Versucht man, eine Geschichte der Ukraine zu erzählen, so wird einem sogleich bewusst, dass es die Ukraine – etwa im Sinne traditioneller westeuropäischer Nationalstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Portugal, Spanien – frühestens von 1917 bis 1922, dann wieder seit 1991 gibt. Was also ist die kollektive Identität der Ukraine, worauf stützen sich die politischen Kräfte und zumindest Teile der Bevölkerung, die diese von ihr so empfundene Nation verteidigen? Im Folgenden wird versucht, über die allgemeingültige Erkenntnis hinaus, dass der bürgerliche Nationalstaat ein Klassenstaat unterschiedlichster und gegensätzlicher Interessen ist, einen verständlichen Abriss der konkreten Geschichte der Ukraine zu geben. In diesem Falle heißt das vor allem eine Geschichte der ukrainischen Landesteile, ihres Zusammenwachsens und ihrer Konflikte nachzuzeichnen. Es geht darum, die Begründungen zu verstehen und zu relativieren, die die verschiedenen Seiten der gegenwärtigen Spannungen in der und um die Ukraine ins Feld führen, um ihre jeweiligen Positionen zu verstärken, zu verallgemeinern und durchzusetzen. In erster Linie sind das als Akteure die Staatsführungen der Russischen Föderation und der Ukraine, ihre jeweiligen Hilfstruppen im Land und ihre Verbündeten im „Westen“, dann aber auch die Bevölkerungen der betroffenen Staaten und Grenzgebiete.
Die ukrainischen Länder
Ein chronologischer Abriss der komplexen Geschichte der ukrainischen Länder kann im Rahmen eines Artikels nicht sinnvoll gegeben werden. Deshalb wird hier versucht, Grundzüge und entscheidende Kristallisationspunkte der Entwicklung in den Regionen darzustellen.
Folgende historische Gebiete, die bis heute ihre eigenen Traditionen haben, sind unterscheidbar. Bei den Angaben zur Sprachzugehörigkeit ist zu beachten, dass die Menschen oft schon von der Schulbildung her zwangsläufig zweisprachig sind und Russisch für viele Menschen als Verkehrssprache gilt, die Ukrainisch oder eine andere Muttersprache haben, die Zahlen also nicht wirklich aussagefähig sind (vgl. Kasten).
- Westen: Dazu zählen vor allem Lemberg, Czernowitz, Wolhynien, östliches Galizien. Es sind Gebiete, die lange zum Königreich Polen und Litauen, zwischenzeitlich (1772 bis 1918) zur Habsburgermonarchie, dann zur Republik Polen (zwischen den Weltkriegen) gehörten, in ökonomischer Hinsicht landwirtschaftlich und kleingewerblich, ethnisch mit etwa 90 % ukrainischsprachiger Bevölkerung am stärksten „ukrainisch“ geprägt sein sollen. In diesem Gebiet, das erst im Verlauf des Zweiten Weltkriegs endgültig zur Sowjetrepublik Ukraine kam (Oktober 1944 mit der Eroberung der Westukraine durch die Rote Armee, jetzt erst wurden die Landwirtschaft kollektiviert, die Industrie und das Schulwesen nach sowjetischen Vorbild aufgebaut), war der Widerstand gegen die Sowjetunion besonders heftig und dauerte bis 1947 bzw. 1954.
- Zentrum: Das ist vor allem Kiew und Umgebung bis etwa Poltawa und Krementschuk mit rund 82 % ukrainisch- und 17 % russischsprachiger Bevölkerung. Auch diese „Zentralukraine“ gehörte bis weit ins 17. Jahrhundert zum Königreich Polen-Litauen, schloss sich dann durch einen Kosakenaufstand dem russischen Zarenreich an.
- Osten: Zum Osten gehören Charkiw (russisch: Charkow), Dnipro (Dnjepropetrowsk), Zaporizzija (Saporoschje). Die Bevölkerung dieser Region soll ausgeglichen mit leichtem Überhang einer russischsprachigen Mehrheit sein. Sie gehörte ab dem 16. Jahrhundert fast durchgängig dem Zarenreich an, war in den Bürgerkriegen 1917 bis 1919 bzw. 1921 heftig umkämpft.
- Donezbecken: Diese Region zählt eigentlich zum Osten. Aufgrund der politischen und militärischen Situation („Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk) muss man ihr aber eine Sonderrolle zugestehen. Das Gebiet war schon zur Zarenzeit stark industrialisiert, daher mit einer vergleichsweise starken Arbeiterklasse neben Petrograd und Moskau eine zentrale Stütze der Oktoberrevolution. Später in der Sowjetunion war die Schwerindustrie auf die Bedürfnisse der sowjetischen Planwirtschaft ausgerichtet, was für die nachsowjetische Zeit eine Fortsetzung dieser Orientierung auf die russische Wirtschaft bedeutet. Im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft war die Wettbewerbsfähigkeit freilich nicht gegeben. Dies erklärt zu einem wesentlichen Teil die Abhängigkeit von und Bündnistreue zu Putins Russland. Inzwischen sollen hunderttausende BewohnerInnen der „Volksrepubliken“ als zweite Staatsbürgerschaft die russische bekommen haben.
- Süden: Dieses Gebiet hieß im Zarenreich „Neurussland“ (seit dem 18. Jahrhundert erobert und erschlossen). Hierzu gehören v. a. Odessa und Cherson. Die Ukrainisch sprechenden sollen eine leichte Mehrheit haben.
Der Sonderfall Krim
Die Krim soll hier nicht als Bestandteil der Ukraine gezählt werden. Russland (genauer gesagt: das Putin-Regime) hat die Halbinsel bekanntlich annektiert, was völkerrechtlich nicht anerkannt ist. Die Krim hat jedoch eine besondere Geschichte. Sie wird zu zwei Dritteln von russischsprachigen Menschen, im übrigen von einer Vielzahl kleinerer Gruppen bewohnt, von denen die sogenannten Krimtataren etwa zwölf Prozent ausmachen. Historisch haben auf der Halbinsel Krim sehr häufig die Bevölkerungsstruktur und die Herrschaft gewechselt: Griechen, Goten, Venezianer u. v. a. gaben sich hier die Klinke in die Hand, schließlich die Mongolen der Goldenen Horde. Darauf folgte im 15. Jahrhundert ein selbständiges Khanat der Krimtataren, das schließlich die Oberhoheit des Osmanischen Reiches anerkennen musste. 1774, nach einem der vielen türkisch-russischen Kriege, musste der Sultan die Krim an das zaristische Russland abtreten. Zu diesem Land gehörte sie auch nach der Oktoberrevolution innerhalb der Sowjetunion, bis 1954 Chruschtschow, langjähriger Erster Sekretär der Ukraine, nun Generalsekretär mit einem Federstrich die Krim zum Bestandteil der Ukraine erklärte. Diesen Zustand revidierte 2014 Russland mit seiner gewaltsamen Annexion, verbrämt mit einer umstrittenen Volksabstimmung, nicht zuletzt, um die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte zu sichern.
Es kann hier nicht entschieden werde, welcher der beiden Staaten die besseren Argumente für die Zugehörigkeit der Halbinsel besitzt. Es bleibt nur festzustellen: Weder 1954 bei der Eingliederung in die Ukraine noch 2014 bei der Rückgliederung in Russland spielte die Meinung der Bevölkerung eine maßgebliche Rolle. Es war in beiden Fällen eine von oben verordnete Machtfrage. Nur eine garantiert repressionsfreie Abstimmung könnte das Dilemma klären.
Der Ursprungsmythos: die Kiewer Rus
Nach dieser territorialen Aufgliederung wenden wir uns einigen zentralen Entwicklungsstufen zu. Sie haben heute ihre Bedeutung als Orientierungspunkte für den russischen Nationalismus und das daran anknüpfende Staatsverständnis, mit dem die postsowjetische Gesellschaft für die geopolitische Auseinandersetzung aufgestellt wird. Erschien es lange sowohl im Westen als auch in der Sowjetunion selbst als quasi naturgegeben, dass die Ukraine als Teil eines größeren Ganzen, als „Brudervolk“ zum „Mütterchen Russland“ gehöre, so hat sich seit dem Zerfall der UdSSR in ihre Teilrepubliken und der konfliktreichen Entwicklung danach ein Bild ergeben, das einerseits mehr Klarheit über bisher wenig beachtete Widersprüche erbrachte, andererseits auch zu wirklich neuen Sichtweisen führte. So sieht sich eine Mehrheit in der Ukraine inzwischen als eigenständige Nation von Beginn ihrer Geschichte an, während in Russland die Tradition der Zusammengehörigkeit aus einer angeblich „gesamtrussischen“ Geschichte noch zu pflegen versucht wird. Als Ur-Mythos gilt hierbei die sogenannte Kiewer Rus.
Hierbei handelt es sich um ein Reich, das mit den beiden Zentren Kiew und Nowgorod von 882 bis 1054 große Teile der heutigen Staaten Ukraine, Belarus und westliches Russland umfasst hatte. An der Spitze stand ein Großfürst aus der Dynastie der Rjurikiden, eine Würde, an der auch in der nachfolgenden Zeit der Teilfürstentümer und unter der Oberherrschaft der Mongolen (von ca. 1223 bis 1480) festgehalten wurde und die in das Moskauer Zarentum überging. Doch das alles liegt, trotz schriftlicher Quellen wie der „Nestor-Chronik“, weitgehend im Dunkel nationalistischer Mythenbildung. Darin taten sich besonders im 19. Jahrhundert die Propagandisten des Panslawismus hervor, also der Zusammengehörigkeit aller slawischsprachigen Völker unter dem Schutz und der Vorherrschaft des großen Russland. Schon in zaristischer Zeit gab es aber auch ukrainische Historiker und Intellektuelle, die diesen „großrussischen“ Anspruch zugunsten einer immer schon eigenständigen ukrainischen Nationalität bestritten. Auch die Herleitung des Begriffs „Rus“ war und ist unter Sprachwissenschaftlern umstritten. Die Staatsbildung wird mit der Intervention von Adelsgruppen und Kaufleuten aus Schweden (Waräger) in Verbindung gesehen. Auch das Byzantinische Reich hat mit seiner christlich-orthodoxen Missionierung und mit gegenseitigen Handelsbeziehungen intensiv Einfluss genommen.
In unserer Zeit hinterließ der Zerfall der Sowjetunion zunächst im Bereich der den Staat legitimierenden Ideologie eine Leere, weil die Orientierung auf den Aufbau des Sozialismus als bindende Kraft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt weggefallen war. Der Rückgriff auf den Mythos des Nationalismus bis zurück zur Kiewer Rus lag nahe. Gleichzeitig enthielt er in der beschriebenen Weise zusätzlichen Sprengstoff für Konflikte, die ggf. gewaltsam auszutragen sind. Die russische Führung unter Putin ist bemüht, den großrussischen Anspruch wiederherzustellen. Sie will sich als reaktionäre, dem Westen sozioökonomisch unterlegene imperialistische Großmacht mit einer (seinerzeit schon von Obama zugewiesenen) Rolle als „Regionalmacht“ nicht abspeisen lassen. Sie versucht, durch Berufung auf Einflusssphären der Sowjetzeit die NATO und ihre Vormacht USA zurückzudrängen. Die ukrainische Führung und die hinter ihr stehenden Teile der Bevölkerung wollen sich dagegen auf keinen Fall mehr als kleinen Bruder der „Großrussen“ behandeln lassen.
Dahinter stehen natürlich Probleme der heutigen Zeit. Der Niedergang der Russischen Föderation als Nationalökonomie ist unübersehbar. Sie wird dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach nicht einmal mehr unter den Top 10 der großen Wirtschaftsnationen gelistet. Von einigen Sektoren als „Leuchttürme“ (wie Rüstungsindustrie oder Raumfahrt) abgesehen, ist die russische Industrie kaum weltmarktfähig, die Exportwirtschaft auf Erdöl und Gas fokussiert, also fossile Brennstoffe, die im Zeichen des Klimawandels Auslaufmodelle sind. Der Rückgriff auf nationale Identifikationsmuster kann diese Probleme nicht lösen.
Teilfürstentümer, Mongolenherrschaft, Zarenreich
Die Kiewer Rus zerfiel ab 1054 in Teilfürstentümer, ein Schicksal, dass dieses Reich mit anderen Feudalgebilden ähnlicher Größenordnung verband, etwa Polen-Litauen und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die Mongolen, die ab den 1220er Jahren in Osteuropa auftauchten, zerschlugen also kein blühendes Reich, sondern ein Herrschaftsgebilde, das seinen Höhepunkt schon überschritten hatte. Sie drückten ihm ihren Stempel auf. In erster Linie hieß das, ihre Groß- und Teilfürsten sowie den Bojarenadel von sich abhängig zu machen, Tribute aus ihren Ländern abzuschöpfen und sie von ihren früheren Verbindungen vor allem zu Byzanz, aber auch Italien, Polen und Deutschland abzutrennen. Dies bedeutete ein gewisses Zurückbleiben in der sozioökonomischen Entwicklung hinter dem europäischen Westen, der mit dem 16. Jahrhundert allmählich den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus einschlug. Dennoch dürfte die Mongolenherrschaft nicht so drückend gewesen sein, wie sie traditionell in Geschichtswerken dargestellt wird. So habe in den unterworfenen Gebieten religiöse Toleranz geherrscht (anders als zeitgleich im christlichen Europa), die Agrarwirtschaft, das Gewerbe und die Kultur der Mongolen der Goldenen Horde habe sich auf hohem Niveau befunden und es könne keine Rede sein von einer „speziellen Grausamkeit asiatischer Völker“. Wir sollten heutzutage immer bereit sein, solche interessengeleiteten und hier eindeutig rassistisch inspirierten Einordnungen und Klischees zu hinterfragen.
In den nächsten Jahrhunderten machten die ukrainischen Länder (also die Regionen, die heute die Ukraine bilden) sehr verschiedene Entwicklungen durch in den Herrschaftsgebieten, die in der obigen Gliederung aufgeführt sind. Im einzelnen kann hier nicht darauf eingegangen werden. Dabei blieben sie abgeschnitten vom Übergang zum Frühkapitalismus, vielmehr trat gerade jetzt eine Phase ein, die von marxistischen Historikern als „zweite Leibeigenschaft“ bezeichnet wird, der feudalen Ausbeutungsform also, von der sich der Westen Europas bereits in weiten Teilen zu verabschieden begann. Ein ökonomisch und politisch starkes Bürgertum wie in Westeuropa (Niederlande, England, Frankreich) konnte sich auf dieser Basis nicht entwickeln, eine industrielle Arbeiterklasse ebenso wenig.
Eine Ausnahme bildete hiervon das Donezbecken (ukrainisch: Donbass, russisch: Donbas), das sich über Gebietsteile der heutigen Ukraine und der Russischen Föderation erstreckt und aufgrund seiner Kohlevorkommen für die Industrialisierung der Region und des Zarenreiches eine ähnliche Rolle spielt wie das Ruhrgebiet in der deutschen Geschichte. Seit 1770 wurde die Kohle gefördert. 1861 wurde in ganz Russland die Leibeigenschaft aufgehoben. Für die soziale Lage der ukrainischen Bauern änderte sich dadurch zwar nicht viel, aber es wurden Arbeitskräfte für andere Zwecke frei. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlebte der Donbass eine stürmische Industrialisierung. In der Folge wanderten auch viele russische Arbeiter ein.
Revolution und Bürgerkrieg
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstand auch in der Ukraine eine eigenständige bürgerliche Nationalbewegung. Bekanntlich hat dies etwas mit dem Aufstieg des Kapitalismus zu tun, der sich mit dem Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts endgültig in Europa als ökonomisch herrschende Formation durchsetzte. Doch zunächst war der Zarismus (trotz seiner außenpolitischen Niederlagen seit dem Krimkrieg von 1855) noch übermächtig.
Die erste Phase der Staatsbildung in der Ukraine vollzog sich dann im unmittelbaren Zusammenhang mit der russischen Februar-, dann Oktoberrevolution und bildete zwischen 1917 und 1922 ein chaotisches, wechselvolles, blutiges Drama. Gegen die deutsche und österreichische Besatzung bildeten sich zwei bürgerliche Nationalstaaten, die die bolschewistische Revolution und damit Aufteilung des Großgrundbesitzes ablehnten (dieser Konflikt fand seinen literarischen Niederschlag in Michael Scholochows „Der stille Don“). Der westliche Teilstaat wurde im polnischen-russischen Krieg 1919 vom polnischen Pilsudski-Regime annektiert und blieb bis zur erneuten Teilung Polens im Zweiten Weltkrieg dabei. Die vom Anarchismus herkommende Machno-Bewegung wurde im Süden aktiv und versuchte ihre Vorstellungen herrschaftsfreier Vergesellschaftung unmittelbar umzusetzen (die Härte dieser Kämpfe findet sich dargestellt in Volin, „Die unbekannte Revolution“ aus anarchistischer Sicht). Im östlichen Gebiet, ausgehend von Charkiw, griffen die Bolschewiki unter Führung Trotzkis ein. Die bürgerliche Republik wurde teils unterstützt, teils übernommen von reaktionären „weißen“ zaristischen Generalen (Denikin) und kosakischen Hetmans (Skoropadski). Anarchisten und Bolschewiki gingen zunächst gegen die „Weißen“ gemeinsam vor, am Ende setzte sich die Rote Armee auch gegen die Machno-Bewegung durch, und die Ukraine (vorerst noch ohne die Westukraine) entstand als Sowjetrepublik innerhalb der 1922 gegründeten Sowjetunion.
Sowjetukraine
Es liegt auf der Hand, dass heutige politische Traumata in der Ukraine viel zu tun haben mit der harten Zeit des Aufbaus der sozialistischen Vergesellschaftung vor dem Zweiten Weltkrieg, die geprägt ist von der Stalin-Zeit. Für die allgemeine Darstellung dieser Entwicklungen und Konflikte in der gesamten Sowjetunion wird hier auf unsere Broschüre „Weiße Flecken“ verwiesen. Die Bedeutung der Ukraine lag damals in ihrer Landwirtschaft (sie war immer noch die „Kornkammer“), im Bau neuer Kraftwerke am Dnjepr und im Donbass als einem der wenigen industriellen Kerne. Unterschiedliche soziale Positionen bedingen freilich ebenso differente politische Deutungen. Das gilt sowohl für die damalige Zeit wie auch die heutige. Für die einen war die Stalin-Zeit eine Phase des Aufbaus von gesellschaftlichem Reichtum wie auch von Wehrhaftigkeit gegenüber den Angriffen von außen bis hin zur Zerschlagung der faschistischen Herrschaft im Zweiten Weltkrieg, für die anderen bedeutete sie Terror durch die Kollektivierung unter staatlichem Zwang bis hin zu angeblichem Verhungernlassen (Holodomor als Anklang an das Wort Holocaust) im Jahr der Dürre in der Ukraine 1932.
Es liegt nicht im Rahmen dieses Artikels, die gegensätzlichen Positionen darzustellen und eine ins Einzelne gehende wissenschaftliche Beweisführung für unsere Meinung darzulegen, dass die Behauptung eines gezielten Verhungernlassens absurd ist. Sie lässt die Zwangslage, in der sich die Sowjetunion angesichts der durch die faschistische Gefahr in Europa wachsenden äußeren Bedrohung sowie der immer noch auf Klasseninteressen bestehenden inneren Widerstände gegen den sozialistischen Aufbau außer acht. Die Aufrechnung von „Holodomor“ gegen „Holocaust“ kommt den Vertreter:innen der sogenannten Totalitarismus-Theorie zupaß, deren Kernaussage in der Gleichsetzung von sozialistischer Parteidiktatur und faschistischem Terror besteht. Diese Argumentation durchzieht in den bürgerlichen Medien immer noch die Berichterstattung und Kommentierung der aktuellen „West-Ost“-Konflikte, sei es mit Russland, sei es mit China, obwohl es nicht mehr um die Gegensätzlichkeit von Gesellschaftssystemen geht, sondern um Konkurrenz von Staaten in ihren Einflusssphären. Das wird sich auch nicht ändern.
Dass diese Hungersnot jedoch mitnichten von oben geplant war, um den daraus resultierenden Widerstand zu brechen, auch nicht quasi billigend in Kauf genommen wurde, lässt sich durchaus belegen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass 1932/33 keineswegs allein die Ukraine, sondern weite Teile der Sowjetunion von dieser enormen Hungersnot betroffen waren. Betroffen waren etwa auch der Nordkaukasus und die Wolgaregion. In der gesamten UdSSR starben damals zwischen fünf und sieben Millionen Menschen unmittelbar an Hunger. In Relation zur jeweiligen Bevölkerung war dabei die Ukraine nicht einmal am schlimmsten betroffen. Zwar gab es hier die meisten Opfer, zwischen drei und vier Millionen Hungertote, also mindestens die Hälfte von allen Toten. Aber in Bezug auf 33 Millionen Einwohner waren es doch nur rund 10 %. In Kasachstan hingegen starben zwar eventuell nur 1,4 Millionen, aber in Relation zu 6,3 Millionen Einwohner:innen. Das sind etwa 22 % der dortigen Bevölkerung.
Allein jedoch weil Hungerunruhen in diesem Großraum mehr als einmal Regierungen in Bedrängnis gebracht hatten, ist es unwahrscheinlich, dass die KP-Führung bewusst solch ein Risiko eingegangen sein sollte. Letztlich wurde die Entwicklung dermaßen dramatisch, dass die Regierung sich sogar genötigt sah, eigene Getreidereserven auflösen, teilweise zu Lasten der städtischen Bevölkerung. Selbst die Lebensmittelreserven der Roten Armee wurden stark abgeschmolzen.
Primär war diese Entwicklung darauf zurückzuführen, dass die Sowjetunion in jenen Jahren erneut von einer dort sporadisch auftretenden Dürren betroffen war, so wie es sie bereits 1921, 1924 und 1928 gegeben hatte und dieses Mal besonders schlimm ausfiel. Die dramatischen Wetterbedingungen förderten dann auch noch Getreidekrankheiten, die zu zusätzlichen Verlusten führten. Ohne Frage kamen auch die Konsequenzen der gesellschaftlichen Umbruchsituation hinzu, die aber für die Hungerkatastrophe keineswegs der zentrale Faktor gewesen war.
All das kann jedoch diejenigen nicht überzeugen, die aus ihrer grundsätzlichen Position heraus entschlossen sind, den angeblichen „Holodomor“ zu nutzen. Sie haben ihre wie auch immer hergeleiteten und begründeten Positionen und Zusammenhänge, seien es Klassenfragen, seien es nationale Motive.
Nationalistische und faschistische Bewegungen
Im Zweiten Weltkrieg wurden die ukrainischen Länder, besonders der polnische Westteil, zum Tummelplatz nationalistischer und faschistischer Verbände, die zum Teil schon vorher bestanden, wie die 1929 in Wien gegründete Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN), zum Teil auch unter deutschem Kommando geründet wurden, wie die Bataillone „Nachtigall“, „Roland“ und „Galizien“. Schon in ihrem Gründungsjahr kämpfte die OUN aktiv gegen den polnischen Staat. Mit dessen Zerschlagung begrüßte sie die deutsche Wehrmacht als „Befreier“. 1940 spaltete sie sich in zwei Flügel, die sich heftig bekämpften. Die Fraktion unter Stepan Bandera baute die „Ukrainische Aufstandsarmee“ auf, welche nach verschiedenen Schätzungen 30000 bis 200000 Mann umfassten. Sie kämpften sowohl gegen die Sowjets als auch gegen die Wehrmacht. Auf die OUN und ihre Kampftruppe beziehen sich bis heute ukrainische Nationalisten und Faschisten.
Der Grundirrtum bestand nun freilich darin, dass die deutschen Faschisten, ihre Wehrmacht und ihre Waffen-SS keineswegs Befreier waren, sondern Besatzer, die ihre örtlichen Hilfstruppen, wenn überhaupt, dann unter Kontrolle hielten und am liebsten nach „arischen“ Kriterien aussuchten. Sie beherrschten die Region als „Reichskommissariat Ukraine“. Sie plünderten sie aus, und zu den schlimmsten Verbrechen der Besatzung gehört der Massenmord von Babyn Jar an der jüdischen Bevölkerung 1941, dem noch viele weitere folgten. Als eine Fraktion der OUN die Unabhängigkeit der Ukraine ausrief, schoben die Deutschen sogleich einen Riegel davor. Sie zeigten ihre Verachtung für „slawische Untermenschen“ in aller Deutlichkeit. Deshalb waren schließlich auch ukrainische Faschisten erleichtert, dass die Deutschen wieder vertrieben wurden, freuten sich aber keineswegs auf die Rückkehr (Ostukraine) bzw. den Einmarsch (Westukraine) der Roten Armee.
Die Kämpfe gegen die sowjetischen Truppen wurden nach Kriegsende bis weit in die fünfziger Jahre fortgesetzt. Schwerpunkt war weiterhin die Westukraine, die nun der Sowjetukraine voll eingegliedert war. Organisatorisch war München (Bayern) ein Zentrum, wo Bandera 1959 von sowjetischen Agenten getötet wurde. Auch in den USA kam es zur Gründung von Nachfolgeorganisationen der OUN.
Der Weg zur Selbständigkeit
Nach der Vertreibung der deutschen Wehrmacht wurde die Ukraine wieder vollgültiger Bestandteil der Sowjetunion, an deren Wiederaufbau ihre Betriebe und die daran arbeitenden Menschen großen Anteil hatten. Die Sowjetrepublik erreichte erstmals in ihrer Geschichte ihren heutigen Gesamtumfang. Wie die obige Gliederung zeigen soll, besteht sie aber aus Regionen mit sehr unterschiedlichen Traditionen. Es war keine allseits anerkannte, einheitliche und durchsetzungsfähige Nationalbewegung, die die Unabhängigkeit der Ukraine zustande brachte. Das bewirkte vielmehr das historische Versagen des Zentralstaats Sowjetunion in seinem Versprechen, den Sozialismus aufzubauen, den Wohlstand seiner Bürger:innen zu garantieren und in der Systemkonkurrenz mit dem kapitalistischen Block Überlegenheit, mindestens aber Gleichstand herzustellen.
Die Grundlagen dafür entfielen aber immer mehr. Trotz mancher Reformen war die Sowjetwirtschaft weiterhin von der Tonnenideologie bestimmt gewesen: Hauptsache, am Ende gab es mehr Traktoren oder Kühlschränke, was auch immer. Wie die produziert wurden, war zwar inzwischen nicht mehr völlig egal, aber zweitrangig. Denn die Zahl der Arbeitskräfte nahm gerade dank des wirtschaftlichen Erfolges in sehr vielen Jahren nach dem Krieg immer weiter zu. Zugleich waren die Rohstoffe, die man brauchte, lange Zeit spottbillig, weil sie im eigenen Land im Überfluss vorhanden waren. Aber etwa seit Ende der 70er Jahre wurde mehr und mehr deutlich, dass sich was ändern musste. All diese natürlichen Reichtümer gingen zwar nicht wirklich zu Ende, aber die Aufwärtsentwicklung wurde zum Teil dramatisch abgebremst.
Die Notwendigkeit für ein anderes Wirtschaften wurde zudem auch durch Druck von außen immer offenbarer: Denn der Westen bemühte sich mit aller Kraft, den Warschauer Pakt totzurüsten. Dem kapitalistischen Lager fiel es vergleichsweise leicht, weil im eigenen Lager eine technologische Revolution stattfand, welche die altbackene Sowjetwirtschaft nun ganz besonders vorgestrig aussehen ließ: Zum einen die Mikroelektronisierung, zum anderen Globalisierung. Hatte es zunächst noch so ausgesehen, als ob das Sowjetlager da einfach zurückfiele (und man deswegen erst unter Andropow, dann unter Gorbatschow mit einer geordneten Reform dagegen ankäme), wurde die Situation nach und nach immer dramatischer. Die Regale blieben immer öfter leer, die Schlangen wurden länger und länger. Und deswegen die Proteste gegenüber dem Kreml immer lauter, bald erhob sich in vielen Sowjetrepubliken ein schriller regionaler Nationalismus.
In der Ukraine hingegen lagen die Bedingungen anders. Dank ihrer Industriezentren ging es dort den Menschen häufig sogar besser als selbst in vielen Regionen Russlands, nicht zuletzt natürlich auch deshalb, weil der weiterhin enorme Landwirtschaftsbereich hoch effektiv war, also gleichzeitig viel Geld einbrachte und die Lebensmittelversorgung aufrecht erhalten konnte. Die Ukraine, immerhin die zweitwichtigste Sowjetrepublik, war inzwischen so weit in das Machtsystem integriert, dass nur Intellektuelle etwas gegen die Russifizierung der eigenen Kultur hatten. Die Masse identifizierte sich erst einmal weiterhin mit der Sowjetunion. Ein Beispiel hierzu war eine Volksabstimmung am 17. März mit der Fragestellung: „Sind Sie für die Erhaltung der Sowjetunion?“ in allen Unionsrepubliken außer Georgien, Moldawien und den baltischen Staaten. Sie ergab 77,8 % Zustimmung, was gerade auch in der Ukraine zutraf.
Bei dem Referendum im Dezember 1991, ob die Ukraine zu einem eigenständigen Staat werden solle, votierte aber doch eine Mehrheit für die Loslösung von der SU. Damit war eine zentrale Entscheidung über das weitere Schicksal der Sowjetunion gefallen. Zu dem plötzlich erscheinenden Sinneswandel der ukrainischen Bevölkerung hatte der Augustputsch 1991 gegen Gorbatschow beigetragen, weil dieses Ereignis den Menschen offenbar zeigte, was sie unter den bisherigen Verhältnissen zu erwarten hätten. Sie stimmten für die Unabhängigkeit. Dass sie in ihrer Mehrheit aber nicht ganz vom Altvertrauten lassen wollten, zeigten die ersten Präsidentschaftswahlen, in denen mit Leonid Krawtschuk ein alter Apparatschik gewählt wurde.
Eine Grundsatzentscheidung für die Unabhängigkeit aber war gefallen. Die weitere Frage war die, wie diese gefüllt werden soll. Als 2014 in den Maidanunruhen Viktor Janukowitsch, der an Moskau orientierte Präsident, davon gejagt wurde, war das keineswegs ein Faschistenputsch, wie in Teilen der deutschen Linken eifrig gewarnt wurde, sondern Ausdruck von Konflikten und eines Kräfteverhältnisses zwischen unterschiedlich strukturierten und verfassten Landesteilen. Es ist natürlich richtig, dass am Maidanaufstand 2014 Faschisten beteiligt waren und in der Aktion eine wichtige und durchsetzungsmächtige Rolle spielten. Anders als 1933 in Deutschland kam es aber nicht zu einer faschistischen totalen Machtübernahme, sondern zur Bildung eines bürgerlichen Regimes konservativer, neoliberaler, autoritärer Prägung. Die Ukraine ist ein Vielvölkerstaat. Bei der Parlamentswahl 2019 erhielten rechtsextreme Parteien zusammen nur 4,3 % bzw. 315.530 Stimmen.
Die Abschaffung der russischen Sprache als zweite Amtssprache ist in der praktischen Umsetzung differenziert zu bewerten. Nur in wenigen ehemaligen Sowjetrepubliken ist Russisch noch offizielle Staatssprache. Auch in der Ukraine gilt Russisch nicht mehr als Staats-, aber regional immer noch als Amtssprache. Für die überwiegende Mehrheit der Menschen in der Ukraine ist nach Meinung von Kennern des Landes Zweisprachigkeit (ukrainisch, russisch) eine Selbstverständlichkeit.
Die Interessen der Westukraine mit ihrer kleingewerblich-landwirtschaftlichen Struktur gehen eben eher in Richtung EU, die des Donbass in Richtung des alten Partners Russland, mit dem man ökonomisch mehr verflochten ist. Aber drei Jahrzehnte Unabhängigkeit, wie immer man diese bewertet, bedeuten auch eine neue Generation, für die die neuen Verhältnissen ganz selbstverständlich erscheinen. Diese Menschen verteidigen die Unabhängigkeit ihres Landes, ihre Lebensweise, ihre Anschauungen und was auch immer gegen einen Aggressor und sein reaktionäres Weltbild. Oder sie flüchten bzw. versuchen im Land zu überleben, bis der Krieg vorbei ist. Auf jeden Fall leidet die Mehrheit der Bevölkerung unter diesem Machtkampf.
F/HU, 27.2.2022
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