Der Berliner Volksentscheid
Erfolgsgeschichte oder Begräbnis dritter Klasse?

Mieter*innen-Demo in Berlin am 29. September 2021
Foto: Umbruch Bildarchiv

Über eine Million, satte 57,6 %, der Berliner Wahlberechtigten haben am 26. September 2021 trotz heftigen medialen Gegenwinds für die Enteignung großer privater Immobilienkonzerne gestimmt. Die Menschen dieser Stadt, die zu 80% Mieter*innen sind, drücken mit diesem Votum aus, dass die Macht der Immobilienhaie gebrochen werden soll, die den Haushalten 30 % und mehr ihrer Einkommen abverlangen, den Mieter*innen den Nerv rauben mit Umwandlungen in Eigentumswohnungen und Eigenbedarfskündigungen und die Mieten mit Luxussanierungen in immer neue Höhen treiben. Obwohl es unter denjenigen, die mit „Ja“ gestimmt haben, auch Träumer geben wird, hat wohl kaum jemand geglaubt, dass es mit der Enteignung nun zügig losgehen wird. Den meisten ging es bei ihrem „Ja“ wohl eher darum, ihren Vermietern, ob große Gesellschaft oder kleiner Hausbesitzer, vors Schienbein zu treten in der Hoffnung, dass der seit zehn Jahren herrschende Mietenwahnsinn beendet werden kann.

Dieser Wunsch steht über den sonstigen Parteipräferenzen der WählerInnen. Alle Parteien, die vor der Wahl gegen den Volksentscheid agitierten, SPD, CDU, FDP und AfD, haben zusammen weniger Stimmen bekommen als die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Selbst vielen AfD-WählerInnen ist anscheinend manchmal das Hemd doch näher als die Hose, haben sie doch laut rbb-Fernsehen am Wahlabend zu 60 % für Enteignen gestimmt.

Juristische Auseinandersetzungen werden folgen

Aber „Enteignung“ ist eigentlich ein ungenauer Begriff für das, was gemeint ist: Vergesellschaftung oder Sozialisierung. Enteignungen nach Art. 14 des Grundgesetzes (GG) (“Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“) oder Art. 23 der Berliner Verfassung finden z. B. beim Bau von Schulen, Autobahnen usw. nicht selten statt. Eine Möglichkeit zur Vergesellschaftung wie in Art. 15 GG („Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung … in Gemeineigentum … überführt werden.“) findet sich nicht in der Berliner Verfassung, weder in der alten Westberliner von 1950 noch in der von 1995. Sie belassen es bei der Enteignung. Dieser Umstand liefert den Befürwortern eines „Nein“ zum Volksentscheid ein sehr billiges Argument: steht nicht in der Verfassung, kommt also nicht infrage. Das wäre die Umkehrung des Arguments, mit dem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Berliner Mietendeckel gekippt hatte: Mietendeckel gibt’s im Bund nicht, kommt also in einem Bundesland nicht infrage – Bundesrecht bricht Landesrecht. Wenn man die Macht hat, dreht man es so, wie man es gerade braucht. Ob es den Vergesellschaftsgegnern so leicht gemacht wird, falls die Frage zum BVerfG kommt, bleibt abzuwarten.

Über Sozialisierung wird wieder diskutiert…

Der Art. 15 GG ist im Laufe der Geschichte der BRD nie angewandt worden. Er scheint aus der Zeit gefallen. Ende der 40´er Jahre war er ein Zugeständnis an den kapitalismuskritischen Zeitgeist nach Faschismus und Weltkrieg und sollte den Menschen eine gewisse Offenheit des wirtschaftlichen Systems suggerieren. Gegen Ende der 50´er Jahre hatte sich die Debatte um Sozialisierungen erledigt. Die KPD war ab 1956 verboten und die SPD hatte sich innerlich längst vom Sozialisierungsgedanken verabschiedet, bevor sie es auch 1959 im Godesberger Programm tat.

Zwei Generationen lang fristete das Thema ein Nischendasein. So gesehen kommt der Initiative das Verdienst zu, dass über die Sozialisierung wieder diskutiert wird. In den Debatten darum könnte den Menschen auffallen, dass der Widerspruch zwischen Mieter*innen und Vermieter*innen Teil des Klassenwiderspruchs ist, der sich nun mal nicht mit Worten und Verweis auf Gesetze lösen lässt.

…während die Immobilienkonzerne vor die Gerichte ziehen

Dass die Berufung auf Recht und Gesetz nicht ausreicht, wird offenbar angesichts der Offensivkraft, mit der die Immobilienkonzerne gerade auch vor den Gerichten ihre Interessen durchsetzen konnten. Real ist bisher nur: Der Schutz des Eigentums ist gewährleistet, wer (Wohn-)Eigentum hat, kann fast alles damit machen. Die „Politik“ hat alle Hände voll zu tun, die Betroffenen zu beruhigen, allerdings erfolglos:

  • Das Vergleichsmietensystem (ein automatischer Mietentreiber),
  • die Mietpreisbremse (durch immer neue Tricks unwirksam),
  • der Mietendeckel (unterlaufen und dann gekippt),
  • ein bundesweiter Mietendeckel (nicht mit Scholz zu machen),
  • Abwendungserklärungen zur Mietbegrenzung in Milieuschutzgebieten (für unwirksam erklärt).

Die staatlichen Maßnahmen konnten die Immobilienbranche nicht stoppen. Die Frage ist auch: Wollen die Senatsparteien überhaupt dem Treiben Einhalt gebieten? Die Berliner Koalition steht ja in der Pflicht, auf das Votum der Wählerschaft mit einem Gesetzesentwurf zu reagieren. Aber sie will nicht, zumindest nicht die SPD und die hat das Sagen. Die Grünen wollen nur notfalls, allein die Linke will, aber die ist nach der Wahl geschwächt und kann nicht. Also wird das Problem ausgesessen. Erstmal einen Arbeitskreis bilden (Motto: Wer nicht mehr weiter weiß…). Dieser hat ein Jahr Zeit ein Ergebnis vorzulegen, das „gegebenenfalls“ (Koalitionsvertrag) die Vergesellschaftung empfiehlt, die dann vom Senat berücksichtigt werden kann bei der Abfassung eines Gesetzes.

Darauf sollten die Berliner Mieter*innen nicht warten. Wie weit die Hausbesitzer*innen gehen können, wird von ihnen mitbestimmt. Durch ihre Aktionen auf der Straße und ihre Zusammenschlüsse in den Häusern können sie Druck erzeugen – auf Immobilienkonzerne und Hausbesitzer*innen, auf Parlamente und Gerichte. Das Kreuz an der richtigen Stelle war gut, aber sollte erst der Anfang sein.

C.E., 12.01.22


aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2022

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*