China – Aufstieg eines neuen Imperialismus ?

Buchbesprechung

Ein Buch versucht eine Analyse

Um Chinas Rolle in der Welt einschätzen zu können, ist das Verständnis seiner inneren Verfasstheit von großer Bedeutung. Und sind Hoffnungen in Chinas Sozialismus noch gerechtfertigt? Renate Dillmann hat hierzu 2011 eine fundierte Geschichte des nachrevolutionären China vorgelegt, die schon wegen ihres Kenntnisreichtums die Lektüre lohnt. Die Buchmacherei bringt den Band jetzt wieder neu heraus, mit einem aktualisierenden Vorwort der Verfasserin.1

Gut nachvollziehbar werden hier die historischen Entwicklungen beschrieben, so das skrupellose, kriegerische Aufknacken des abgeschotteten Reichs der Mitte durch die imperialistischen Staaten im Vorlauf der Revolution – wobei sich das verspätete Deutschtum durch besondere Schneidigkeit auszeichnet. Zersetzung, Elend und Ausbeutung nehmen unvorstellbare Ausmaße an. Ihre Maßnahmen zur Befreiung der Bauern vom feudalen Joch verschaffen den Kommunisten den entscheidenden Zulauf. Deutlich wird dann, wie für die bürgerlich-revolutionäre Bewegung gegen die fremde Herrschaft, die Goumindang, die Niederschlagung der sozialen Befreiungsbewegung wichtiger wird als der Kampf gegen die japanische Besetzung – so gewinnen die Kommunisten auch den Nimbus der einzig konsequent nationalen Kraft und die Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager – wenn auch nicht von denen, die enteignet werden. Sie siegen wegen der ungeheuren Sprengkraft der elenden Lage der Bauern, denen sie mit der Landzuteilung eine Perspektive bieten. Die Einrichtung einer staatlich geplanten Wirtschaftsweise ist logische Konsequenz der vom Kapitalismus angerichteten Zerrüttung und erlaubt es, den Wiederaufbau nach den Kriegszerstörungen rational zu steuern. Für die Massen verwirklicht sich der Traum von einer „guten Herrschaft“, wenn auch auf Armutsniveau.

Um die Entwicklung zu beschleunigen, versucht es Mao mit moralischen Massenkampagnen, deren katastrophales Scheitern den Weg frei macht für Deng Xiaopings Einführung kapitalistischer Elemente, schließlich für die Öffnung zu einer kapitalistischen Akkumulation mit internationalem Kapital, die zwar vorsichtig ins Werk gesetzt, dann aber beherrschend wird und alle inneren Verhältnisse verändert. Die staatseigenen Industriebetriebe müssen rentabel werden und dürfen Personal entlassen, die Gründung privater Betriebe wird erlaubt. Die Volkskommunen werden ersetzt durch bäuerliche Privatwirtschaft der Familien, was zwar für höhere Lebensmittelproduktion sorgt, aber zu kleine Parzellen begünstigen dann auch Konzentrationsprozesse und die Landflucht.

Eine neue Klassengesellschaft wird geboren, aus Bauern und Arbeitern werden freie Lohnarbeiter, sie verlieren ihre soziale Sicherheit, ihre „eiserne Reisschale“, und werden der freien Konkurrenz ausgesetzt. Millionen werden aus den Staatsbetrieben entlassen, Arbeitsbedingungen mit frühkapitalistischen Exzessen halten Einzug. Teile der Funktionärseliten mutieren zu Kapitalisten und die Korruption breitet sich aus. Den ausländischen Investoren stellt man Sonderwirtschaftszonen mit Infrastruktur und billigen Arbeitskräften zur Verfügung, der Arbeitsschutz wird dort zunächst aufgehoben. Ihre Profitsucht lässt die ausländischen Unternehmen die Bedingungen schlucken, die der chinesische Staat ihnen setzt: Beteiligungen und Technologietransfer zwecks Aufbau chinesischer Kapitalgesellschaften. Die schnelle Verbesserung des Lebensstandards führt trotz zahlreicher Massenproteste und Arbeitskämpfe zu Aufbruchstimmung und Loyalität zur Führung. Die chinesischen Partner der ausländischen Investoren, meist Staatsbetriebe, werden weltmarktfähig und expandieren erfolgreich. Resultat des wirtschaftlichen Siegeszuges der Profitwirtschaft sei der Aufstieg eines chinesischen Imperialismus, der aufgrund seines Erfolgs den erbitterten Widerstand und die Aggression der USA und ihres Gefolges hervorruft.

Man liest Dillmanns Nachzeichnung des chinesischen Aufstiegs mit all seinen Versuchen, Brüchen, Widersprüchen und Problemen mit Gewinn. Die Interpretation des Geschehens – und was daraus abgeleitet wird – lässt dann allerdings zu wünschen übrig.

Vom Weiterlesen sollte man sich zunächst nicht dadurch abhalten lassen, dass Renate Dillmann zu Beginn ein schwer erträgliches, scholastisches Kapitel über Nation und Kommunismus einschiebt, das für eine marxistische Grundschulung ihrer Studenten sicher ganz nützlich sein mag, aber den Kommunismus für etwas hält, das kommunistische Bewegungen – einmal an die Macht gelangt – willentlich in die Welt setzen können. So als gehöre das Überflüssigwerden des Staates nach jeder Revolution sofort und unmittelbar auf die Tagesordnung. Wenn die chinesischen Kommunisten das nicht tun, liegt es Dillmann zufolge an ihrer unvollkommenen Kritik an Kapitalismus und Staat, an ihrem „Staatsidealismus“, der sie an der Überwindung der Wertproduktion hindere. Dieses Kapitel geht vorüber, zeigt aber an, unter welchem Hauptgesichtspunkt die chinesische Geschichte hier interpretiert werden soll. Das führt zu seltsamen Ergebnissen.

In erster Linie betrifft das die Vorstellung vom Sozialismus. Rein sein soll er sein, wie man es wohl im Gefolge der Studentenbewegung gelernt hat.

Von der chinesischen Bauernrevolution aber zu verlangen, innerhalb der ersten 70 Jahre einen Sozialismus zu installieren, ist illusorisch und berücksichtigt in keiner Weise die unvorstellbar rückständigen Ausgangsbedingungen der chinesischen Agrargesellschaft, obwohl sie in den Anfangskapiteln so anschaulich beschrieben werden. Diese Bedingungen wurden durch die Revolution aufgehoben – aufgehoben natürlich im doppelten Wortsinn, sie wirkten also weiter. Sie bewirkten, dass in Abwesenheit einer gereiften Arbeiterklasse eine bürokratische Staatswirtschaft installiert werden muss, die die Interessen des „Volkes“ vertritt, nicht nur die des (nur minimal vorhandenen) Proletariats. Diese Rückständigkeit ergibt Klassenkompromisse und programmatische Verschwommenheiten („Volkseigentum“, „geplanter Markt“), die Renate Dillmann aber für Resultate von „Dummheit“ hält2 und für Keime der Abweichung vom Sozialismus. Dass die chinesischen Kommunisten sich bürgerliche Forderungen nach Gerechtigkeit und allgemeiner Wohlfahrt zu eigen machen, zeige ihre „falsche staatsideologische Kapitalismuskritik“3, was dann für die Ursache kommender Übel gehalten wird. Ihr „volksfreundliches Herrschaftsprogramm“ zur Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit und zur Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Effizienz habe zwar zu enormen materiellen Verbesserungen, zu Bildung und nie gekannter sozialer Sicherheit geführt, begründe sich aber aus diesem „Fehler“ und hindere die Menschen, als Subjekte über Arbeit, Zeit und Konsum zu entscheiden und das „Reich der Freiheit“ zu erobern4. So nimmt die Analyse die materiellen Voraussetzungen nicht zur Kenntnis und führt die Versäumnisse zurück auf das mangelhaft kommunistische Denken der KP-Führer, die den Kapitalismus nur halbherzig kritisiert hätten. Dass es die Massenarmut war, die äußere Bedrohungslage und der Druck der Tradition, wieder zum Reich der Mitte zu werden, was China zur Beschleunigung der nachholenden Entwicklung gedrängt hat, erscheint hier dagegen unwesentlich. Tatsächlich ist es aber vor allem die soziale Lage der Bauern, später auch der Arbeiter, die eine Weiterentwicklung verlangt; die Überlegungen und Absichten der KP sind eher Ausdruck davon.

1956 sind 90% der Betriebe staatlich, und die den Kapitalismus steuernden Profitanreize sind ersetzt durch Planvorgaben. Die bürokratische Staatsplanwirtschaft ist bekanntermaßen ineffektiv, verschwenderisch und langsam in ihrer Entwicklung, und dass unter der Herrschaft der Staatsbürokratie die Arbeiterschaft nicht zur Klasse für sich reifen kann, ist durch die russische Entwicklung wohl ausreichend belegt. Dillmanns einleuchtende Beschreibung der gegenseitigen Behinderungen der „sozialistischen“ Wirtschaftsakteure ist nichts Neues,5 wird hier aber darauf zurückgeführt, dass man die Kategorien von Wert, Preis und Gewinn in neuer Funktion beibehält – was auf diesem Entwicklungsniveau an deren Stelle hätte treten können, erfahren wir leider nicht. Statt es bei der langsamen „sozialistischen“ Entwicklung zu belassen, die den Massen weniger Opfer abverlangt hätte, und beispielsweise auf schwerindustrielle Großprojekte zu verzichten, wollen die chinesischen Kommunisten den nationalen Aufstieg beschleunigen – angeblich Resultat ihres „Staatsidealismus“.

Als Auswege aus der Ineffektivität bilden sich zwei Richtungen heraus, bekannt als „Kampf zweier Linien“: die Moral zum Einsatz für die Gemeinschaft anzustacheln oder mit materiellen Anreizen die Stimuli der kapitalistischen Wirtschaft nachzuahmen.

Zunächst setzt sich Mao durch mit seinen Versuchen, revolutionären Aufbruchsgeist zu schaffen und zu „großen Sprüngen nach vorn“ (Kritikkampagnen, Kollektivierungen, dezentrale Stahlproduktion) zu nutzen. Die Masseninitiativen wenden sich zu repressivem Anpassungsdruck und scheitern mehrmals katastrophal in Hungersnöten und mit Einbruch der Industrieproduktion – sie hatten eben nur ideologische Grundlagen, keine materiellen. Mao kann dann dennoch – aufgrund von Unzufriedenheit mit der Verbürokratisierung und wegen Fraktionskämpfen – mit der „Kulturrevolution“ eine antiautoritäre Kampagne gegen privaten Egoismus und für die Revolutionierung der Massen lostreten, die aber im ungebremsten Chaos endet und nur mühsam wieder eingefangen werden kann. Vor diesem Hintergrund und wegen der mangelhaften Nahrungsmittelproduktion setzt sich dann Deng Xiaoping durch, und es kommt wieder auf Fachkunde, Leistung und Fleiß an. Angesichts der wirtschaftlichen Erfolge dieser Versuche macht die chinesische Führung schließlich den Weg frei für die Entfaltung kapitalistischer Akkumulation.

Das reine, kapitalfreie Wirtschaftssystem ist damit verlassen – für Renate Dillmann ist es der Sozialismus, der aufgegeben worden ist zugunsten des Nationalismus; die sozialistische Politik der „Volksfürsorge“ sei durch die Wiedereinführung kapitalistischen Wirtschaftens verraten worden, der Ausweg hätte stattdessen in mehr Planwirtschaft bestanden statt in weniger. Der Sozialismusbegriff, der solcher Argumentation zugrunde liegt, ist zumindest ein wenig unklar.6

Sozialismus, daran sei hier erinnert, ist die Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zum Kommunismus, und sie ist eben bestimmt durch ihre Voraussetzungen. Ob die materiellen Voraussetzungen den Produzenten die Steuerung der Produktion möglich machen, ob die sozialen Bedingungen die Arbeiterschaft zur Steuerung befähigen, ob die politischen Umstände die Leitung von Gesellschaft und Produktion durch die Arbeiterklasse ermöglichen, hängt von der Entwicklungshöhe der Gesellschaft ab – u.a. davon, ob die Wirtschaftsdaten über Bedarf, Ressourcen und Produktionskapazitäten bereits automatisch zu Modellrechnungen zusammenfließen können, über die die Produzenten dann politisch entscheiden. Diese Entwicklungshöhe können gereifte kapitalistische Staaten erreichen, die sich auf den Weg machen, zu einer höheren Produktionsweise überzugehen – China hatte sie beileibe nicht.

Die bisherigen sozialistischen Revolutionen sind Vorläufer in unterentwickelten Randbereichen. Die Durchsetzung des Kapitalismus als Weltsystem hat, von der italienischen Renaissance an gerechnet, über 500 Jahre gedauert, und sie ist womöglich noch immer nicht ganz abgeschlossen – und das getrieben von dem dynamischsten Wirtschaftssystem, das es jemals gegeben hat, wie von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest anschaulich beschrieben. Wir leben in der Anfangsperiode der sozialistischen Umgestaltung der Welt, wenn sie denn ohne kriegerische Selbstvernichtung der Menschheit zustande kommen wird. Die Macht der Arbeiterklasse kann deshalb noch nirgends gegeben sein, und Kriterium für das Etikett „Sozialismus“ für solche Vorläuferrevolutionen könnte daher allenfalls sein, ob die Entwicklung in Richtung Machtentfaltung der Arbeiterklasse geht oder nicht. Um den Gang dieser Entwicklung wird in einer solchen Übergangsgesellschaft gekämpft. Das Vor und Zurück von Sieg, Niederlage oder Untergang hätte dann logischerweise zur Konsequenz, dass heute Sozialismus herrscht und morgen nicht oder umgekehrt – das Bedürfnis zur Etikettierung zeigt eher Schubladendenken, als dass es zur Analyse beiträgt.

Der Sozialismus einer Übergangsgesellschaft ist ein Prozess, und er trägt immer das Erbe der vorhergehenden Gesellschaft in sich. Der „Sozialismus“ war in China zum Zeitpunkt der Revolution schwach, da nur durch Bauernkollektive in der kommunistischen Bewegung vertreten – die Arbeiterschaft fehlte fast ganz. Unsicherer als bei unreifen Bedingungen kann der Ausgang nicht sein.

So ist hier gar nicht begriffen, dass es um die Entwicklung der materiellen und sozialen Bedingungen für einen Sozialismus geht, nicht darum, ihn aus dem Boden zu stampfen – das wird schon durch das Niveau der Kritik deutlich: die KP-Führung macht dies und jenes, sie macht dies falsch und jenes richtig. Wer meint, die „richtige“ Entwicklung hänge von der „richtigen“ Überzeugung der Führung ab, hält die Massen für willenlos dirigierbare Objekte. Das passt mit der Auffassung von der Arbeiterklasse als führender Kraft im Sozialismus nicht so ganz zusammen.

Das Zweite ist das Verständnis vom Revolutionsprozess. Es soll eine Weltrevolution sein, und zwar bitte gleichzeitig – die gegenseitige Unterstützung und der internationale Austausch sind dann ja viel einfacher. Nun mag es im 19. Jahrhundert so erschienen sein, als liefe alles auf eine sich immer weiter angleichende internationale kapitalistische Entwicklung hinaus, die dann auch gleichzeitig aus ihren Widersprüchen das Neue gebiert; aber schon Marx und Engels haben erst England, dann Deutschland für die Revolution am reifsten gehalten und auch eine vorauseilende russische Revolution nicht ausgeschlossen. Die russische, chinesische, kubanische, vietnamesische Revolution fanden dann keineswegs gleichzeitig statt, sondern mussten sich mit der verbleibenden und übermächtigen kapitalistischen Umwelt arrangieren – das ging so weit, dass Revolutionen sich behinderten (Russland gegen China), bekämpften (Russland gegen Spanien) und bekriegten (China gegen Vietnam). Dieses Geschehen auf Fehlverhalten kommunistischer Führer zurückzuführen, ist argumentativ etwas dünn. Nationen sind wie Tanker – die eigenen Interessen können mal kurzfristig durch anderes überlagert werden, z. B. durch Internationalismus nach dem Sturz von herrschenden Klassen, aber dann setzen sich wirtschaftliche Grundlagen, historische Ideologien und geostrategische Zwänge wieder durch. Die russische Revolution hatte eine starke nationalistische Komponente, nämlich den Versuch der Bewahrung der Nation nach der katastrophalen, von Adel und Bürgertum verschuldeten Kriegsniederlage. Das hatte Tradition: zur nationalen Rettung hatte man bei der napoleonischen Besetzung die eigene Hauptstadt angezündet, und als Lenin im Frieden von Brest-Litowsk große Gebiete abtreten musste, wollten die Mehrheit seiner Partei und die Sozialrevolutionäre aus nationalistischen Gründen den aussichtslosen revolutionären Krieg gegen die deutschen Besatzer entfachen.

Die chinesische Revolution war Bauernbefreiung und antiimperialistische nationale Befreiung von der Besatzung zugleich – der Sieg der KP stellte die nationale Selbstbestimmung wieder her nach der Schmach der Unterwerfung und beseitigte die schlimmste Ausbeutung. Das ist selbstverständlich eine widersprüchliche Einheit; Renate Dillmann wendet ihre Interpretation nun aber so, als sei die Verbindung von nationalen Entwicklungsanstrengungen und sozialistischem Aufbau aus einer willentlichen (falschen) programmatischen Entscheidung der chinesischen Kommunisten erwachsen, die dem Nationalismus Vorrang vor der sozialen Befreiung, der Wiederherstellung der glanzvollen Nation Vorrang vor dem Wohlergehen des Volkes gegeben habe. Von Beginn an habe die Volksrepublik sich aufgrund ihrer schieren Größe als potentielle Großmacht verstanden und auch territoriale Ansprüche des alten Reiches vertreten.

Mit Millionen Fäden ist Chinas Gegenwart verknüpft mit dem alten Reich der Mitte als führender Weltmacht, mit der 5.000jährigen Tradition der chinesischen Kulturnation. Und über diese traditionellen Grundlagen soll eine Führung sich hinwegsetzen können, indem sie nationale Interessen mal eben weniger vertritt, womöglich nach Sieg der Revolution gar die Nation aufgibt und der Sowjetunion beitritt?? Von solchem Wunschdenken kündet auch das alte leninistisch-besserwisserische Anleitergehabe: wenn wir die KP-Führung wären, hätten wir es besser gemacht. Von der Höhe solchen Geschichtsverständnisses aus wirft Renate Dillmann der KP-Führung vor, sie habe den Gegensatz von Kommunismus und Nation nicht begriffen und deshalb später den Sozialismus über Bord geworfen (leises Kichern aus Fernost).

Zweifelsohne ist einer der Hauptantriebe des chinesischen Aufstiegs der Nationalismus. Nationalismus ist Ausdruck rückständiger Verhältnisse, muss sich aber nicht immer schlecht auswirken; es kommt auf seinen politischen Gehalt an. Der französische Nationalismus hat unter Napoleon den bürgerlichen Fortschritt in Europa verbreitet, und ohne die Mobilisierung des russischen Nationalismus im „Großen Vaterländischen Krieg“ hätte der zerstörerische deutsche Nationalismus nicht geschlagen werden können. In China wird der Nationalismus eingespannt zur Landesentwicklung – die chinesische Staatsmacht wurde ja von jeher daran gemessen, ob sie die Gemeinschaftsaufgaben bewältigt, vor allem die Regulierung des Jangtsekiang und die Bewässerung.

Kommunismus und Nationalismus schließen sich allerdings tendenziell gegenseitig immer stärker aus, je weiter die Aufhebung des Kapitalismus vorankommt – in einer kommunistischen Welt gibt es keine Gründe für Nationen mehr. Den weltweiten Kommunismus kriegen wir aber erst etwas später. Eine seiner Voraussetzungen ist eine umweltverträgliche technologische Entwicklungshöhe, die den Kampf um Ressourcen global überflüssig macht. Ich schätze das mal auf 400 Jahre, und das ist wahrscheinlich noch zu optimistisch. Qui vivra verra.

Die sozialistische Weltrevolution ist ein allumfassender Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckt. Er hat vor 150 Jahren mit der Pariser Kommune begonnen, und wir stehen noch immer am Anfang. Die Revolutionen, aus denen die Weltrevolution sich zusammensetzt, verlaufen ungleichzeitig, nach unterschiedlichen Bedingungen in verschiedenen nationalen Formen, manchmal miteinander und manchmal gegeneinander. Die italienische Arbeiterklasse ist anders als die deutsche, und die französische ist anders als die US-amerikanische, und sie haben unterschiedliche Bedingungen. Die Kommunistische Internationale ist an der Dominanz der UdSSR, an der Unmöglichkeit der Vereinheitlichung gescheitert, und angesichts ihrer überwiegend negativen Auswirkungen muss man sagen: zu Recht.

Dritter Punkt ist die Vorstellung von der Art der Revolution. Revolutionen sind urgewaltige gesellschaftliche Prozesse, die gesellschaftliche Blockaden wie einen gordischen Knoten durchschlagen, wenn die aufgetürmten Probleme anders nicht mehr gelöst werden können. Die Möglichkeiten, ihren Lauf zu beeinflussen, sind nicht groß. Im 19.Jahrhundert hatten Revolutionen die Form des Straßenkampfs, in der russischen Revolution zeigte sich bereits die moderne Form von Generalstreik, Massendemonstrationen und Rätesystem, bestätigt auch in der niedergeschlagenen deutschen Revolution 1918 und 1920 nach dem Kapp-Putsch; die chinesische Revolution siegte noch durch revolutionären Bürgerkrieg im Krieg.

Wie aber sieht eine Revolution aus in einem entwickelten kapitalistischen Land, wenn sie nicht aus einer Kriegsniederlage erwächst, sondern aus dem wirtschaftlichen Zusammenbruch infolge von Überproduktion, Platzen von Finanzblasen oder Inflation? Sehen sich die Produzenten dann gezwungen, die stillstehenden Betriebe zu besetzen und sie selbst zu steuern? Hindert sie das Militär? Muss der Staat unter dem Druck der Massen die insolventen Unternehmen ganz oder anteilig übernehmen, und wird dann darum gekämpft, ob sie im Dienst der Gemeinschaft oder kapitalistisch funktionieren? Entsteht womöglich eine lange Übergangsperiode mit gemischter staatlicher und privater Wirtschaft, an deren Ende erst die Arbeiterklasse den Kampf für sich entscheiden kann? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen: es wird kaum die Machtübernahme einer Arbeiterpartei am Anfang der Revolution mit anschließender Umgestaltung geben. Von einem solchen illusorischen Konzept gehen stillschweigend alle aus, die sich die „richtigen“ Maßnahmen nach Machteroberung überlegen und von dieser Warte aus reale Geschichtsabläufe kritisieren. So sind weite Passagen von Renate Dillmanns Buch durchsäuert von einem belehrenden – nur manchmal erhellenden – Deklinieren von Begriffen, das die Autorin der schlechten Wirklichkeit entgegenstellt und anscheinend für Marxismus hält, obwohl sie mit ihren Vorstellungen von sofortiger Umsetzbarkeit kommunistischer Ideale eher Bakunin nahesteht.

China ist womöglich – mit seinem staatlich gesteuerten Kapitalismus und dem starken staatlichen Sektor als Korrektiv – bereits bei einer Form gesellschaftlicher Organisation angelangt, die die kapitalistischen Zentren erst später erreichen. Nur mit einer starken staatlichen Steuerung der Wirtschaft à la China wäre z.B. die Klimakatastrophe noch entscheidend einzugrenzen7 – die kapitalistischen Staaten sind dazu nicht in der Lage, weil ihnen jegliches Druckmittel gegen die kurzfristigen Interessen der Wirtschaft fehlt.

China zeigt, dass eine staatliche Steuerung kapitalistischer Wirtschaftselemente, basierend auf eigener wirtschaftlicher Stärke des Staates, effektiver ist als der ungesteuerte kapitalistische Wildwuchs. Staatliche Ressourcen können viel gezielter in Wissenschaft und Forschung, Bildung, Wirtschaftsförderung, Infrastruktur, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Gesundheit und Umweltschutz gesteckt werden als dies kapitalistischen Staaten möglich ist. Der chinesische Markt mit seinen 1,4 Milliarden Menschen sorgt für eine schnellere Verbreitung von Innovationen. In einigen technologischen Bereichen ist der chinesische Vorsprung bereits uneinholbar – die USA kämpfen darum, Schritt zu halten, Europa ist bereits abgehängt.8 Die Zeit arbeitet für China.

Das bringt die Gefahr eines Präventivkrieges mit sich; wenn es solche Pläne im US-amerikanischen Militär nicht gäbe, würden die Planungsstäbe im Pentagon ihren Job nicht machen.

Die USA sind geboren aus Landraub und Ausrottung der einheimischen Völker. Seither sitzt ihnen der Colt locker, getragen von ihrem Sendungsbewusstsein, die höhere Kultur von „God’s own Land“ zu verbreiten. Ihr Land konnten sie durch Menschenraub und Sklaverei günstig bearbeiten lassen, ihre staatliche Unabhängigkeit war der Zusammenschluss von Sklavenhalterstaaten, und ihren wirtschaftlichen Aufstieg zur Weltmacht verdanken sie der Waffenproduktion und den Kriegskrediten für ihre Alliierten in den beiden Weltkriegen. Die Weite des Landes, der riesige nordamerikanische Markt, eine frei disponible Arbeiterklasse setzten Entwicklungs- und Profitmöglichkeiten frei, die die USA zum reichsten Land der Welt machten, mit ungeahnten Aufstiegsmöglichkeiten für jeden, der sich auf den Umgang mit Geld versteht, und anfangs mit Platz für Flüchtlinge und Auswanderer aus aller Herren Länder. Die bürgerliche Demokratie mit ihren individuellen Freiheiten für Kreativität und zum Ausbeuten und Ausgebeutetwerden konnte sich auf diesen Grundlagen ungebremst entfalten, der Aufstiegs- und Macheroptimismus sichert sie ab. Der Reichtumsspielraum erlaubt inzwischen das Zugeständnis von Bürgerrechten auch an jene Bevölkerungsschichten, die vom herrschenden Bewusstsein der weißen Überlegenheit als Untermenschen angesehen werden. Sogar Menschengruppen, die noch vor hundert Jahren jederzeit hätten gehenkt oder geschlachtet werden können, identifizieren sich heute mit den Freiheiten der USA, auch wenn sie massenhaft obdachlos sind, in den Gefängnissen sitzen9 oder von der Polizei ermordet werden.

Diese Freiheiten erlauben es jedermann, Bürotürme hinzustellen oder Waffen zu kaufen, um damit Massaker anzurichten, der Profitproduktion nachzugehen oder unter den Brücken zu schlafen. Solange die Kasse stimmt, können massenhaft kreative Nischenpflanzen aufblühen und die Attraktivität des „Landes der unbegrenzten Möglichkeiten“ steigern.

Der ungebremste Kapitalismus hat riesige Konzerne hervorgebracht, deren wirtschaftliche Macht die demokratische Benutzeroberfläche im Hintergrund bestimmt – manchmal auch im Vordergrund. Diese Interessen zufriedenzustellen, ist oberstes Gebot. Für gemeinschaftliche Aufgaben bleiben nur die notwendigsten Ressourcen, die öffentliche Infrastruktur ist verrottet – man fahre Metro und steige an der Station Wall Street aus. Wer für öffentliche Aufgaben Geld ausgeben will, macht sich des „Sozialismus“ verdächtig. Die Arbeiterbewegung und jede grundlegende Opposition hat schwer anzukämpfen gegen die Individualitätsverblendung.

Ungebremste Profit- und Ausbeutungsmöglichkeiten soll es für die amerikanischen Unternehmen überall auf der Welt geben – mit welchem Recht sollten weniger entwickelte Länder auch die amerikanischen Freiheiten beschneiden dürfen oder Rohstoffe vorenthalten? Diesem Ziel dient die Außenpolitik mit all ihren Schach- und Winkelzügen, deren Verlängerung der Krieg ist. Schon die Profitzwänge der Waffenschmieden, des militärisch-industriellen Komplexes, zwingen dazu, periodisch Länder zum Bombenabwerfen zu finden – an deren Wiederaufbau man dann auch wieder verdienen kann. Vom Profitzwang getriebene Unterwerfung anderer Länder – sei sie friedlich oder kriegerisch – das ist es, was man Imperialismus nennt. Die USA betreiben ihn unter dem Banner von freedom and democracy.

Die Blutspur des amerikanischen Imperialismus zieht sich um den Globus. Überall, wo Unterdrückte die Rechte der Großgrundbesitzer oder amerikanischer Konzerne beschneiden wollten, förderten die USA den Massenmord oder mordeten selbst – in Indonesien gingen über eine Million Leichen auf das Konto der USA und ihrer militärischen Ziehkinder. Dazu kommen die Kriege – in Vietnam nahm man selbstverständlich das Recht für sich in Anspruch, das Land „in die Steinzeit zurückzubomben“. Das Sendungsbewusstsein als Weltpolizist, der ebenso selbstverständlich überall auf der Welt Stützpunkte unterhalten darf,10 erlaubt jederzeit und überall das militärische Hineinpfuschen. Auch wenn sympathische Figuren versuchen, den Tiger zu reiten, scheitern sie am Selbstlauf des Tankers der amerikanischen Außenpolitik. Obama sah sich ständigen Angriffen ausgesetzt, die amerikanische „supremacy“ nicht ausreichend zu vertreten,11 obwohl er wie selbstverständlich Politik gegen China betrieb. Er hat es in acht Jahren Präsidentschaft nicht geschafft, Guantanamo aufzulösen, und als der Friedensnobelpreisträger 2016 aus dem Amt schied, bombardierten die USA sieben Länder.12 Auch Biden und Harris wird es nicht anders ergehen, wobei Biden aber bereits mit dem deutlichen Anspruch antritt, das amerikanische Vorherrschaftsrecht gegen den Aufstieg Chinas zu verteidigen. Darauf stimmen die USA ihre Verbündeten ein, die artig bei allen Kampagnen zum China-Bashing mitziehen und bei der NATO-Einkreisung Russlands schon mal üben dürfen – obwohl sie wissen müssten, dass sie geopfert werden, sobald die USA sie nicht mehr brauchen.

Und mit diesem Imperialismus setzt Renate Dillmann die chinesische Außenpolitik gleich – weil China als neu aufstrebende ökonomische Macht seine Interessen und Handelswege zu schützen sucht mit handelspolitischer, diplomatischer und geostrategischer Einflussnahme, mit Krediten, Bündnispolitik und Allianzen, und sich auch militärisch nicht einschüchtern lässt. Die treffliche Analyse lautet: „Ein Staat, der international Geld verdienen will, muss seine Interessen letzten Endes auch nach außen gewaltsam absichern. Das hat China früher dem Westen als ‚Imperialismus‘ vorgeworfen.“13

Auch die Republik Venedig hat mit ihrem Handelskapital international Geld verdient und das militärisch abgesichert. Wenn wir das jetzt Imperialismus nennen, klärt das wohl kaum die Begrifflichkeiten. Imperialismus wird besser definiert als ein System von kriegerischem und friedlichem Intervenieren und Druckausüben, angetrieben von dem Zwang und der Lust, überall auf der Welt förderliche Bedingungen durchzudrücken für die Profitmacherei der „eigenen“ Kapitalunternehmen, von deren Funktionieren das ganze staatliche System abhängig ist.

Der Schwenk zum Kapitalismus soll Dillmann zufolge auch den chinesischen Militarismus hervorgebracht haben. Der war aber durch den kriegerischen Weg der Machtergreifung, die Abwehr der US-geförderten Guomintang-Konterrevolution und den Koreakrieg schon vorher da und ergibt sich aus der internationalen Lage. Militarismus ist im Kommunismus natürlich überflüssig – aber der Kommunismus kommt eben erst etwas später, siehe oben. Und man sehe sich die Karte der amerikanischen Stützpunkte an und denke sich die Flugzeugträger und U-Boote mit ihren Atomwaffen hinzu. Der amerikanische Oberbefehlshaber im Korea-Krieg, General MacArthur, verlangte den Abwurf von Atombomben auf chinesische Städte, was wohl nur durch die Existenz der russischen Atombombe verhindert wurde. Die erste chinesische Atombombe zündete übrigens 1964, also noch in der Periode, die Renate Dillmann für Sozialismus hält. In Japan installieren die USA Abwehrsysteme zur Entwertung der Chinesischen Atommacht. Der Rüstungswettlauf ist aufgezwungen, nicht Resultat eines falschen „Staatsidealismus“.

Dass Renate Dillmanns Schlussfolgerungen nicht so ganz stimmen können, merkt man an ihren eigenen Beschreibungen der staatlichen Eingriffe in den Prozess der „ursprünglichen Akkumulation“, die klassischerweise recht stürmisch und ungebremst verläuft. So bescheinigt die Autorin der kommunistischen Partei, vorsichtig vorgegangen und Herr des Prozesses geblieben zu sein bei der Kontrolle über Kapitalimport und Vermeidung von Verschuldung, beim Aufbau nationaler Kapitale und der Steuerung von deren Auslandsinvestitionen. Der Kapitalismus wird nach Plan installiert und die KP bemüht sich, Steuerungsinstrumente in der Hand zu behalten bei der Entstehung von Kreditwesen, Banken, Börsen und Spekulation (staatliche Banken, 51% Aktienbesitz). Das billige Arbeitskräftereservoir und der riesige Markt sind die Lockmittel, mit dem die KP dem internationalen Kapital die Zugangsbedingungen diktieren kann. Es beugt sich dem Zwang zur Mehrheitsbeteiligung chinesischer Unternehmen, zum Technologietransfer, zum Aufbau der Konkurrenz.

Der chinesische Staat fördert Fusionen, um weltmarktfähige Großkonzerne ins Leben zu rufen, und unterstützt sie bei Operationen im Ausland („weiche“ Bedingungen für Entwicklungsländer, gesteuerte Investitionen für die „neue Seidenstrasse“). Chinesische Unternehmen expandieren gezielt in westliche Märkte und die kapitalistischen Länder sind hin- und hergerissen zwischen Gewinnmaximierung in und durch China und ihrer Furcht vor der Beschneidung ihrer Marktchancen. Freihandel ist plötzlich kein Dogma mehr und sie kritisieren die Auswüchse kapitalistischer Ausbeutung – auf denen ihr eigener Reichtum gewachsen ist. So kooperieren sie mit chinesischen Unternehmen und bekämpfen gleichzeitig die wirtschaftliche und politische Einflussausweitung Chinas. Die Verlogenheit der westlichen Anti-China-Propaganda nimmt Renate Dillmann überzeugend auseinander.

Um die Auswüchse unter Kontrolle zu behalten, wird von der KP gegengesteuert (z.B. bei Korruption, Arbeitsbedingungen, Umweltvergiftung und Immobilienspekulation, bei Unterhöhlung der Zentralgewalt durch die Konkurrenz der Provinzen, mit dem Ausbau von Sozialversicherungen). Proteste werden teilweise gewaltsam niedergeschlagen, dann aber oft die Ursachen beseitigt. Zur Gründung von Vereinigungen und Interessenverbänden wird ermuntert, auf kommunaler Ebene wird gewählt.

Investitionen in Infrastruktur, zur Erschließung der Binnenprovinzen und zur Stärkung des Binnenmarktes können staatlich gesteuert werden, obwohl der Anteil staatlicher Betriebe an der Produktion nur noch etwa ein Drittel ausmacht. Die erneuerbaren Energien werden in Rekordgeschwindigkeit ausgebaut, künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Automatisierung und Maßnahmen zur Armutsbekämpfung mit großem Mitteleinsatz vorangetrieben. Die Möglichkeiten des Staates zu effektiver Steuerung von Notmaßnahmen, zur Überzeugung der Bevölkerung und zum Durchgreifen auf die Wirtschaft haben sich in der Corona-Bekämpfung bewährt. Und mit dem Bonitätssystem wird nicht nur soziales Verhalten der Menschen belohnt, sondern auch die Politik von Unternehmen, u.a. nach den Kriterien Sicherheit am Arbeitsplatz, Umweltschutz, innovative Technologien. Davon werden die Kreditbedingungen abhängig gemacht. So reguliert der Staat den Markt.

Ein wesentliches Ziel der wirtschaftlichen Öffnung zum Kapital war es, das allgemeine Lebensniveau anzuheben. Das ist ein ziemlich hartes Kriterium für den Erfolg chinesische Regierungspolitik, von dem die KP abhängig ist. Mit der großflächigen Beseitigung von allgemeiner Armut ist das auch weitgehend, wenn auch noch nicht ganz, gelungen. Nach Renate Dillmann aber werden die private Bereicherung von Kapitalisten und die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterklasse vor allem zugelassen, um zur Weltmacht aufzusteigen. Dass die immanenten Gesetzmäßigkeiten dabei Recht, Haushalt, soziale Agenda und politische Kultur verändern, nimmt man für die Weltmachtträume hin.

Die neue Kapitalistenklasse entsteht durch Aneignung des Staatseigentums durch die Funktionärsklasse, durch Beziehungen und Zugriff auf Kredite, die Korruption wird allgegenwärtig – und ständig bekämpft.

Seit Unternehmer nun auch Mitglied der Partei sein können, ist sie von etlichen Milliardären bevölkert, die die Partei verändern – die sich aber auch nach Parteivorgaben richten müssen.

So gibt es überall Anzeichen, dass das Verhältnis von Staat und Kapital ein anderes ist als von der Autorin behauptet. Da freut es einen, dass Renate Dillmann ihre gesamte Argumentation, dass die KPCh einen Kapitalismus und Imperialismus installiert habe, der funktioniere wie anderswo auch, schließlich in einer Fußnote umwirft: die nationalen Kapitale sollen „Geld verdienen, innovative Technologien auf den Weg bringen, aber nicht selbst gesellschaftlichen oder gar politischen Einfluss ausüben – dem will die KP einen Riegel vorschieben“ (z.B. Eingriff gegen Alibaba).14 In China beherrscht also der Staat letztendlich doch die Wirtschaft. Wie stark und mit welchen Methoden, wird hier aber nicht untersucht.

Über das „Wie?“, wie die KP und der chinesische Staat übergeordnete Interessen durchsetzen, erfahren wir leider nur, dass der Meinungsbildungsprozess innerhalb der herrschenden Partei zusammen mit den Interessenverbänden organisiert wird und die Entscheidungen dann als Direktiven ergehen, deren Interpretation bei den nachgeordneten Ebenen Umsetzungsspielräume zulässt. Gerade hier die Mechanismen zu beleuchten, würde erst eine Einschätzung ermöglichen, ob Gemeinwohlinteressen im Kampf gegen Profitinteressen ihre Position in Partei und Staat behaupten können, womöglich überwiegen, bei Krisen die Konkurrenz ausschalten und wieder in Wirtschaftsplanung übergehen können, sich mit Arbeiterkämpfen15 für ein Zurück zu gemeinwirtschaftlichen Eigentumsverhältnissen verbinden können – ob an der propagierten Absicht, in hundert Jahren zum Sozialismus zu kommen, etwas dran ist.

So wird die Rolle der riesigen Plankommissionen auf nationaler und regionaler Ebene nicht einmal erwähnt – geschweige denn versucht zu ergründen, nach welchen Kriterien die Entscheidungen über die erarbeiteten Entwicklungsmodelle getroffen werden. Wann wird über Kredit und Anreize gesteuert, wann über Beschränkungen und Restriktionen, wann mit direkten Staatseingriffen? Die Plankommissionen haben immense Macht, nach ihren Sektorvorgaben werden die Kreditvergaben gesteuert, z.B. zum Umbau der Energiewirtschaft, sie bestimmen mit über die Relation von Staats- und Privatbetrieben und die Personalpolitik in den Staatsbetrieben. Wie äußern sich hier unterschiedliche Interessen, wie in den Auseinandersetzungen in Partei und Staat? Dazu erfährt man nichts. Und welche Auswirkungen die besonderen kulturellen Faktoren haben, die traditionell starke Rolle des Staates im Bewusstsein der Chinesen und ihre Bereitschaft, sich in der Massengesellschaft dem Gemeinschaftsinteresse unterzuordnen, blendet die Analyse vollständig aus. Dem Innovations- und Kreativitätsrausch der riesigen Start-Up-Szene,16 vom Staat massiv gefördert, wird anscheinend auch keine Bedeutung beigemessen.

Zur Einschätzung künftiger Entwicklungen trägt Renate Dillmanns Buch deshalb leider nichts bei, vor allem, weil es von Anfang an geschrieben ist zum Festklopfen ihrer Ausgangsthese vom chinesischen Imperialismus.

Wer aus der Informationsfülle zur Historie Chinas in den letzten hundert Jahren dennoch Gewinn ziehen kann, obwohl die Analyse der Autorin auf dem Kopf steht, dem sei dieses Buch aber durchaus empfohlen.

Klaus Dallmer, Berlin


1 Renate Dillmann, China, Ein Lehrstück, Berlin 2021, https://diebuchmacherei.de/

2 Dillmann, China, Seite 70

3 ebenda

4 ebenda, Seite 85

5 siehe u.a. Hillel Tiktin, Zur politischen Ökonomie der UdSSR, (1973) , in Marcel van der Linden (Hg), Was war die Sowjetunion?, Wien 2007

6 auf Seite V im Vorwort wird Sozialismus definiert als „sichere, auskömmliche und behagliche Lebensverhältnisse“

7 siehe Ingar Solty, Der kommende Krieg, ROSALUX, Berlin 2020

8 siehe Frank Sieren, Zukunft? China!, München 2018

9 etwa 1,5 Millionen Angehörige ethnischer Minderheiten bevölkern die Zuchthäuser der USA und leisten z.T. Zwangsarbeit.

10 es sind 761 US-Stützpunkte

11 siehe Ben Rhodes, Im Weissen Haus, München 2019

12 siehe Vincent Bevins, The Jakarta-Method, New York 2020, Seite 230

13 https://www.renatedillmann.de/china/ Zusammenfassung_kapitel.pdf , Seite 5/6

14 Fußnote auf Seite XXX der Einleitung

15 es gibt jährlich Zehntausende von Arbeitskämpfen

16 siehe Frank Sieren, Zukunft?China!


 

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  1. Je länger ich in China lebte, desto unsicherer und desto vorsichtiger wurde ich mit meinem Urteil über China und die Chinesen – und ich lebte mehr als zehn Jahre dort, von 1985 bis 1996.
    Trotzdem sehe ich eine grundlegende Gemeinsamkeit, die Renate Dillmann, Klaus Dallmer und mich wohl verbindet: Die Chinesinnen und Chinesen (mit oder ohne KP-Mitgliedschaft) wollen, können und werden unsere sozialen und politischen Probleme in Europa nicht lösen, und wir Europäer können und werden China nicht auf einen „besseren Entwicklungspfad“ bringen – selbst wenn wir das wollten.

    Indem wir uns von einem einheitlichen globalen Entwicklungsweg verabschieden, den u.a. der Sowjetmarxismus samt Komintern verkörperten, nehmen wir auch Abschied von der Vorstellung, irgendwer könnte in die Rolle des Weltgeistes schlüpfen und alle Welträtsel entschlüsseln und für alle Weltprobleme passende Antworten finden.
    Gruß Wal

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