Gewerkschaftlinke Hamburg und Allesdichtmachen

Dokumentiert

Der folgende Beitrag einiger GenossInnen der Gruppe Arbeiterpolitik, die ZeroCovid kritisch unterstützt haben, beziehen sich auf Kommentare und Artikel, die im Jour Fixe der Hamburger Gewerkschaftslinken abgedruckt wurden.

2021-05-26

Ein Kommentar zu zwei auf https://gewerkschaftslinke.hamburg/ empfohlenen Artikeln

In einem Kommentar vom 17. Mai 2021 wird die Initiative Allesdichtmachen als positiven „Weckruf“ für „die Linke“ bewertet.1 Wir wollen hier zwei Artikel kommentieren, die auf der Homepage empfohlen werden und in Zusammenhang mit Allesdichtmachen stehen.

Der erste Artikel stammt von dem hessischen Notfallsanitäter Jan Schad und wurde am 5. Mai 2021 in der Berliner Zeitung veröffentlicht und am 7. Mai aktualisiert.2

Im zweiten Artikel bedanken sich Ärzte bei Allesdichtmachen. Auch dieser Artikel wurde in der Berliner Zeitung veröffentlicht, und zwar am 1. Mai 2021 und einen Tag später aktualisiert.3

Jan Schad spricht in seinem Artikel viele tatsächlich bestehende Probleme des Gesundheitssystems an, vom Personalmangel, über die DRG-basierten Fallpauschalen, die Gewinne der privaten Krankenhausbetreiber bis zu den multiresistenten Erregern MRE. Der Kern seines Beitrags besteht darin, dass er, als Beschäftigter im Gesundheitssystem, die Initiative Allesdichtmachen verteidigt; anders als viele andere dort Beschäftigte, von denen er sich ausdrücklich distanziert.

Er beklagt die nach seiner Meinung überzogenen Reaktionen auf die Initiative und den Versuch, sie in eine rechte Ecke zu stellen. Danach trägt er einige Argumente vor, um die Initiative zu verteidigen.

Diese lassen sich zu zwei Hauptargumenten zusammenfassen:

Erstens, es habe in Deutschland nie eine Überlastung der Intensivstationen gedroht und

zweitens, es habe weltweit keine „Übersterblichkeit“ wegen der Corona-Pandemie gegeben.

Natürlich ist ihm zuzustimmen, wenn er kritisiert, weder Regierung noch DIVI würden sich für eine Aussetzung des Fallpauschalensystems mindestens während der Pandemie einsetzen.

Allerdings wählte Schad als Kronzeugen für sein erstes Argument den Präsidenten der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß, der am 2. April dieses Jahres in der Bildzeitung behauptete: „Eine totale Überlastung unseres Gesundheitssystems oder gar Triage wird es in den kommenden Wochen absehbar nicht geben. Es droht auch kein Ende der Versorgung.“ Diese Behauptung stieß nicht nur beim DIVI und vielen Intensivmedizinern auf heftige Kritik. Richtig sauer reagierte auch Alexander Eichholtz, Personalrat der Berliner Charité und in der Intensivpflege beschäftigt: „Seit heute ein Theoretiker wie Gerald Gaß von der @DKGev, heute erster Arbeitstag und von Beruf 0 Ahnung von Intensivmedizin, Scheiße erzählt habe ich kaum mehr Lust mitzuhelfen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Lasst uns nach Hause gehen, Kollegen!“ 4

Was Jan Schad vorbringt, wird prophylaktisches Paradoxon genannt: Wenn Maßnahmen zur Vorbeugung einer Katastrophe funktionieren und die Katastrophe ausbleibt, gibt es hinterher immer Menschen, die den Sinn der Maßnahmen bestreiten. Niemand kann hinterher beweisen, dass es ohne Lockdown in Deutschland nicht zu einem Zusammenbruch der Intensivbetreuung und zur Triage gekommen wäre. Tatsache ist aber, und das bestreitet auch Schad nicht, dass es in anderen Ländern zu diesem Punkt gekommen ist, das Virus also das Potenzial dazu mitbringt.

Was Schad nicht grundsätzlich kritisiert, wohl aber wir, ist die Politik der Regierung, dem Virus so lange freie Bahn zu lassen bis die Intensivbetreuung vor dem Zusammenbruch steht. Und das auf dem Rücken der dort Beschäftigten. Die Zahl der Coronatoten bei noch funktionierender Intensivbetreuung, wird damit billigend in Kauf genommen.

Auch diese Zahl, in Deutschland am 22. März 87.320,5 bestreitet Schad nicht. Er versucht aber, sie zu relativieren. In Bezug auf die Sterblichkeitsrate sagt er, wenn man die Gestorbenen durch die Zahl der positiv getesteten teilen würde, bekäme man geringere Werte als bei der vom RKI verwendeten Case-Fatality-Rate, bei der die abgeschlossenen Fälle berücksichtigt würden. Nach der ersten Methode käme man weltweit auf eine Sterblichkeit von 0,2 %. Die Zahlen für Deutschland vom 22. März ergeben aber für Deutschland eine Sterblichkeit von 2,4 %, wenn man die erste Methode anwendet: 87.320 geteilt durch 3.651.679 positiv Getestete ist gleich 0,0239, was gerundet 2,4 % entspricht.

Weiterhin zweifelt Schad an, dass es überhaupt eine „Übersterblichkeit“ wegen Sars-CoV 2 gebe. Laut Statistiker Göran Kauermann 2020 würde sich die weltweite Übersterblichkeit der Jahre 2020, 2019 und 2015 kaum voneinander unterscheiden.

Was ist von diesen Rechenbeispielen zu halten? Zitieren wir den Schweizer Herzchirurgen Paul Robert Vogt aus seinem bemerkenswerten Artikel vom 08. April 2020: „Ob wegen COVID-19 nun 0.9 % oder 1.2 % oder 2.3 % versterben ist sekundär und bloß Futter für Statistiker. Relevant ist die absolute Anzahl an Toten, die diese Pandemie verursacht. Sind 5000 Tote weniger schlimm, wenn sie 0.9 % aller COVID-19-Träger darstellen? Oder sind 5000 Tote schlimmer, wenn sie 2.3 % aller COVID-19-Träger darstellen?“6 87.320 Tote bleiben 87.320 Tote und sie sind aufgrund politischer Entscheidungen gestorben.

Vollends unredlich wird Schads Argumentation, wenn er auf die Zahl der an Herzinfarkt oder Schlaganfall Verstorbenen hinweist: „Im Rettungsdienst sind übrigens eindeutig internistische Probleme wie Herzinfarkt oder neurologische Probleme wie Schlaganfall maßgeblich. 270.000 Deutsche erleiden jedes Jahr einen Schlaganfall, 99.900 Personen sterben daran, das sind 37 Prozent. Warum versuchen wir es nicht mal mit Verbot von Zigaretten, Alkohol, fettem Essen, Zucker und Zwangssport, um diese Menschen zu retten? Weil wir eine freie, eigenverantwortliche und mit Eigenrisiko ausgestattete demokratische Gesellschaft sind.“

Wenn ich rauche und zu viel Alkohol konsumiere schade ich in erster Linie mir selber und habe das zu verantworten.7 Wenn ich andere Menschen infiziere, schade ich diesen möglicherweise sosehr, dass sie dabei ihr Leben verlieren. Der Vergleich von Alkoholkonsum mit einer tödlichen Infektionskrankeit ist unzulässig. Es ist der pure sozialdarwinistische Zynismus. Wenn Schad damit Allesdichtmachen verteidigen will, geht sein Schuss gehörig nach hinten los.

Kommen wir zum zweiten Artikel. Wir wollen nur den Psychiater Matthias Gubitz heraus greifen, weil sein Beispiel für andere steht. Gubitz verweist auf ein Papier des Innenministeriums vom 28.04.2020, das den Titel trägt: „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“.8 Damit wir nicht falsch verstanden werden: Natürlich versuchen Regierung und die entsprechenden Kapitalgruppen die Pandemie für ihre Interessen auszunutzen. Natürlich wird die Pandemie auch dafür benutzt, bestimmte Szenarien in der Praxis auszuprobieren und die verschärfte Repression und die Einschränkung der Bürgerrechte, die sich in den Polizeigesetzen der verschiedenen Bundesländer widerspiegelt, auch mit der Pandemie zu begründen. Das bedeutet aber nicht umgekehrt, dass es die Pandemie nicht gibt und jede Maßnahme gegen sie automatisch bösartig sein muss und nicht auch in der Sache begründet sein kann.

Gubitz verweist auf den Ausdruck „gewünschte Schockwirkung“ aus dem Papier und unterstellt dem Innenministerium eine Strategie der Angst, um seine Ziele zu erreichen. Auch hier wieder: Natürlich handeln Innenminister so und wir kennen diese Strategie der Angst vom Kampf gegen Kommunisten, Terroristen, Islamisten. Aber wenn wir die Passagen aus dem Papier lesen, stellen wir fest, dass sie sich gegen Corona-Verharmloser oder -Leugner und die dahinter stehende sozialdarwinistische Haltung richten: „Wir müssen wegkommen von einer Kommunikation, die auf die Fallsterblichkeitsrate zentriert ist. Bei einer prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate, die vor allem die Älteren betrifft, denken sich viele dann unbewusst und uneingestanden: «Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher». Diese Mechanismen haben in der Vergangenheit sicher zur Verharmlosung der Epidemie beigetragen.“

Und weiter: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:

  1. Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.
  2. „Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden“: Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z. B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.
  3. Folgeschäden: Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild. Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren. Eine viel häufigere Folge ist monate- und wahrscheinlich jahrelang anhaltende Müdigkeit und reduzierte Lungenkapazität, wie dies schon oft von SARS-Überlebenden berichtet wurde und auch jetzt bei COVID-19 der Fall ist, obwohl die Dauer natürlich noch nicht abgeschätzt werden kann.“

Wir haben so ausführlich aus dem Papier zitiert, um zu zeigen, dass an dieser Stelle auf Szenarien hingewiesen wird, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit entwickeln können, wenn man die Pandemie ungebremst durchlaufen lässt und die wir in verschiedenen Ländern beobachten mussten, in denen die Lage außer Kontrolle geriet.

Etwas anderes ist die Kritik daran, dass die Maßnahmen vollkommen einseitig die lohnabhängige Bevölkerung treffen, bei Verschonung der großen Vermögen und Kapitalgruppen, dass der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, besonders im produzierenden Gewerbe, in Kindergärten und Schulen vollkommen unzureichend war und sich die äußerst belastenden Maßnahmen dadurch über einen viel zu langen Zeitraum erstreckt haben. Allerdings kann die Antwort auf diese Regierungspolitik wohl kaum darin bestehen, überhaupt nichts gegen die Pandemie zu unternehmen. Dann hätte man geschafft, das CSU-geführte Innenministerium rechts zu überholen. Chapeau !

Ein letzter Satz zum Schwarzweißdenken in Bezug auf Allesdichtmachen und Regierungen in kapitalistischen Gesellschaften: Ein Mensch, der in dem zweiten Artikel aus der Berliner Zeitung Verständnis für Allesdichtmachen zeigte, war ausgerechnet der Lobbyist der privaten Krankenhausbetreiber, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.


7 Und wir reden hier noch nicht von der gesellschaftlichen Bedingtheit von Krankheiten, von Verhältnissen, die süchtig und krank machen.

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