Machtverschiebungen im Weltsystem – der Aufstieg Chinas und die große Krise

Buchbesprechung

Machtverschiebungen im Weltsystem
Der Aufstieg Chinas und die große Krise
von Stefan Schmalz

Als das Buch erschien (2018), war in den USA die Präsidentschaft Donald Trumps, die zu dem Handelskrieg mit dem Xi-Jinping-Regime führen sollte, ein Jahr alt, in der EU der Brexit bereits beschlossen, aber noch nicht vollendet, im Weltrahmen die Covid-19-Pandemie noch nicht abzusehen, aber die Beunruhigung der Herrschenden wie auch großer Teile der subalternen Klassen in den zentralen Ländern des „Westens“ über die wahrgenommene Offensive der chinesischen Ökonomie, erkennbar an ihren scheinbar unaufhaltsamen Wachstumsraten, ihren westlich-liberalkapitalistischen Vorstellungen widersprechenden Planungsinstrumenten oder einem internationalen Großprojekt wie OBOR („One Belt, One Road“ bzw. „Neue Seidenstraße“), schon längst im Gange. Der Autor, Stefan Schmalz, Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hält sich nicht an innerlinken strategischen Identifikationsmustern auf, ob das Gesellschaftssystem in China „sozialistisch“, im Aufbau des Sozialismus befindlich, „kapitalistisch“ oder „imperialistisch“ ist. Diese Fragestellung scheint für ihn nicht im Rahmen Chinas allein, sondern nur in der Wechselwirkung mit globalen Kräfteverhältnissen analysierbar zu sein; das gegenwärtige China ist im Kern kapitalistisch (vgl. hierzu „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ aus Arbeiterpolitik 3/4 2015) und befindet sich daher unvermeidlich in Konkurrenz mit dem imperialistischen Westen, von dem es spezifische Umstände und Traditionen abheben.

Soweit sei hier vorweggenommen: „Der chinesische Kapitalismus unterlag seit jeher einer starken staatlichen Regulierung. Dies steht mit historischen Traditionslinien, aber auch dem Bedürfnis der KPCh nach politischer Kontrolle in Verbindung. Seit der Han-Dynastie (206 v. u. Z. bis 220 u. Z.) war das Machtmonopol des Staates kaum umstritten, es gab über lange Zeiträume keine ernstzunehmenden ideologischen oder politischen Konkurrenten wie die Kirche in der westlichen Welt … . Heute ist die Zivilgesellschaft vergleichsweise schwach ausgeprägt, der Staat durchdringt das öffentliche Leben. Hinzu kommt, dass die politischen Interessen des Parteistaats in die Regulierung der Ökonomie hineinwirken: Der chinesische Kapitalismus ist dem, was Max Weber … als politisch orientierten Kapitalismus bezeichnet hat, sehr nahe, die Verwertungsinteressen der Unternehmen werden mitunter den machtpolitischen Interessen des Staates untergeordnet. Der Staat verfügt hierfür über umfangreiche Planungsinstrumente, insbesondere die detaillierten Fünfjahrespläne. … Die Legitimation der KPCh rührt daher vor allem aus materiellen Wohlstandsgewinnen, es handelt sich also um ein politisches System, das, anders als die westlichen Demokratien, vorrangig auf ‚Output-Legitimation‘ … durch wirtschaftlichen Erfolg setzt.“ (Stefan Schmalz, Machtverschiebungen im Weltsystem – der Aufstieg Chinas und die große Krise, Frankfurt/New York 2018, S. 395).

Standort der Analyse und zentrale These der Studie

Der Autor rechnet sich wissenschaftlich der Weltsystemtheorie zu (nach dem in Deutschland allgemein gebräuchlichen Ausdruck für diese Richtung; es gibt auch andere Begrifflichkeiten dafür wie: Weltsystemanalyse, Weltsystemansatz, Weltsystemsoziologie). Hierzu gehören Namen wie Immanuel Wallerstein, Giovanni Arrighi, Andre Gunder Frank, Samir Amin, Beverly Silver; als einer der „geistigen Väter“ dieses Ansatzes gilt auch Fernand Braudel mit seinen Analysen des Mittelmeerraums im 16. Jahrhundert. Sie alle vertreten zwei Grundannahmen: 1) Die Strukturen des „Modernen Weltsystems“ (Wallerstein) sind als globale Einheit in ihren Widersprüchen zu betrachten. 2) Der Beginn des Kapitalismus als zunehmend vorherrschende Epoche der Vergesellschaftung ist nicht erst mit der Entstehung des Industriekapitalismus des 18./19. Jahrhunderts anzusetzen, sondern auf die überseeische Expansion Spaniens und Portugals im 15./16. Jahrhundert vorzuverlegen, mit der eine neue Phase der Weltgeschichte mit der prozessierenden Vereinheitlichung von Gesetzmäßigkeiten und Strukturen einsetzte. Über diese Gemeinsamkeit hinaus sind aber innerhalb der Weltsystemtheorie Differenzen zu erkennen, was sowohl Ursprünge als auch inhaltliche Ausprägungen angeht.

Das Ganze entstand in den Theoriediskussionen der sechziger und siebziger Jahre in Ansätzen, in denen sowohl bürgerlich-modernisierungstheoretische als auch orthodox-marxistische, genauer: sowjetmarxistische Erklärungsmuster als unzureichend bzw. an den Interessen der kapitalistischen Metropolen orientiert abgelehnt wurden. Zu den grundlegenden Neuansätzen gehörte zunächst die Dependenztheorie, in der man sich mit der Abhängigkeit und Unterdrückung der peripher-kapitalistischen Länder in Lateinamerika (vgl. A. G. Frank, Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, 1969), Afrika, Asien auseinandersetzte. Das moderne (= kapitalistisch dominierte) Weltsystem ist demnach von räumlich ausdifferenzierter, globaler Hierarchisierung geprägt. Zu unterscheiden sind: ein Zentrum, in dem hochentwickelte Kapitalgüter und Dienstleistungen hergestellt werden, eine Peripherie, in der am unteren Ende Rohstoffe gewonnen und Agrargüter produziert werden, sowie dazwischen eine Semiperipherie, die in einer Mittlerfunktion die Länder des Zentrums mit preiswert hergestellten Halbfertigwaren und die Länder der Peripherie mit einfachen Konsumwaren versorgt. Die Zusammensetzung dieser Ebenen und ihr Kräfteverhältnis zueinander unterliegen einer permanenten Entwicklung in Widersprüchen und Konflikten.

Eine zweite wichtige Debatte entzündete sich am Marx’schen Begriff der „Asiatischen Produktionsweise“ (vgl. Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der Gesellschaftsformation bezeichnet werden.„). Der vom Stalinismus deformierte Sowjetmarxismus lehrte dagegen ein krudes, teleologisches (= auf ein bestimmt eintretendes Ziel der Geschichte ausgerichtetes) Schema von fünf aufeinander folgenden „Grundtypen“ der gesellschaftlichen Entwicklung: Urkommunismus, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus. Diese Abfolge war Ausdruck einer eurozentrischen Sichtweise, die nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Phase globaler, wenn auch allzu häufig nur staatsrechtlich-formaler Dekolonialisierung in die Kritik einer sich vom Sowjetmarxismus emanzipierenden internationalistischen Linken geriet. Eine wichtige Ausarbeitung dieser neuen Sicht auf das außereuropäische Erbe der Geschichte war das 1957 erschienene Hauptwerk des deutsch-amerikanischen Sinologen (China-Experten) Karl A. Wittfogel „Die Orientalische Despotie“. Eine allzu weit verbreitete Versuchung auch unter marxistisch orientierten Intellektuellen besteht darin, vorkapitalistische (vorbürgerliche) Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen umstandslos als „Feudalismus“ zu bezeichnen. Dies ebnet globale Besonderheiten, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten ein und erschwert deren Verständnis bis in die Gegenwart. Der Feudalismus ist – etwa dem britischen Historiker Perry Anderson, „Die Entstehung des absolutistischen Staates“, Frankfurt 1979, zufolge – eine europäische Sonderentwicklung. Die extreme räumliche und gesellschaftliche Dezentralisierung dieses Herrschaftssystems (vgl. etwa die oberitalienischen Städte des 13. Jahrhunderts mit ihrem entwickelten Finanz- und Bankensystem) war eine notwendige (wenn auch für sich nicht hinreichende) Voraussetzung für die Entwicklung des städtischen Bürgertums zu einer den Adel ökonomisch überflügelnden Macht, die durch das kapitalistische Profitsystem die entscheidenden Antriebe erhielt, sich auch die übrige Welt „untertan“ zu machen. Hiergegen mussten sich die „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) mit ihren Befreiungsbewegungen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Traditionen wie der Übernahme geeigneter Theorieansätze des europäischen Marxismus wehren.

Dies sollte zum Verständnis dieses Ansatzes im Rahmen einer Buchbesprechung genügen. Auf die Differenzierungen innerhalb des Spektrums der Weltsystemtheorie kann hier nicht eingegangen werden. Entscheidend für den weiteren Aufbau des Buches ist der Krisenbegriff der Weltsystemtheoretiker. Er ist von der Interaktion zwischen Hegemoniewechseln und globaler Perspektive, zwischen ökonomischen und politischen Prozessen geprägt. „Dabei ist der Gedanke gängig, dass Krisenprozesse zunehmen, sobald eine hegemoniale Konstellation zerbricht. … Die zentrale These der Studie ist, dass sich im kapitalistischen Weltsystem eine langsame Machtverschiebung zugunsten Chinas vollzieht, die sich bereits in verschiedenen Machstrukturen, insbesondere in der Produktion, aber auch den Finanzen und dem Zugriff auf Ressourcen, äußert. (S. 32)“ Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/9 habe, so Schmalz, dabei als Katalysator gewirkt, der diesen Paradigmenwechsel der globalen Kräfteverhältnisse ins Bewusstsein hob.

Die Doppellogik der kapitalistischen Expansion

Wer nach einer grundsätzlichen Klärung des gesellschaftlichen Charakters der Volksrepublik und ihrer Produktionsweise im Rahmen einer nationalstaatlichen Betrachtungsweise oder im Sinne der historischen Blockkonfrontation eines „sozialistischen Lagers“ gegen den kapitalistischen „Westen“ sucht, dürfte hier nur wenige befriedigende Antworten (etwa die Unterkapitel 3.1.2 Chinas Rückkehr auf die Weltbühne oder 3.5.1 Ein Land, zwei Wirtschaftssysteme?) bekommen. Der zentrale Argumentationsstrang des Buches beschäftigt sich vielmehr mit der Entfaltung globaler Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems, in dem das heutige China als einer der wichtigsten und dynamischsten Bestandteile gilt.

Die dem Kapitel 2 „Grundlagen des Machtverschiebungstheorems“ vorgeschalteten methodischen Überlegungen gehen von der Einheit der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren Widersprüchen aus. Hier kommt es in der Geschichte immer wieder zu weitreichenden Schüben, die sich räumlich fixieren. Einerseits ist es die ökonomische Triebkraft der kapitalistischen Expansion, andererseits sind es die (National-) Staaten, die als Subjekte auftreten, die Interessen der herrschenden Klassen gegen die subalternen Klassen wie gegen die Konkurrenten vertreten. Schmalz knüpft hier an die Konzeption Gramscis an, der unter Hegemonie nicht einfache, gewaltförmige Dominanz, sondern eine Verbindung von autoritärem Zwang mit notwendigen Zugeständnissen verstand. Die Machtmittel (Ressourcen und Strukturen), die hierfür zur Verfügung stehen, kategorisiert Schmalz in fünf Faktoren: Produktion, Rohstoffe, Finanzen, Wissenschaft, Technologie. Der Staat sei kein abgeschlossener „Machtcontainer“, sondern ein Netzwerk aus Staat und Zivilgesellschaft, also unterschiedlichen Akteuren. Es komme darauf an, als „starker Staat“ hier Hegemonie auszuüben. Die spezifische legitimatorische Rolle einer sich kommunistisch nennenden Partei wird hier jedoch nicht ausdrücklich problematisiert, weil das nicht das zentrale Thema dieses Buches ist. Das ist vielmehr die globale Machtstruktur.

Die Doppellogik der Kapitalexpansion (kapitalistische Unternehmen und die ihre Interessen vertretenden Nationalstaaten) führt zu Krisen, diese zu historischen Phasen, in denen globale Machtstrukturen entstehen, zerstört und durch neue ersetzt werden. Es müssen immer größere Summen an Geld investiert, immer größere Mengen an Waren produziert, immer mehr neue Märkte erschlossen werden, es kommt zu „Landnahmen“, zu Kriegen, zum Aufstieg und Untergang dominanter Mächte. Auch die sozialen Strukturen wandeln sich: „War im holländisch dominierten Handelskapitalismus lediglich ein atlantischer Block aus Adel, städtischem Handelsbürgertum, kolonialen Plantagenbesitzern und staatlichen Bediensteten in den hegemonialen Block integriert, wurden unter britischer Hegemonie im 19. Jahrhundert den besitzenden Klassen größere Rechte eingeräumt und die ‚respektable‘ Handwerkerklasse stärker eingebunden. Die fordistische Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg unter politischer Führung der US-Eliten trug nicht nur zur Dekolonisierung bei, sondern sie basierte auch auf dem Kompromiss mit den (weißen) Arbeiterklassen der kapitalistischen Zentren und wachsenden Mittelschichten. (S. 60)“ Damit haben wir zugleich eine Abfolge in der bisherigen Geschichte von das kapitalistische Weltsystem dominierenden Hegemonialmächten: Niederlande, Großbritannien, USA, deren Vormachtstellung von aufsteigenden Mächten (darunter etwa das napoleonische Frankreich oder das wilhelminische Deutschland) teils vergeblich, teils erfolgreich angegriffen wurde. In diesem Rahmen ist die Auseinandersetzung der USA mit China zu sehen, ohne damit eine Prognose abgeben zu wollen.

Der Aufstieg des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert brachte eine neue Dialektik in die expandierende Weltwirtschaft. Der gewaltige Produktivitätsanstieg Großbritanniens führte zu Konkurrenzvorteilen und ermöglichte die Eroberung und Durchdringung immer weiterer Regionen und Kontinente, darunter vor allem Ostasien mit Indien, China und Japan. Andere Länder (USA, Frankreich, Deutschland, Japan) reagierten hierauf mit neuer protektionistischer Abschottung durch Schutzzölle, mit Konzepten nachholender Industrialisierung. Später verhielten sich Länder wie Brasilien, Argentinien, Südkorea und schließlich das zum staatlich regulierten Kapitalismus konvertierte China ebenso. Doch in der Regel konnten die damit verbundenen Aufstiegshoffnungen – das Aufschließen auf die etablierten Industriemetropolen – nicht eingelöst werden. Dafür braucht es günstige Rahmenbedingungen im internationalen Umfeld und in der eigenen Ausstattung mit Ressourcen und Potenzialen. Einerseits konnten es kleine Staaten mit Nischenvorteilen als Handels- oder Finanzpunkte oder Lieferanten wertvoller Rohstoffe sein: Länder wie Singapur, einige Karibikinseln, die Vereinigten Arabischen Emirate, aber auch politische Vasallen des Hegemonialstaates wie Taiwan, Südkorea. Den anderen Typus erfolgreicher nachholender Industrialierung stellen große Flächenstaaten mit Möglichkeiten der Kapitalverwertung durch große Binnenmärkte und mit Machtressourcen durch eine große, motivierte Bevölkerung: China, Russland, Indien. Dies ist die Grundlage einer neuen Systemkonkurrenz (die sich von der alten Blockkonfrontation der Sowjetzeit freilich grundlegend unterscheidet).

Chinas Rückkehr „auf die Weltbühne“

In einem kurzen Abschnitt umreißt der Autor die für ihn in der Rückschau wesentlichen Abschnitte und Wendepunkte der chinesischen Geschichte. Bis ins frühe 19. Jahrhundert habe das Reich der Mitte das höchste Bruttoinlandsprodukt (BIP) weltweit gehabt, einige Regionen wie das Yangtse-Delta im 18. Jahrhundert ein Wohlstandsniveau wie Westeuropa aufgewiesen. Dann kam es anders: „Der Grund für den beispiellosen Niedergang im 19. Jahrhundert war vor allem, dass China keine flächendeckende kapitalistische Industrialisierung umsetzen konnte und der Zentralstaat der Qing-Dynastie (1644 – 1911) vor dem Hintergrund von Finanzkrisen, militärischer Aggression und interner Revolten immer stärker die Kontrolle verlor (S. 94).“ Diese Phase wurde erst beendet durch die Ausrufung der Volksrepublik 1949. Der Zustand des Landes war allerdings kritisch: Zur Zeit der kommunistischen Machteroberung trug China weniger als 2 % zum globalen BIP bei, während seine Bevölkerung 22 % der Weltbevölkerung ausmachte. Die Armut war groß, eine Industriestruktur, auch das dafür notwendige technologische Wissen waren nur ansatzweise vorhanden und oftmals veraltet. Die Sowjetunion war daher in den fünfziger Jahren noch ein notwendiger Bündnispartner, Helfer und Vorbildgeber im Aufbau einer Gesellschaft, die vor der Erreichung des Sozialismus eine nachholende Industrialisierung setzen musste. Die viele Jahrhunderte herrschende Tradition der Zentralität der Staatsmacht im System der Asiatischen Produktionsweise, der antiimperialistische Befreiungskampf gegen die Fremdherrschaft und die vielfach zerstrittenen innerchinesischen Machthaber (Warlords) der bürgerlichen Republik nach 1911, der Sieg der Kommunistischen Partei 1949 und ihre Aufbauleistungen in der Volksrepublik: Das alles „prägt den chinesischen Staats-Zivilgesellschafts-Komplex bis heute„.

Die USA dagegen befanden sich damals auf dem Höhepunkt ihrer Macht und bildeten das Zentrum der Weltwirtschaft. Anfang der 1970er Jahre stieß ihre Hegemonie an erste Grenzen. Nach Darstellung von Schmalz kam eine ernsthafte Gefährdung jedoch nicht so sehr von der Sowjetunion und ihren Verbündeten. Diese hatten zwar durch den Aufbau militärischer Macht der Kapitalverwertung räumliche Grenzen gesetzt, wirtschaftlich aber überforderte dies die Kraft des sowjetischen Blocks, der in der Nachkriegszeit nie mehr als ca. 13 % zum globalen BIP, damit etwas mehr als die Hälfte des Anteils der USA alleine, beitragen konnte. Die wirkliche Herausforderung der amerikanischen Ökonomie kam aus der kapitalistischen Welt selbst. Die fordistischen Produktionsstrukturen waren an ihre Grenzen gekommen und führten zu Kapitalverwertungsschwierigkeiten, die nach neuen Methoden (Mikroelektronik) verlangten; hinzu kamen Veränderungen in der Ressourcenstruktur („Ölkrisen“). Dynamische Konkurrenten wie Westdeutschland und andere westeuropäische Verbündete, Japan und andere ostasiatische „Tigerstaaten“ konnten ihren Anteil am Weltmarkt sprunghaft vergrößern. Im Verlaufe dieser Restrukturierung der Weltwirtschaft, die im Buch ausführlich dargestellt wird, kam es zum Zusammenbruch des sowjetischen Blocks und zum Aufstieg neuer Machtzentren.

Eines davon wurde schließlich China. Mit dem Konzept einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ läutete die Partei- und Staatsführung ab den frühen 1990er Jahren einen Kurswechsel ein. Es kam zu einschneidenden Reformen in Fragen des Eigentums an Produktionsmitteln, der Investitionsplanung, des Außenhandelsregimes usw. Schon ab 1995 wurden 89 % aller Konsumwaren zu Marktpreisen gehandelt. Privatisierungen fanden auf allen staatlichen und kommunalen Ebenen statt. Wenn es dabei anfangs um kleinere und unrentable Betriebe ging, so wurden nach und nach doch größere Unternehmen davon ergriffen. Auch große Staatsunternehmen in Schlüsselsektoren wie Telekommunikation, Elektronik, Energie und Bauwesen wurden durch Konkurrenz und private Kapitalbeteiligung zur raschen Modernisierung gezwungen. Die Voraussetzungen, im Weltmarkt mitzumischen, waren geschaffen. Was aber zu einem wesentlichen Ausmaß erhalten blieb, war eine Regulierung des neuen chinesischen Kapitalismus durch den Staat und die Partei, die weiterhin „kommunistisch“ heißt. Natürlich hatte das Auswirkungen auf die Neustrukturierung verschiedenster Spaltungslinien: zwischen Stadt und Land, Sonderzonen und anderen Provinzen, städtischen und ländlichen Arbeiter:innen, alten und neuen Mittelschichten, Industrie- und Finanzkapital. Insgesamt dehnte sich die Arbeiterklasse aus. Die Freisetzung von Arbeitskräften aus schrumpfenden Staatsbetrieben und die Umstellung der traditionell betriebsbezogenen auf nach westlich-kapitalistischem Vorbild staatlich organisierten Sozialsystemen zog die Bildung eines riesigen Niedriglohnsektors nach sich. Dies waren tiefgreifende Vorgänge, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte abspielten und entsprechende Verwerfungen nach sich zogen.

Mit Bezug auf das China der Gegenwart ist damit wohl festzustellen, dass es keineswegs mehr um das geht, wofür die Kommunistische Partei einst angetreten ist: einen antiimperialistischen Befreiungskampf, der in dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft seine konsequente Erfüllung finden soll. Zwar mögen antiimperialistisches Bewusstsein, marxistische Bildungsinhalte und die vage Vorstellung einer sozialistischen Perspektive noch eine gewisse Rolle (neben älteren Traditionen wie dem Konfuzianismus) spielen. In der heutigen weltpolitischen Konstellation und der Positionierung Chinas darin aber handelt es sich um eine kapitalistische Gesellschaft chinesischer Prägung, in der die Ökonomie einer vergleichsweise starken staatlichen Regulation unterliegt, die Arbeiterklasse jedoch nicht über eine eigenständige Vertretung ihrer Interessen verfügt. Im internationalen Auftreten ist sich die Partei- und Staatsführung ihrer Machtressourcen bewusst, über die sie verfügt.

Die Finanzkrise 2008/9 als Katalysator

Einen entscheidenden Einschnitt in der internationalen Diskussion über die Position und Rolle Chinas bildete die Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008/9. Schmalz diskutiert den Stellenwert dieser Krise: Die „Große Depression“ von 1929 bis 1933 habe die gesamte damalige Weltwirtschaft (außer der Sowjetunion) betroffen, die Produktion brach massiv (in den USA bis zu 80 %) ein. Aktuellere Krisen wie die Schuldenkrise von 1982 oder die Asienkrise von 1997/8 betrafen meist den globalen Süden, während der Norden sich davon abschirmen konnte. Die Krise von 2008/9 aber war eine „transatlantische Krise“, deren Epizentrum in den USA, den EU-Staaten und auch Japan lag und die den westlich-imperialistischen Block tief erschütterte. Dagegen wurden China, Indien und große Teile des afrikanischen Kontinents zu keinem Zeitpunkt von einer Rezession erfasst. In vielen Ländern Süd- und Ostasiens wuchs die Wirtschaft mit erstaunlicher Kraft. Die Schätzungen über diese globalen Veränderungen reichten alsbald von der Prognose, dass die USA die unangefochtene Weltmacht Nr. 1 bleiben würden, über Szenarien einer graduellen Machtverschiebung bis hin zur These einer umfassenden Hegemoniekrise.

Schmalz dürfte mit seiner differenzierten und vorsichtigen Argumentation eher der Mitte dieser Positionen zuzurechnen sein. Für die ungleiche Ausbreitung und Folgewirkung der Krise seien unterschiedliche Herangehensweisen ursächlich gewesen. In den USA und den meisten europäischen Ländern, darunter eben die Troika aus EU-Kommission, Europäische Zentralbank (EZB) und Weltwährungsfonds (IWF), wurde der Finanzsektor massiv liberalisiert, die Folgen damit auf die schwächsten Länder, Regionen und Klassen abgewälzt. China dagegen ging den umgekehrten Weg einer stärkeren Regulierung des Finanzsektors und legte zudem ein umfangreiches Konjunkturprogramm auf, zeigte damit Handlungsfähigkeit. Manche Analysen, gerade von marxistischer Seite, sprachen nun davon, dass der regulierte chinesische Kapitalismus krisenfester sei als westlich-liberale. Auf bürgerlicher Seite wurde die Argumentation dahin gewendet, dass „Diktaturen“ eben einen Vorteil in Krisen auf ihrer Seite hätten, den man freilich im „Westen“ nicht mit der Preisgabe individueller „Freiheiten“ erkaufen wolle. Schmalz vertritt die Ansicht, dass die Krise von 2008/9 diese heute gängige Argumentationsfigur beschleunigt habe, wie sie eben auch Chinas Rolle in der Weltpolitik real gestärkt habe.

Nur müsse man sich hier klar machen, dass diese Veränderung ihre realen Grenzen habe. Auch andere Länder hatten in der Krise relativ profitiert, indem ihr Wachstum im Vergleich mit dem der alten Industrieländer nun schneller verlief. Hierzu gehörten insbesondere sogenannte Schwellenländer. China war hiervon das Gravitationszentrum, die hohe Nachfrage des gewaltigen Binnenmarktes tat ebenso ihre Wirkung wie vergleichsweise günstige Kredite und Direktinvestitionen in andere Schwellenländer oder bestimmte Regionen wie Afrika und Teile Lateinamerikas, aber auch in westliche Industrieländer, allen voran die USA. Zu einer zentralen Anlagesphäre wurde für China der US-Staatsanleihenmarkt, so dass es paradoxerweise zu einer gegenseitigen Abhängigkeit kam, dem bald so bezeichneten „Chimerica-Syndrom“, dessen Grundlagen nicht zuletzt in den immer höheren Außenhandelsdefiziten der USA zu sehen sind.

Dies alles zog natürlich Befürchtungen in den USA und der EU nach sich, dass Peking immer mehr an Boden gewinne und dies auch bewusst plane. Dennoch blieb die Rolle Chinas im internationalen Institutionengefüge bescheiden (UNO, Weltbank, IWF, WTO usw., in denen die USA als größter Geldgeber dominieren; gegenüber der NATO als militärischem Bündnis des „Westens“; und zu G7 wird Peking erst gar nicht zugelassen). Dagegen setzt es die Gründung alternativer, eher von der ostasiatischen Großregion bestimmter Institutionen wie die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (Asian Infrastructure Investment Bank, AIIB, eine multilaterale Entwicklungsbank von 57 Staaten unter chinesischer Führung), regionale Freihandelsverträge und die Seidenstraßeninitiative OBOR. Doch die geschichtliche Entwicklung früherer Jahrhunderte zeigt, dass die Zeiträume grundlegender globaler Veränderungen – wie der Ablösung eines schwächer werdenden Hegemons durch einen neuen, aufsteigenden- sehr lang sind und diese auch scheitern können.

Grundzüge einer neuen Weltordnung?

Im so überschriebenen Schlussabschnitt (S. 382 – 410, ohne das hier eingefügte Fragezeichen) wird eine Fülle von möglichen, wahrscheinlichen, jedenfalls analytisch begründeten Szenarien eines Gesamtvergleichs zwischen USA und China sowie Entwicklungen in einzelnen Sektoren (u. a. Finanzen und Währungen, Produktion und Ressourcen, Wissenschaft und Technologie, alternative Energien) ausgebreitet, die interessant für aufmerksame Leser:innen sind, aber im bescheidenen Rahmen einer Buchbesprechung nicht in ihrer Differenziertheit schlüssig darstellbar sind. Insgesamt ist China im Begriff, aufzuholen, jedoch in der Breite noch nicht den USA gefährlich, sondern eher spektakulär in bestimmten Sektoren. Dazu kommt noch, dass diese Verhältnisse aus der Zeit von 2017, also dem ersten Trump-Jahr, beschrieben sind. Das tut der Aktualität freilich nur geringen Abbruch, denn man sollte in der Perspektive von dem Personalwechsel im Weißen Haus (J. Biden) keinen grundsätzlichen Kurswechsel erwarten. Die einzelnen Fakten, Daten, Zahlen ändern sich freilich rasch.

Daher soll an dieser Stelle zum Abschluss nur ein Aspekt des Gesamtvergleiches USA und China in Bezug auf eine mögliche heiße Konfrontation, einen Krieg beschrieben werden, wie Schmalz ihn sieht: „Die Zeichen stehen auf Konfrontation: In Ostasien könnte die traditionelle balance of power mit den USA und ihren Verbündeten als Gegengewicht zu China ins Wanken geraten. China hat außer mit Russland, Pakistan und einigen zentralasiatischen Staaten bisher wenige Verbündete …, aber aufgrund der politischen Annäherung an verschiedene ostasiatische Länder wie Thailand oder Indonesien wird es auf Dauer schwer werden, die Volksrepublik militärisch einzudämmen. Die umfangreichen Militärausgaben werden das Land dazu befähigen, Marine und Luftwaffe in einer Weise zu modernisieren und auszubauen, die ihre Einsatzfähigkeit weit über die eigenen Grenzen gewährleisten wird, sodass die Volksarmee bald auch außerhalb Ostasiens interventionsfähig ist. China wird zudem mit hoher Wahrscheinlichkeit langfristig die Kontrolle über das Chinesische Meer gewinnen. Die zentrale Frage besteht jedoch darin, ob es zu militärischen Konfrontationen kommen wird. Außerdem ist fraglich, ob China ein alternatives Bündnissystem aufbauen kann. (S. 402 f.)“

Und weiter: „Die Differenzen zwischen dem aufstrebenden China und Russland auf der einen Seite mit dem Westen und seinen Verbündeten in Ostasien auf der anderen Seite brechen bereits in geopolitischen Konflikten wie der Ukraine-Krise oder im Süd- bzw. Ostchinesischen Meer auf. In diesem neuen ‚capitalist cold war‘ (D’Aveni 2012) könnten sich zwei Blöcke herausbilden: ein transatlantisch-japanisch-südostasiatisch dominierter und ein chinesisch-zentralasiatisch-russischer Block, mit einigen Weltregionen und Staaten, die geopolitisch nicht klar angebunden sind (Brasilien, Südamerika, Indien, Südafrika und große Teile Subsahara-Afrikas etc.). Bisher schien diese geopolitische Zweiteilung paradoxerweise mit einer relativ hohen globalen ökonomischen Integration einherzugehen. Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass es zu einer Reihe von territorialen Konflikten und sogar (begrenzten) Kriegen wie dem Syrienkonflikt sowie einer Welle von Abschottung und Protektionismus – auch innerhalb der beiden geopolitischen Blöcke – kommt. (S. 409 f.)“

Unsere Aufgabe?

In der bürgerlichen Presse wird China nahezu täglich vorgeführt als eiserne Diktatur, die Demokratie und Men­schenrechte mit Füßen tritt, Minderheiten unterdrückt und mit der Corona-Pandemie nur deswegen fertig wird, weil sie so handelt. Dies ist im Einzelnen nicht völlig falsch, aber in dieser Einseitigkeit, die den „Westen“ im gewohnt hellen Licht erstrahlen lassen soll, doch weit von der Realität entfernt und für uns nicht zu akzeptieren. In Teilen der Linken tobt der Meinungsstreit, ob China „sozialistisch“, im Aufbau des Sozialismus befindlich, „kapitalistisch“ oder „imperialistisch“ ist. Die hier unterstützte Position ist klar. Demnach handelt es sich in der Auseinandersetzung zwischen dem „Westen“ einerseits, China, Russland etc. andererseits um Konfrontationen zwischen imperialistischen Seiten. Wie stehen wir dazu? Das Vorbild können wir der Lage vor und in dem Ersten Weltkrieg entnehmen. Nachdem August Bebel (gestorben 1913) zu seinen Lebzeiten mit Feuereifer empfohlen hatte, gegen den reaktionären Zarismus „die Flinte auf den Buckel zu nehmen“, stimmte die SPD 1914 den Kriegskrediten zu. Karl Liebknecht setzte dagegen: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“

Diese Position ist unbedingte Voraussetzung und reicht aus. Wir sind aus guten Gründen gegen das Säbelrasseln gegen China und erst recht gegen einen heißen, verheerenden Krieg. Aber um dies umzusetzen, müssen bzw. dürfen wir uns nicht mit einem („sozialistischen“) China identifizieren und seine Position ergreifen, das so eben nicht (mehr) existiert und absehbar nicht zu erwarten ist. Wir sind gegen Säbelrasseln und Krieg, weil der Hauptfeind im eigenen Land steht.

F/HU, 23.5.2021


Machtverschiebungen im Weltsystem – Der Aufstieg Chinas und die große Krise
von Stefan Schmalz
Campus-Verlag 2018
39,95 €
ISBN: 978-3593506487


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