Vorläufige Thesen zum Ukraine-Krieg

Foto: Ingo Müller
  1. Der russische Angriff auf die Ukraine am 24.2. hat auch die meisten von uns überrascht. Wir waren davon ausgegangen, dass durch einen solchen Angriff Russland nichts gewinnen könne: Es würde in einen nicht gewinnbaren Krieg verwickelt. Die ohnehin schwache Wirtschaft würde durch einen solchen Krieg weiter geschwächt. Der Westen würde die Ukraine bedingungslos unterstützen.
  2. Diese Einschätzung hat sich jetzt nach dem Angriff nicht geändert. Der russische Einmarsch kann sich als Bumerang erweisen und sich gegen Russland selbst wenden. Die politische Ausrichtung eines Landes lässt sich nicht durch eine militärische Intervention von außen ändern.
  3. Die Ukraine war bisher ein ethnisch und politisch tief gespaltenes Land. Eine militärische Aggression von außen wird die Kräfte fördern, die aus der Ukraine ein nationalistisches, antirussisches Bollwerk machen wollen.
  4. Alle Versuche Russlands, zwischen die EU und die USA einen Keil zu treiben, sind gescheitert. Die EU hat sich bedingungslos der Strategie der USA unterworfen, die Ukraine ins westliche Lager zu ziehen und sie damit als eurasische Großmacht auszuschalten, wie es der ehemalige US-Präsidentschaftsberater 1997 Brzeziński formulierte.
  5. Die USA hat einen Krieg gewonnen, ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Der europäische Kontinent bleibt gespalten. Eine Zusammenarbeit zwischen EU und Russland, die die USA so fürchten, ist auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen. Die NATO ist unter der Führung der USA geschlossener denn je seit dem Ende der Blockkonfrontation.
  6. In der hiesigen Propaganda wird behauptet, der Angriff auf die Ukraine sei ein beispielloser Bruch des Völkerrechts und total unprovoziert. Natürlich ist der russische Bruch des Völkerrechts nicht beispiellos. Die Angriffskriege gegen Jugoslawien und Irak zum Beispiel waren Völkerrechtsbrüche. Und provoziert wurde der Angriff durch die kontinuierliche Ausdehnung der NATO bis an die russischen Grenzen seit 1997.
  7. Der Beschluss der NATO 1997, die osteuropäischen Länder in die NATO aufzunehmen, war im Grunde eine faktische Kriegserklärung an Russland, das sich bemüht hatte, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem Westen eine friedliche Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen. George F. Kennan, der Autor der „Eindämmungsstrategie“ gegen die Sowjetunion 1947, erkannte das in einem Artikel in der „New York Times“ am 5.2.1997: Meine „Meinung, unverblümt ausgedrückt, ist, dass die Erweiterung der NATO der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg wäre. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizen wird; negative Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben wird; die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben wird, die uns entschieden nicht gefallen.“ Das, was jetzt passiert, ist die Antwort auf die damalige Kriegserklärung.
  8. Der russische Truppenaufmarsch in den Monaten vor am Angriff auf die Ukraine sah zwar stark aus, war aber bereits ein Zeichen der Schwäche. Wirtschaftlich schwach, innenpolitisch mit schwindender Zustimmung, die sich in immer heftiger Repression äußerte, sollte offensichtlich eine Art Befreiungsschlag versucht werden. Der Westen sollte darauf verzichten, sich weiter auszudehnen, ja, er sollte sogar Expansionsschritte zurücknehmen. Das militärische Wettrüsten mit dem Westen ist für die russische Wirtschaft ja eine viel größere Belastung als für die westliche. Die Last der Großmachtrolle wurde offensichtlich untragbar.
  9. Als der Westen aber keinerlei Anstalten machte, zurückzuziehen, im Gegenteil an der Sanktionsschraube drehte, tappte Russland in die vom Westen aufgestellte Falle. Die USA konnten es ja nach ihren Verlautbarungen kaum erwarten, dass Russland einmarschiert. Anders sind die wiederholten Ankündigungen eines russischen Einmarsches von Präsident Biden nicht zu interpretieren.
  10. Die meisten direkten Opfer wird die Ukraine zu tragen haben. Sie kämpft für ihre Existenz und Unabhängigkeit als Nationalstaat. Indem sie dem russischen Angriff Widerstand leistet, führt sie somit für den Westen einen Stellvertreterkrieg. Aber die russische Armee wird auch einen hohen Blutzoll tragen und die russische Bevölkerung wird aufgrund der Kriegslasten noch weiter verarmen.
  11. Aber auch die westeuropäische Bevölkerung wird die Auswirkungen des Krieges zu spüren bekommen. In Deutschland hat Scholz jetzt ein 100 Milliarden-Aufrüstungsprogramm angekündigt. Dies wird die Schuldenlast der Regierung weiter steigern, die u.a. durch die Corona-Maßnahmen schon enorm aufgebläht ist. Das wird zu Streichungen an anderer Stelle führen müssen und insbesondere zur weiteren Verarmung des unteren Drittels der deutschen Bevölkerung führen.
  12. Mit der Ankündigung, sich mit Flüssiggas vom russischen Erdgas unabhängig machen zu wollen, können die Klimaziele der Ampelkoalition getrost zu den Akten gelegt werden. Flüssiggas hat eine CO2-Bilanz vergleichbar mit Steinkohle.
  13. Die EU und Deutschland hatten sich jetzt in die US-Politik gegen Russland ein- und untergeordnet. Eine eigenständige Rolle spielte sie nicht. EU-Politik wird Kriegspolitik, wenn die Kommissionspräsidentin von der Leyen die Aufnahme der Ukraine in die EU ankündigt.
  14. Innenpolitisch haben sich, bis auf Teile der Linken und der AfD, alle Parteien der Anti-Russland-Kriegspolitik angeschlossen und unterworfen. Sie sind bereit das Risiko einer unkontrollierbaren Ausweitung des Krieges einzugehen. Die russische Regierung hat ihre Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Ist es auszuschließen, dass einem ersten Verzweiflungsschritt – dem Angriff auf die Ukraine- ein weiterer folgt? Ein Atomwaffeneinsatz?
  15. Diesen Kriegskurs müssen wir klar benennen; dazu gehört, dass wir uns keinem der beiden Lager anschließen. Wir unterstützen alle Bemühungen, die eine friedliche Lösung anstreben.

(2.3.2022)


aus Arbeiterpolitik Nr. 3 / 2022

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