Schäden der Umwälzung der Landwirtschaft überstrahlt. Ruge führt an, dass die Zwangsarbeit ineffektiv war, Pläne nicht erfüllt wurden – aber welche andere Möglichkeit bestand unter den russischen Bedingungen Anfang der 30er Jahre, die radikale Aufbauarbeit ohne gefüllte Lohnschatullen zu organisieren?
Ruge macht dann den Mord am Leningrader Parteiführer Kirow 1934 zum Beginn des entfalteten Stalinismus, weil er als Vorwand diente zur Ausrottung der Kommunisten. Da war aber der Massenmord bei der Zwangskollektivierung und -industrialisierung schon gesellschaftliche Routine. Mindestens 25 Millionen Tote gingen auf das Konto der Zwangskollektivierung und des großen Terrors. Die hunderttausendfachen Hinrichtungen, willkürlich als Planvorgabe über die Gesellschaft verteilt, erzwangen Disziplin und Gehorsam. Der über das ganze Land verbreitete Massenterror festigte die kritiklose Gefolgschaft gegenüber der Hierarchiepyramide – und auf all ihren Stufenleitern. Und die Apparatschiks nahmen für ihre Beteiligung an der Macht die bedingungslose Unterordnung unter den Nächsthöheren in Kauf. Ein Apparat von sturen Befehlsempfängern war die Folge – und die gründliche Ausmerzung von Tüchtigkeit und Innovation.
Die alte Garde und mit ihr Zehntausende Parteimitglieder mussten wohl sterben, um potenzielle Widerstandskerne gegen Stalins Massenmorde auszuschalten und Verschwörungen gegen den Diktator zuvorzukommen.
Misstrauen und Selbstbezichtigungen werden zur Pflicht, überzeugte Kommunisten „gestehen“, um der Partei nicht zu schaden. Denunziation wird der Strohhalm, an den man sich – oft vergeblich – klammert zur Sicherung des eigenen Überlebens. Jeder Funktionsträger wird zum Mittäter. Die Morde an Wissenschaftlern und Künstlern unterbinden das Schöpfertum.
Das Volk mit Gewalt zum Fortschritt zu peitschen, hatte seit Peter dem Großen in Russland Tradition, wenn auch in wesentlich kleinerem Maßstab. Und so ergaben die Tradition der Unterwürfigkeit, die Angst vor äußeren Bedrohungen, die Aufbaubegeisterung und der Stolz, zu den Vorreitern des Sozialismus zu gehören, ein Bedürfnis nach einer volkstümlichen Führerfigur – die sich ausgerechnet im Personenkult um Stalin fand.
Ruge geht ausführlich auf den Sadismus und die Paranoia des „geliebten Führers der Völker“ ein. Das lässt aber Fragen offen: Sind die sadistischen Eigenschaften des Despoten die Ursache, oder passten sie nur zur „Aufgabe“? Mussten nicht die trotz Fraktionsverbot stattfindenden Fraktionskämpfe zur Ausschaltung von Widersachern führen und zur Stärkung der beherrschenden Figur des immer gewichtiger werdenden Organisationsmolochs? Musste nicht die Angst, selbst ausgeschaltet zu werden, Stalins Paranoia hervorbringen und verstärken? Schon 1927 wurde Stalin eine fortschreitende Paranoia diagnostiziert, was den Arzt einige Tage später das Leben kostete.[11] Wer für so viele Morde verantwortlich ist, muss wohl glauben, sich nur durch Morde retten zu können.
So wie die Notwendigkeiten der russischen Revolution Lenin geformt haben – in viel stärkerem Maße als Lenin die russische Revolution „gemacht“ hat – so hat der Druck zur Industrialisierung genau den Stalin hervorgebracht, dessen sich überschlagende Alleinherrschafts-Paranoia dann mit der Hinrichtung der Militärführung fast in die Selbstvernichtung geführt hätte: Zehntausende Offiziere, über 80% des höheren Kommandobestandes der Roten Armee, wurden kurz vor dem deutschen Überfall ausgerottet.
Trotz ihrer tyrannischen Verfasstheit blieb aber die stalinistische Sowjetunion, weil die Produktionsmittel dem Kapital entzogen waren, extremer Widerpart des Faschismus. Der zur Verteidigung mobilisierte Nationalismus, gestärkt durch den Stolz auf die Aufbauerfolge, machte die Sowjetunion zum Rückgrat des Sieges über den Faschismus – der an Stalins militärischem Dilettantismus aber fast noch gescheitert wäre.
Wie die meisten Zeitgenossen hat auch Ruge nicht erkannt, dass bei der Wandlung zu einer nationalistischen Schreckensherrschaft der Sozialismus verloren ging. Die wirtschaftliche Funktionsweise, die gewaltigen Veränderungen durch Industrialisierung und Urbanisierung in ihrer Wechselwirkung mit dem staatlichen Terrornetzwerk erwähnt Ruge nur beiläufig: Das extensives Wachstum habe das System sichern können, an der schöpferischen Weiterentwicklung musste es versagen.
Das Scheitern
Das Scheitern des sowjetischen Sozialismusversuchs nur auf die Stalinsche Gewaltherrschaft, deren Grundlagen schon Lenin gelegt hatte, zurückzuführen, greift zu kurz. Heute wissen wir, dass aus analphabetischen Bauernmassen, die mit Gewalt in Fabriken, Bergwerke und Straflager gezwungen worden waren, keine selbstbewusste Arbeiterklasse werden kann. Ohne die Möglichkeit, sich für ihre Interessen zu organisieren und zu kämpfen, kann sie auch nicht lernen, sich in Steuerung von Produktion und Gesellschaft einzumischen und selbst das Ruder zu übernehmen. Ruge stellt fest, dass ein Regime, das Eigenständigkeit und Schöpfertum verfolgte, Initiative abtötete, kein Weg sein konnte in eine Gesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.[12]
So war Stalins Terrorherrschaft Ergebnis der Zwangslage, ein rückständiges Riesenreich ohne Herrschaft des Kapitals im Schweinsgalopp in die Moderne zu peitschen, und an dieser Zwangslage ist der sowjetische Sozialismusversuch gescheitert. Die wesentlichste Rahmenbedingung dabei aber war, dass der Kapitalismus in Westeuropa sich vor den sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse hatte retten können und die unterentwickelte Sowjetunion allein bleib. Nach wie vor unklar und umstritten bleibt, an welchem Punkt die sozialistische Perspektive sich verlor und nur noch als verschleierndes Lippenbekenntnis für Stalins nationalistischen Aufbauterror fungierte.
Als Weg, um zum Sozialismus zu kommen, war der Stalinismus also mit Sicherheit eine Sackgasse. Für die Vergewaltigung der russischen Gesellschaft, um sie auf den Weg zur Erneuerung zu zwingen und ihr Überleben als eigenständiger Staat zu sichern, scheint er ein notwendiges Durchgangsstadium gewesen zu sein. In welchem Maß die terroristischen Gewaltorgien dafür unvermeidlich waren oder auf Stalins Paranoia zurückzuführen sind, kann auch Ruge nicht klären.
Nur: diese und andere Akkumulationsvorgänge, die erst die Basis an Produktionsmitteln schaffen, die den Übergang zum Sozialismus ermöglichen können – nicht: ihn zwangsläufig erzeugen – haben mit Kommunismus nichts zu tun. Diese unsinnige Verknüpfung verdanken wir den Führern der KPdSU.
Der Kapitalismus und die von ihm erzeugten Menschheitskrisen bringen die Suche nach Wegen zum Sozialismus erneut hervor, und nur ein grundlegender Wandel kann die Menschheit vor der Vernichtung retten. Daran 1990 entgegen dem Zeitgeist festgehalten zu haben, bleibt ein großes Verdienst Wolfgang Ruges.
K. D., Berlin
Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte
von Wolfgang Ruge
192 Seiten
12,00 €
Verlag Die Buchmacherei
ISBN 978-3-9820783-8-0
[1] geboren 1917 in Berlin, gestorben 2006 in Potsdam
[2] etwa eine Million „Deutsche“ wurden zwangsumgesiedelt
[3] Wolfgang Ruge, Berlin – Moskau – Sosswa, Berlin 2003; überarbeitete Fassung: Gelobtes Land, Berlin 2012
[4] Vorwort von Eugen Ruge in: Wolfgang Ruge, Lenin, Vorgänger Stalins, Berlin 2010, Seite14
[5] Ruge, Stalinismus, S. 70
[6] Ruge, Lenin, S.164
[7] Marx hat extra Russisch gelernt, um Tschernyschewskis Was tun? im Original lesen zu können
[8] Ruge, Stalinismus, Seite 111
[9] so bei Veranstaltungen der KPD-Opposition
[10] Neue Ökonomische Politik, Zulassung der Marktmechanismen
[11] Ruge, Stalinismus, Seite 49
[12] Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 482
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