Afghanistan –
Vom Desaster zu neuen Kriegen

Afghanistan, ein Staat mit einer durch die NATO hochgerüsteten Armee . . .
Quelle: wikimedia
Der folgende Artikel setzt sich in kurzen Thesen mit dem Ende des NATO-Krieges in Afghanistan auseinander.

Es folgen vier Kästen:

  • eine Zeittafel zum besseren Überblick über die Geschehnisse seit den 70er Jahren;
  • zur Unterstützung der aufständischen Mudjaheddin durch die USA ab 1979;
  • Einschätzungen eines in Afghanistan tätigen Arztes,
  • die New York Times über die Fortsetzung des Krieges.

 

  1. Das Desaster des Westens, d.h. der USA und in ihrem Schlepptau die NATO-Verbündeten ist offensichtlich.
    Die Invasion der USA begann kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 9. September 2001 und sollte (zumindest in der Propaganda) eigentlich dazu führen, dass
    a) die Terrororganisation Al Kaida, der man die Anschläge zur Last legte, und darüber hinaus generell Terrorgruppen zerschlagen werden;
    b) die Herrschaft der Taliban in Afghanistan beendet wird;
    c) ein prowestliches, demokratisches Afghanistan entsteht, das durch wirtschaftliche Entwicklung auch politische Stabilität erreichen sollte.Die Bilanz nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen nach 20 Jahren Krieg ergibt:a) Al Kaida existiert weiter, zum Teil in Nachfolgegruppen; darüber hinaus entstanden in vielen Ländern neue Terrorgruppen, z.B. der IS und damit verwandte Gruppierungen.
    b) Die Taliban haben wieder die Macht in Afghanistan übernommen und regieren Afghanistan nach rückwärtsgewandten islamistischen Vorstellungen.
    c) Afghanistan ist zerstörter und ärmer als je zuvor.
  2. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich in Afghanistan nach dem Sturz des Königs 1973 eine Reformbewegung entwickelt, die sich auf die städtischen gebildeten Schichten stützte.
    Sie begann, die Stammesfürsten und Großgrundbesitzer zu entmachten und Reformen durchzuführen, zum Beispiel Schulunterricht für Mädchen auf dem Lande. Die Vertreter:Innen dieser anfangs noch vorsichtigen Modernisierungsversuche sammelten sich in der DVPA (demokratische Volkspartei Afghanistans), die sich zwar kommunistisch nannte, aber in der Hauptsache aus städtischen Intellektuellen bestand, von denen etliche in den USA oder der SU studiert hatten und die dort mit dem Marxismus in Berührung kamen. Unterstützung erhielt die DVPA vor allem im weltoffenen Kabul und von Teilen der Armee, nicht zuletzt von gebildeten Frauen. Aber von Beginn an wurde diesen Modernisierungsbemühungen auf dem rückständigen Land, in dem in vielen Provinzen noch feudale Zustände herrschten, erhebliche Widerstände entgegengebracht. Im April 1978 kam die DVPA durch einen Militärputsch an die Macht. Bald schon zerfiel die Partei in zwei sich bekämpfende Fraktionen. Endgültig verspielte die Partei den letzten Rest an Unterstützung, als sich der Flügel durchsetzte, der sich an der Sowjetunion orientierte und der durch von oben verfügte Zwangsmaßnahmen Reformen durchsetzen wollte. Dabei spielte vor allem die Frauenfrage eine entscheidende Rolle: In der Öffentlichkeit wurde die Verschleierung verboten, Frauen wurden mit Polizeigewalt „entschleiert“ und unter Strafandrohungen in die Schulen gezwungen, teilweise wohl auch mit Hilfe von bewaffneten Frauenbrigaden. Diese Rücksichtslosigkeit und Brutalität im Umgang mit der armen und meist nicht alphabetisierten Landbevölkerung, für die die Religion, tradierte Ehrvorstellungen und eine strikte Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen Bestandteile ihres Alltags waren, führten zu Hass und Ablehnung und trieben die „Dorfarmut“ in die Hände der islamischen Reaktion. Genau das machte die Mujaheddin stark und schwächte die dem Namen nach „kommunistische“ Bewegung.

    . . . und einer überwiegend ländlichen Bevölkerung, die noch unter vorindustriellen Verhältnissen lebt und arbeitet
    Quelle: wikimedia
  3. Es gab keine Grundlagen in Afghanistan für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft oder für eine stabile Staatsgründung an der Seite des damaligen sozialistischen Lagers.
    Als die Sowjetunion in dieser Situation den strategischen Fehler beging, zur Unterstützung der Regierung im Dezember 1979 mit Truppen einzumarschieren, entwickelte sich aus dem Widerstand gegen politische Reformen und Frauenrechte ein nationaler Befreiungskrieg. In der damaligen weltpolitischen Lage, die von der Konfrontation um die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa gekennzeichnet war, nutzten die USA die Gelegenheit dazu, die Aufständischen („Mudschaheddin“) massiv militärisch zu unterstützen und mit modernsten Waffen zu beliefern. Aber: Wer das Mittelalter bewaffnet, bekommt ein bewaffnetes Mittelalter, aber keine bürgerliche Demokratie.
  4. Der Widerstandskrieg endete nicht nur mit dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989, sondern auch mit der Niederlage der Reformbewegung und der sie tragenden städtischen Schichten.
    Der Großteil von ihnen floh in die Nachbarländer oder weiter in den Westen. Die wieder siegreichen Stammesfürsten, die nun bis an die Zähne mit modernen Waffen ausgerüstet waren, begnügten sich nun nicht damit wie in früheren Zeiten, sich in ihre Stammesgebiete zurückzuziehen, sondern sie führten nun Krieg gegeneinander und zerstörten Afghanistan, insbesondere Kabul.
  5. Gegen diese gesellschaftliche Anarchie entwickelte sich eine neue Kraft, die Taliban,
    eine religiös-militärische Bewegung aus der größten Bevölkerungsgruppe, den Paschtunen. Sie stützte sich innenpolitisch auf die Dorfarmut, außenpolitisch auf ein Rückzugsgebiet in Pakistan, in dem sie in religiösen Schulen (Madrasas) ideologische Unterweisung erhielt, und hatte ein gegen die Stammesfürsten gerichtetes nationales Programm. Nach Lage der Dinge konnte ihre religiöse Ideologie auch nur mittelalterlich sein, da es keine anderen Orientierungspunkte gab. Sie musste auch antiwestlich sein, da der Westen ja die kriegführenden Stammesfürsten unterstützte. Was die Rolle der Frauen betrifft, waren sie noch rückschrittlicher als ihre Gegner. Es gelang dieser Bewegung, mit Unterstützung Pakistans, die Stammesfürsten zu besiegen, das Land weitgehend zu einigen und 1996 ein islamisches Emirat zu errichten.
  6. Die Invasion der USA 2001 stützte sich auf die besiegten Stammesfürsten,
    die „Warlords“, die den USA quasi die Bodentruppen stellten, und brachte sie wieder an die Macht. Die NATO, also der gesamte Westen, unterstützte nun das Vorhaben, aus Afghanistan ein modernes westliches Land zu machen, in dem Terroristen keinen Unterschlupf mehr finden könnten. „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, formulierte der deutsche SPD-Verteidigungsminister 2004. Doch für ein solches Vorhaben hätte man genau die Kräfte gebraucht, die in den siebziger Jahren versucht hatten, Afghanistan zu modernisieren. Gegen diese Kräfte hatte der Westen ja das Mittelalter bewaffnet und sie waren im Bürgerkrieg untergegangen.
  7. Für den Aufbau eines demokratischen, bürgerlichen Afghanistan gab es überhaupt keine strukturellen und materiellen Voraussetzungen und so konnte sich lediglich eine korrupte Besatzungsökonomie entwickeln.
    Die hereinkommenden Gelder zementierten in der Hauptsache die überkommenen Verhältnisse, indem sich die Stammesfürsten bereicherten und das Volk arm blieb. In den Städten, vor allem in Kabul, entwickelte sich eine Schicht, die von der Besatzung und von der aufgeblähten korrupten Kabuler Regierung profitierte. Tausende, darunter viele Frauen, arbeiteten für die Botschaften, für die Verwaltungen der Regierung, für die vielen NGO´s, für die Luxushotels, für die Militärstandorte, oftmals für ein Vielfaches des Geldes, das ein durchschnittlicher Afghane verdient. So konnte sich eine westlich orientierte Schicht bilden, die aber von dem Schutz der ausländischen Truppen abhängig blieb. Eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung, die ein nationales Bürgertum hätte hervorbringen können, konnte unter diesen Umständen gar nicht stattfinden. Das Tragische ist, dass erneut – diesmal durch das Vorgehen der USA und ihrer Bündnispartner – das Anliegen vieler afghanischer Frauen nach Bildung, Gleichberechtigung und Freiheit diskreditiert wurde, denn „Frauenbefreiung“ war für die Landbevölkerung in der Realität verknüpft mit Zwangsmaßnahmen, Bombardierung, Drohnenkrieg, Flucht und dem Tod unzähliger Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Dies gilt sowohl für die Intervention der sowjetischen Armee 1979 als auch für die letzten 20 Jahre westlicher Intervention. Das geheuchelte Interesse an der angeblichen „Befreiung“ afghanischer Frauen von hiesigen PolitikerInnen oder westlichen „FeministInnen“ sollte uns nicht beeindrucken. Für die große Mehrheit der armen afghanischen Frauen haben Besatzung und Krieg nur Leid und Elend gebracht. Auch „Frauenbefreiung“ lässt sich weder herbeibomben noch durch Zwangsmaßnahmen durchsetzen.
  8. Die Taliban konnten sich wieder neu formieren als nicht nur gegen die Stammesfürsten gerichtete, sondern auch nationale Befreiungsbewegung.
    Mit jedem Luftschlag der westlichen Truppen gegen eine vermeintliche Widerstandszelle, bei der in der Regel viele unbeteiligte Menschen umkamen, verstärkte sich der Zulauf zu den Taliban. Der Aufbau einer afghanischen Armee gelang nur, weil den Soldaten von den USA mehr Sold bezahlt wurde, als sie sonst hätten verdienen können. Allerdings kam der Sold immer weniger bei den Soldaten an, weil die Offiziere das Geld in die eigene Tasche steckten. Dagegen wurden sie von den Taliban bezahlt, wenn sie überliefen. Das korrupte Kabuler Regime, das sich an den reichlich ins Land fließenden Geldern bereicherte, anstatt sie in Wirtschaft, Soziales, Bildung, Infrastruktur zu stecken, galt prinzipiell als Werkzeug ausländischer Mächte, das keinen Anspruch auf Loyalität haben konnte. Als die westlichen Truppen abzogen, gab es also für die Soldaten überhaupt keinen Grund weiter zu kämpfen. So brach das westliche Kartenhaus innerhalb weniger Wochen zusammen.
  9. Nach dem Sieg der Taliban sieht es so aus, als habe Afghanistan nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges eine Zentralregierung, die das ganze Land beherrscht und die Stammesfürsten entmachtet hat.
    Gleichzeitig aber ist es ärmer als zuvor, wirtschaftlich zurückgeworfen und ohne ausländische Hilfe kaum lebensfähig. Das wird sich der Westen zu Nutze zu machen versuchen. Die USA haben schon die Auslandsguthaben der afghanischen Regierung eingefroren. Deren Freigabe und die Gewährung von Hilfen werden als Erpressungsmittel dienen, um Zugeständnisse zu bekommen. Ein zusätzliches Problem sind islamistische Widerstands- und Terrorgruppen, die gegen die Taliban aktiv sind und die sich gegen sie einsetzen lassen. Der US-Generalstabschef Mark Milley malte Anfang September schon das düstere Bild eines Afghanistans, das zum Hort von Terrorzellen werde. Deren Förderer sitzen in Saudi-Arabien, den Emiraten, der Türkei, also alles prowestliche Staaten. Man kann die Aussage des US-Generals also durchaus als Drohung an die Taliban auffassen.
  10. Auch der Stadt-Land-Gegensatz könnte sich verschärfen:
    In den größeren Städten hat sich in den verschiedenen Zeitphasen, in den siebziger Jahren, unter den Kommunisten in den 80ern, und dann unter der US-geführten Besatzung ein an bürgerlichen Maßstäben orientiertes soziales Milieu inmitten der allgemeinen Armut entwickelt, das nun einiges zu verlieren hat, aber auch selbstbewusster geworden ist und die Taliban zur Einlösung ihrer jetzigen Versprechen auf Lockerung des Kurses drängen wird (siehe etwa die Demonstrationen der Frauen und ihre Forderungen auf Zulassung in Berufen und an den Universitäten). Die neue Führung steht zumindest unter Druck, darauf Rücksicht zu nehmen, damit ihnen nicht zu viele Fachkräfte und Leute mit internationalen Verbindungen von der Fahne laufen.
  11. Die Taliban werden Hilfe brauchen und die Hilfe nehmen, die sie bekommen können.
    China wäre eine Möglichkeit. China selbst ist daran interessiert, dass die Taliban nicht den islamistischen Widerstand in Xinjiang unterstützen. Die Taliban könnten das nutzen und den Westen zwingen, ihnen doch zu helfen. Ein prochinesisches Afghanistan wäre für ihn ja eine Schreckensvision, die die Niederlage des Westens noch katastrophaler machen würde. Insofern ist der jetzige Frieden die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

WAS WANN GESCHAH

(«Le Monde diplomatique» 09.09.2021)

1973: Am 17. Juli 1973 wird die Monarchie durch den Putsch von General Mohammed Daoud Khan beendet.

1978: Am 27. April 1978 kommt Nur Mohammed Taraki mit seiner (marxistisch-leninistischen) Demokratischen Volkspartei durch einen Putsch an die Macht.

1979: Im September verdrängt Ministerpräsident Hafizullah Amin seinen Rivalen Taraki aus dem Amt und lässt ihn am 8. Oktober ermorden. Am 25. Dezember marschiert die sowjetische Armee in Afghanistan ein, weil Moskau eine Annäherung Amins an Washington befürchtet. Am 27. Dezember wird Amin durch KGB-Agenten ermordet und durch Babrak Karmal ersetzt. Die dschiha­distischen Mudschaheddin, die von den USA und dem Westen unterstützt werden, bekämpfen die sowjetischen Truppen.

1987: Am 30. September wird Mohammed Nadschibullah zum Präsidenten gewählt.

1988: Am 14. April wird ein Abkommen über den Abzug der sowjetischen Truppen unterzeichnet, das am 15. Februar 1989 in Kraft tritt. Der Bürgerkrieg zwischen Regierungstruppen und Mudschaheddin geht weiter.

1992: Am 16. April tritt das Regime ­Na­dschi­bullah ab, am 25. April wird Kabul von den Mudschaheddin kampflos besetzt.

1996: Die inneren Machtkämpfe der islamistischen Kräfte enden mit dem Sieg der Taliban, die am 26 September in Kabul einmarschieren. Es folgt die Gründung des Islamischen Emirats Afghanistan, das auf der strikten Anwendung der Scharia fußt.

2001: (…) Als Reaktion auf 9/11 beginnt am 7. Oktober die Militärintervention der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (Isaf) unter dem Kommando der Nato. Am 5. Dezember unterzeichnen die Teilnehmer der Petersberger Konferenz in Bonn einen 5-Stufen-Plan für Afghanistan. Am 22. Dezember wird der vom Westen protegierte Hamid Karsai zum Interimspräsidenten gewählt.

2004: Am 4. Januar 2004 verabschiedet die Loja Dschirga eine Verfassung für die Islamische Republik Afghanistan, am 9. Oktober wird Karsai zum Präsidenten gewählt.(…)

2014: Am 5. April 2014 wird der ehemalige Weltbank-Ökonom Aschraf Ghani zum Präsidenten gewählt.

2016: Im Februar beginnt in Moskau eine Reihe von Friedenskonferenzen.

2018: Im Juli nehmen die USA direkte Verhandlungen mit den Taliban in Doha (Katar) auf; informelle Kontakte hatte Washington schon seit 2011 geknüpft.

2020: (…)Am 29. Februar wird in Doha das Abkommen zwischen den Taliban und den USA unterzeichnet, das den Abzug der US-Truppen bis Mai 2021 vorsieht.

2021: Am 16. August besiegelt der Einmarsch der Taliban in Kabul das Ende der Regierung Ghani. In der Nacht zum 31. August verlassen die letzten US-Soldaten das Land.


Präsidentenberater Brzesinski: Die Russen in die afghanische Falle locken

Interview des «Le Nouvel Observateur» vom Januar 1998

Le Nouvel Observateur: Der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates erklärt in seinen Memoiren, dass der amerikanische Geheimdienst sechs Monate vor der sowjetischen Intervention begann, die afghanischen Mudschaheddin zu unterstützen. Damals waren Sie der Sicherheitsberater von Präsident Carter. Sie haben also eine Schlüsselrolle in dieser Affäre gespielt? Können Sie dies bestätigen?

Zbigniew Brzeziński: Ja. Nach der offiziellen Version der Geschichte begann die Unterstützung der Mudschaheddin durch die CIA im Jahr 1980, also nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan am 24. Dezember 1979. Die geheime Realität sieht jedoch ganz anders aus: Am 3. Juli 1979 unterzeichnete Präsident Carter die erste Direktive zur geheimen Unterstützung der Gegner des (damaligen) prosowjetischen Regimes in Kabul. Und an diesem Tag schrieb ich dem Präsidenten eine Notiz, in der ich ihm erklärte, dass diese Hilfe meiner Meinung nach zu einer sowjetischen Militärintervention führen würde.

Le Nouvel Observateur: Trotz dieses Risikos haben Sie sich für diese «verdeckte Aktion» ausgesprochen. Aber vielleicht haben Sie den Eintritt der Sowjetunion in den Krieg sogar gewollt und versucht, ihn zu provozieren?

Zbigniew Brzeziński: Das ist nicht ganz richtig. Wir haben die Russen zum Eingreifen nicht gedrängt, aber wir haben bewusst die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie es tun werden. («Ce n’est pas tout à-fait cela. Nous n’avons pas poussé les Russes à intervenir, mais nous avons sciemment augmenté la probabilité qu’ils le fassent.»)

Le Nouvel Observateur: Als die Sowjets ihre Intervention damit begründeten, dass sie gegen die heimliche Einmischung der USA in Afghanistan kämpfen wollten, glaubte ihnen niemand. Dennoch war daran also etwas Wahres. Bereuen Sie heute nichts?

Zbigniew Brzeziński: Was bereuen? Diese Geheimaktion war eine ausgezeichnete Idee. Es hatte den Effekt, die Russen in die afghanische Falle zu locken, und Sie möchten, dass ich das bereue? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich an Präsident Carter: «Wir haben jetzt die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu schenken». In der Tat musste Moskau fast zehn Jahre lang einen unerträglichen Krieg für das Regime führen, einen Konflikt, der zur Demoralisierung und schließlich zum Zerfall des Sowjetimperiums führte.

Le Nouvel Observateur: Sie bedauern nicht, den islamischen Fundamentalismus gefördert zu haben, Waffen und Ratschläge an zukünftige Terroristen gegeben zu haben?

Zbigniew Brzeziński: Was ist wichtiger in der Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Untergang des Sowjetimperiums? Ein paar islamische Extremisten oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?

Quelle: www.infosperber.ch


Ein Afghanistan-Kenner im Interview

Reinhard Erös, Oberstarzt außer Dienst der Bundeswehr, betreibt seit 1988 in den Ostprovinzen Afghanistans die Kinderhilfe Afghanistan. Diese baut u.a. Schulen, Waisenhäuser und Krankenstationen.

Reinhard Erös:
Der einfache Soldat wird überhaupt nicht auf Afghanistan vorbereitet

Deutschlandfunk 23.2.2021

DLF: „In Afghanistan sollen US-Soldaten Exemplare des Korans verbrannt haben.(…) Herr Erös, sind wieder einmal alles die Amerikaner schuld?

Erös: Na ja, wir hatten ja vor einem knappen Jahr einen ähnlichen Vorfall, wo in Florida ein Pfarrer versucht hat oder angedroht hat, den Koran zu verbrennen. Daraufhin gab es auch gewalttätige Auseinandersetzungen in ganz Afghanistan – mit dem schrecklichen Ergebnis, dass UN-Mitarbeiter, ausländische und afghanische UN-Mitarbeiter – ich glaube, fast ein Dutzend – getötet wurden. In diese Richtung läuft das jetzt auch wieder. Jetzt ist es halt in Afghanistan passiert und diesmal durch Soldaten, ob nun unbedachtsam oder unsensibel, wie es die Kollegin aus Kabul berichtet hat, das weiß ich nicht. Ich kriege nur mit – ich arbeite ja dort, mitten im Gebiet der US-Amerikaner. Meine Projekte sind nicht im Norden bei der Bundeswehr, sie sind im Osten des Landes, im Paschtunen-Gebiet, im Heimatland auch der Taliban, das ist das Gebiet, wo US-Truppen hauptsächlich sind. Und dort stelle ich fest, seit Jahren, seit Anfang an eigentlich, dass sich US-Soldaten nicht nur sehr unsensibel, sondern sehr aggressiv gegenüber der afghanischen Kultur – und da ist nun mal der Islam ein Teil davon, ein ganz gewichtiger Teil davon – verhalten. Das hat zum einen damit zu tun, dass der amerikanische einfache Soldat, jetzt nicht ein General Allen, den Sie vorhin zitiert haben, oder ein Petraeus, oder wer auch immer, der einfache Soldat, dass der nun überhaupt nicht auf Afghanistan vorbereitet wird. Der versteht vom Islam nichts, der weiß von Afghanistan nichts, das interessiert den auch nicht groß. Und seine Vorgesetzten haben eine so große Distanz zu ihm, dass sie gar nicht im Stande sind und auch nicht willens sind, ihm diese Kulturkompetenz zu vermitteln. Und dann kommen halt solche Sachen heraus.“

DLF: „Wie können Sie denn Ihre Mitarbeiter vor Ort schützen?

Erös: Ich kann nicht die schützen, die müssen eher mich schützen. Die Afghanen schützen natürlich die Ausländer, nicht die Ausländer die Afghanen. Eines unserer Büros ist in Dschalalabad. Das ist eine Stadt, in der es seit gestern auch Unruhen gibt, Demonstrationen gibt, und zwar nicht vom, ich sage mal, Taliban-Fußvolk nur, nicht von der Straße, wie man so schön sagt, oder von den Unterschichten, sondern von Akademikern. In Dschalalabad haben Tausende Studenten der Universität Dschalalabad, also gebildete junge Leute, gegen die Amerikaner, gegen die Ausländer demonstriert. Man unterscheidet dort natürlich schon, jetzt auf dieser Ebene zumindest, wer der eigentlich Schuldige ist. Zum Beispiel unsere Einrichtungen im Osten Afghanistans wurden gestern und heute bei den Demonstrationen auf den Straßen nicht angegriffen, noch nicht mal belästigt. Es wurden Dutzende Hilfsorganisationsbüros, UNAMA-Büros und so weiter, beworfen, wurden angegriffen. Es fanden richtig aggressive Protestgespräche vor diesen Behörden statt. Also wir selber – und das ist jetzt wiederum wahrscheinlich eine Folge unserer Vorgehensweise –, wir, also die Kinderhilfe Afghanistan, meine Organisation, die wir seit zehn Jahren jetzt dort arbeiten, haben uns von Anfang an von den ausländischen Soldaten – und das sind bei uns wie gesagt nur US-Truppen – distanziert. Verbal distanziert und auch physisch distanziert.“


Taliban wird religiöses Regime laut Afghanistan-Experte errichten

Frankfurter Allgemeine, 17.8.2021

FAZ: „Die Taliban haben angekündigt, sie wollten ein „Islamisches Emirat“ errichten. Wird diese Herrschaft so aussehen wie in den neunziger Jahren, als Millionen Afghanen vor Gewalt und Hunger aus dem Land flohen?“

Erös: „Während der sowjetischen Besatzung von 1979 bis 1989 sind etwa fünf Millionen Afghanen nach Pakistan und Iran geflohen, die Zahl der Flüchtlinge während des Taliban-Regimes von 1996 bis 2001 hielt sich mit einigen zehntausend in Grenzen. Nach Europa flohen in diesen Jahren so gut wie keine Afghanen. Erst mit dem Einmarsch der NATO im Winter 2001 hat sich die Zahl der Flüchtlinge dramatisch vermehrt. Allein nach Deutschland kamen seither etwa 200 000, vor allem junge Männer. Im jetzt wieder entstehenden afghanischen Emirat gilt islamisches Recht, bei uns als Scharia bezeichnet. Dieses Recht hat mehrere hundert Paragrafen, darunter auch die Todesstrafe und die körperliche Verstümmelung. Wie übrigens identisch bei unseren ‚Freunden‘ in Saudi-Arabien, wo nahezu jede Woche nach dem Freitagsgebet ein staatlicher Henker vor den Augen der Gottesdienstbesucher dem ‚Straftäter der Woche‘ mit einem Schwert den Kopf abhackt.“


„Biden erklärte den Krieg für beendet. Aber Kriege gehen weiter.“

New York Times, 22.9.2021

In einem Brief an den Kongress im Juni listete Herr Biden alle Länder auf, in denen amerikanische Truppen gegen verschiedene militante Gruppen operieren – vom Irak und Syrien über den Jemen bis zu den Philippinen und Niger. Mehr als 40.000 amerikanische Soldaten sind im Nahen Osten stationiert, darunter 2.500 Soldaten im Irak, mehr als 18 Jahre nachdem Präsident George W. Bush eine Invasion in diesem Land angeordnet hatte. Ungefähr 900 Soldaten sind in Syrien auf einer Mission, die Präsident Barack Obama im Jahr 2015 begonnen hat, und Herr Biden hat gesagt, er werde das Militär anweisen, künftige Operationen in Afghanistan gegen aufkommende terroristische Bedrohungen durchzuführen, selbst wenn sie von Stützpunkten außerhalb des Landes aus gestartet werden .‘Unsere Truppen kommen nicht nach Hause. Wir müssen ehrlich sein‘, sagte der Abgeordnete Tom Malinowski, Demokrat aus New Jersey, diesen Monat während einer Anhörung vor dem Kongress von Außenminister Antony J. Blinken. ‚Sie ziehen lediglich zu anderen Stützpunkten in derselben Region, um dieselben Anti-Terror-Missionen durchzuführen, auch in Afghanistan.‘


aus Arbeiterpolitik Nr. 5/6 2021

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