Krieg in der Ukraine:
Die wirtschaftlichen Folgen – und wie ihn beenden?

Michael Lüders Quelle: Wikipedia

Michael Lüders ist Publizist, Politik- und Islamwissenschaftler.

Er  hat am 22. April einen neuen Beitrag zum Krieg in der Ukraine auf seinem youtube-Kanal eingestellt, den wir empfehlen möchten. Den Vortrags-Text hat uns Herr Lüders zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.


Schön guten Tag und Hallo.

Das Töten und Sterben in der Ukraine gehen unvermindert weiter. Am Ostermontag begann die lange erwartete russische Großoffensive im Osten der Ukraine, entlang der Küstengebiete des Schwarzen Meeres. Friedensgespräche stehen vorerst offenbar nicht auf der Agenda, Russland setzt auf Sieg, die NATO-Staaten auf massive Aufrüstung und eine erhöhte Militärpräsenz im Osten Europas. Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO erscheint nur noch eine Frage der Zeit. Die westlichen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg erfolgen auf zwei Ebenen: Zum einen werden immer neue Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt – in der allerdings irrigen Annahme, sie würden Moskau ökonomisch in die Knie zwingen, gar das Ende der Herrschaft Putins herbeiführen. Zum anderen liefern die NATO-Staaten immer mehr und immer schwerere Waffen in die Ukraine, darunter Panzer und Flugabwehrgeschütze. Die USA stellen mittlerweile auch Kampfflugzeuge zur Verfügung.

Die innerdeutsche Debatte, sofern man die Zurschaustellung hochgradiger Empörung und einer politisch wie gesellschaftlich um sich greifenden „Kriegseuphorie“ als „Debatte“ bezeichnen mag, kennt eigentlich nur noch eine Richtung. Auf in den Kampf, schicken wir der ukrainischen Führung, was immer sie verlangt, auch und vor allem schwere Waffen – ganz gleich, ob Deutschland damit der Eskalation Vorschub leistet oder nicht, ganz gleich, ob am Ende deutsche Panzer in Richtung Russland rollen oder nicht. Das ist immerhin bemerkenswert, in einem Land zumal, das sich selbst als Weltmeister der Erinnerungskultur wahrnimmt und versteht.

Vor diesem Hintergrund passt ins Bild, dass der ukrainische Botschafter in Berlin auftreten kann wie ein Generalgouverneur, der sich wider alle diplomatische Gepflogenheiten auf eine aggressiv zu nennende Weise in die deutsche Innenpolitik einmischt und mit schier grenzenloser Anmaßung die hiesigen politischen wie medialen Akteure vor sich hertreibt. Nur selten werden ihm die Grenzen seines Tuns aufgezeigt, wie unlängst geschehen von Ex-Außenminister Sigmar Gabriel im „Spiegel“. Dem kriegstreibenden Botschafter dürfte zugutekommen, dass die Grenzen zwischen einer legitimen wie auch deutlichen Antwort auf die russische Aggression einerseits und einer tief verwurzelten Traditionslinie anti-russischer Ressentiments andererseits nicht allein in Deutschland fließend verlaufen.

Um allen Missverständnissen vorzubeugen: der russische Überfall auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig und in jeder Hinsicht verwerflich. Historisch weist er Parallelen auf etwa zum Überfall Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion auf Polen 1939, zum finnisch-sowjetischen Winterkrieg 1939/40 und zuletzt zum US-amerikanisch und britisch geführten Einmarsch in den Irak 2003. Jeder getötete oder ermordete Ukrainer, jeder ukrainische Flüchtling, jedes zerstörte ukrainische Haus ist einer, ist eines zu viel.

Die moralische Emphase darf aber die politische Analyse nicht ersetzen. In Berlin jedoch ist genau das längst geschehen. Mit Blick auf die Ukraine herrscht im Parlament wie auch in den Medien ein an Hysterie grenzender Aktionismus, der nur noch Schwarz und Weiß, Gut und Böse wahrzunehmen bereit ist – weitgehend im Gleichklang mit der EU und der NATO in Brüssel. Differenzierungen sind längst nicht mehr gefragt, alles wird in diesen Tagen zugespitzt auf die Frage: Wann, endlich, stimmt der Bundeskanzler der Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine zu, unbeschadet aller möglichen Konsequenzen?

Es ist fast schon beängstigend, dass Kanzler Olaf Scholz und sein Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt die „last men standing“ zu sein scheinen, die letzten Volksvertreter auf Regierungsebene, die nicht aus dem Bauch heraus oder ideologisch getrieben handeln, sondern mit Bedacht und Vernunft die Folgen ihres Tuns sorgfältig abwägen. Mit welchem Ergebnis sei dahingestellt. Kanzler Scholz wird deswegen Führungsschwäche vorgeworfen – das Gegenteil ist richtig. Scholz und Schmidt sind offenbar die einzig verbliebenen Staatsmänner von Format in Berlin, welche die langfristigen Interessen Deutschlands und der EU noch im Blick zu behalten bereit sind. Die deutsche Ukraine-Politik krankt an ihrer hochgradigen Emotionalisierung und Moralisierung, die vermeintlich werteorientiert daherkommt, tatsächlich aber in erster Linie frei ist von analytischem und strategischem Denkvermögen. Deswegen auch kann Scholz seine Überlegungen nicht oder nur in sehr dosierter Form in die Öffentlichkeit tragen. Würde er die unmissverständliche Erwartungshaltung der veröffentlichten Meinung und der Scharfmacher in seiner Koalition nicht bedienen oder sie gar offen herausfordern, riskierte er seine politisch-mediale Hinrichtung vor laufender Kamera. Soviel zum Thema Meinungsfreiheit in einer Demokratie.

Nachdenken aber lautet das Gebot der Stunde. Liegt es im Interesse Deutschlands, schlimmstenfalls in einen militärischen Konflikt mit Russland hineingezogen zu werden oder dem Dritten Weltkrieg Vorschub zu leisten? Liegt es im Interesse Deutschlands, ständig neue Boykottmaßnahmen gegenüber Russland zu fordern und mitzutragen, die am Ende der hiesigen Wirtschaft das Genick brechen könnten? Wie ist zu erklären, dass den allermeisten Mandatsträgern und Meinungsmachern vollkommen zu entgehen scheint, dass die auf Ausgrenzung und Verdammnis ausgerichtete Haltung gegenüber Russland seitens der Europäischen Union wie auch der USA außerhalb der westlichen Hemisphäre von niemandem geteilt, geschweige denn mitgetragen wird? Sollte es nicht zu denken geben, dass selbst verfeindete Staaten wie etwa Pakistan und Indien oder der Iran und Israel westliche Boykottmaßnahmen nicht mittragen und weiterhin eine neutrale Haltung einnehmen?

Im vorigen März fand erneut das Doha-Forum statt, ein Spitzentreffen internationaler Politiker und Meinungsmacher in der Hauptstadt Katars. Auf einer der zahlreichen Podien wurde die frühere pakistanische Außenministerin Hina Rabbani Khar gefragt, warum Pakistan den russischen Einmarsch in die Ukraine nicht verurteilt habe. Ihre Antwort: Pakistan erlebe, wie auch seine westlich gelegenen Nachbarstaaten, seit Jahrzehnten die Gewalttaten und Übergriffe einer anderen Weltmacht – mit verheerenden Folgen für die Menschen in der Region. Sie meinte offenkundig die USA, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Allein der Krieg in Afghanistan habe Hunderttausende Menschen das Leben gekostet, Millionen Afghanen seien vor Krieg und Hunger nach Pakistan und in den Iran geflüchtet. Die Zerstörungen in Afghanistan überträfen die in der Ukraine um ein Vielfaches. Wenn die Entscheider im Westen nunmehr in Russland den großen Feind sähen, sei das deren Entscheidung. Pakistan setze stattdessen, wie auch das NATO-Mitglied Türkei, auf Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges.

Würde hierzulande jemand in gehobener Position Auffassungen vertreten wie Hina Rabbani Khar, wäre die Folge vermutlich ein Shitstorm sondergleichen, wäre die Karriere der betreffenden Person wohl am Ende. Das ständige Messen mit zweierlei Maß, das unter westlich Werteorientierten den wenigsten sauer aufzustoßen scheint, ist im globalen Süden durchaus ein Thema. Auch deswegen, weil Washington gerade erst hinter den Kulissen dafür Sorge getragen hat, dass alle anhängigen Verfahren gegen die USA wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Afghanistan vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingestellt worden sind. Was nicht allein US-Präsident Joe Biden keineswegs daran hindert, Russlands mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine lauthals anzuprangern und die Bestrafung der Verantwortlichen zu fordern, allen voran natürlich des russischen Staatschefs Putin.

Für einen Moment diesen anderen Blick des globalen Südens anzunehmen hilft zu verstehen, warum der teils bereits erfolgte, teils lautstark geforderte Boykott russischer Energie, also von Kohle, Erdöl und Erdgas, in erster Linie Europa und vor allem Deutschland schadet, weniger dagegen Russland. Einfach gesagt deswegen, weil es der russischen Führung nicht an Käufern in anderen Teilen der Welt mangelt. Die Deutschen wollen keine russische Kohle oder kein russisches Erdöl mehr beziehen? Kein Problem, die Inder zum Beispiel werden gerne in die Bresche springen, China sowieso. Die hierzulande beliebte Gleichung: Wir boykottieren die russische Wirtschaft, dann hat Putin kein Geld mehr für seinen Krieg in der Ukraine, und die Oligarchen, besorgt um ihre Pfründe, sie schreiten zur Palastrevolte: solche Überlegungen zeugen eher von Wunschdenken denn von Realitätssinn.

Was ist geschehen, als die Europäische Union im vorigen Monat den Boykott russischer Kohle ankündigte? Die Kohlepreise in den außereuropäischen Kohle-Exportländern wie Indonesien, Australien, Südafrika oder Kolumbien sind quasi über Nacht in die Höhe geschossen, zum finanziellen Nachteil der bisherigen Abnehmer der dortigen Kohlevorkommen – das sind überwiegend ärmere Teile der Welt. Deutschland hat 2021 rund 20 Millionen Tonnen Kohle aus Russland importiert. Das entspricht rund 50 Prozent des hiesigen Gesamtkohlebedarfs, der vor allem in der Industrie und beim Betrieb von Heizkraftwerken anfällt. Die anschließende Ankündigung der EU, den eigenen Kohlebedarf durch Importe aus den genannten Ländern zu ersetzen, hat naturgemäß weder zur Preisberuhigung beigetragen noch die nicht ganz unwesentliche Frage beantwortet, auf welchem Weg Brüssel die Kohle vom anderen Ende des Planeten zu importieren gedenkt? Die russische Kohle kam bisher mit dem Zug. Von Australien aus beispielsweise müssten Schiffe eingesetzt werden – nicht zuletzt dem langen Transportweg geschuldet werden die Preise zusätzlich steigen. Und wo, bitte, sollen die Schiffe herkommen, die diese Kohle transportieren? Der Markt ist weitgehend leergefegt. Nicht zuletzt: Womit sollen diese Schiffe fahren? Mit Diesel? Wird das den Klimawandel verlangsamen oder eher nicht? Die böseste Ironie wäre, wenn am Ende der benötigte Treibstoff aus Russland käme, über Umwege und entsprechend teurer.

Die moralingetriebenen Akteure in Berlin oder Brüssel wären gut beraten, sich an den berühmten Satz aus der Chaostheorie zu erinnern, dem zufolge der Flügelschlag eines Schmetterlings über Hong Kong einen Wirbelsturm in New York auslösen kann. In das komplexe Gefüge globaler Versorgungsabläufe und Ressourcenverteilung aus politischen Gründen einzugreifen, kann eine Kettenreaktion mit unabsehbaren Folgen auslösen, die am Ende möglicherweise nicht mehr zu kontrollieren ist. Den Preis zahlen schlussendlich die Verbraucher weltweit, auch in Gestalt einer dauerhaften Inflation und von Versorgungsengpässen.

Die nächste Stufe der Eskalation wäre ein Importstopp russischen Erdöls seitens der EU. Der ist noch nicht beschlossen, wohl aber nur eine Frage der Zeit. Deutschland bezieht rund ein Drittel seines Bedarfs an Erdöl aus Russland. Erdöl dient bekanntlich zur Erzeugung von Strom und als Treibstoff. Es steckt etwa in Kunststoffen, Farben, Medikamenten und Kosmetika. Ohne Erdöl kann eine Industriegesellschaft bislang nicht funktionieren. Zur Erinnerung: Zu Beginn des Krieges in der Ukraine sind die Benzinpreise an den hiesigen Tankstellen innerhalb kürzester Zeit fast schon explodiert. Die Bundesregierung sah sich veranlasst, ein 16-Milliarden-Euro umfassendes finanzielles Entlastungspaket zu schüren, aus Sorge vor dem Unmut der Bevölkerung.

Die großen Nutznießer dieser künstlich herbeigeführten Verteuerung waren übrigens nicht die Russen, sondern westliche Energiekonzerne. Den wenigsten ist das bewusst, zumal Politik und Medien es vorziehen, diese Seite eher dezent zu beleuchten. Deswegen sind Durchhalteparolen der Sorte: Dann zahle ich eben mehr, das ist doch gar nichts im Vergleich zum Leid der Ukrainer oder auch „Frieren für den Frieden“ entweder naiv oder aber Ausdruck einer professionell betriebenen Rosstäuscherei. Denn solche Parolen verkennen, bewusst oder unbewusst, welche Akteure da eigentlich im Hintergrund welche Interessen verfolgen.

Sollte der russische Ölboykott tatsächlich kommen, und daran besteht wenig Zweifel, gehen die Preise nicht allein an den Tankstellen mit Sicherheit ein weiteres Mal durch die Decke, und das vermutlich auf lange Zeit. Dessen ungeachtet erwecken heimische Entscheider und Publizisten gerne den Eindruck, nicht wir seien abhängig von russischer Energie, vielmehr der russische Staat von westlichen Geldern. Und sobald die nicht mehr flössen, sei Russland am Ende. Oder, in den Worten von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Der russische Staatsbankrott ist nur noch eine Frage der Zeit“. Wer allerdings grundlegende ökonomische Rahmendaten in seine Überlegungen mit einbezieht, dürfte die Frage, welcher Staat oder welche Staaten am Ende tatsächlich bankrott dastehen, deutlich zurückhaltender beantworten.

Kommen wir also zu den Kronjuwelen, dem russischen Erdgas. Deutschland bezieht etwa die Hälfte des hierzulande verbrauchten Gases aus Russland, die EU circa ein Drittel. Da in Deutschland der Irrglaube vorherrscht, die russischen Gaslieferungen seien mehr oder weniger mühelos zu ersetzen, reiste Wirtschaftsminister Robert Habeck im März nach Doha, um dort katarisches Flüssiggas einzukaufen. Unmittelbar nach Beendigung seines Kurzbesuches ließ sein Ministerium verlauten, Habeck habe eine langfristige Energiepartnerschaft mit dem Golfemirat vereinbart. Die Botschaft an das heimische, das deutsche Publikum sollte offenbar lauten: Der Minister hat alles unter Kontrolle, das russische Gas ist schon so gut wie Geschichte. Auf dem bereits angesprochenen Doha-Forum trat auch der katarische Energieminister Saad Sharida Al-Ka’abi auf, der dem kurz zuvor abgereisten Habeck ausdrücklich widersprach. Katar wisse nichts von einer diesbezüglichen Vereinbarung mit Deutschland. Man habe sich lediglich auf ein „Memorandum of Understanding“ verständigt, will heißen: auf eine unverbindliche Fortführung der Gespräche. Dann redete Energieminister Al-Ka’abi Klartext.

Katarische Ressourcen am Limit. Langfristige Lieferverträge mit Ostasien.

Neue Erdgasfelder würden erschlossen. Volumen 10 bis 15 Prozent Erdgas zusätzlich.

Lieferung frühestens ab 2026.

Auf Deutschland entfallen dann zwei bis fünf Prozent des hierzulande benötigten Erdgases. Auch andere Europäer wollen bedient werden.

Flüssiggas ist grundsätzlich teurer als Pipeline-Gas.

DAS RUSSISCHE GAS IST WEDER FÜR DEUTSCHLAND NOCH FÜR EUROPA VOLLSTÄNDIG AUS ANDEREN QUELLEN ZU ERSETZEN!

Das an solcher Stelle fällige Argument, dann müsse man eben den Energiewandel hin zu den erneuerbaren Energien beschleunigen, ist ebenso richtig wie zu kurz gegriffen – dieser Wandel dauert und wird in diesem Jahrzehnt bestenfalls in Teilen zu verwirklichen sein. (Erstaunlich, dass trotzdem so viele ein Ende der russischen Gaslieferungen fordern.)

Wollte Europa seinen Gas-Bedarf vollständig aus Flüssiggas decken, bräuchte es Schätzungen zufolge bis zu 2000 zusätzlicher Tanker für dessen Transport. Wo sollen die herkommen? Wer wollte die bezahlen? Wie viele Jahre würde es dauern, bis diese Flotte in Betrieb gehen könnte? Dennoch hat die EU-Kommission, ebenfalls im März, eine „strategische Energiepartnerschaft“ mit den USA vereinbart, um von dort umweltschädlich gefördertes Frackinggas, die schmutzigste Form der Gasförderung, mit bislang kaum vorhandenen Tankern verflüssigt und überteuert nach Europa zu importieren. Die Gaspipeline Nord Stream Zwei nicht in Betrieb zu nehmen, vermutlich auch dann nicht, wenn der Krieg in der Ukraine vorbei sein wird, um stattdessen nicht ausreichend vorhandenes und wesentlich teureres Flüssiggas zu importieren – jeder intelligente Zehntklässler würde da wahrscheinlich ins Grübeln kommen.

Zweierlei könnte einen Importstopp russischen Erdgases bewirken. Zum einen ein Beschluss der Europäischen Union, den die Bundesregierung mitträgt. Zum anderen eine russische Antwort auf die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen an die Ukraine seitens Deutschlands und anderer europäischer Staaten. Moskau könnte geneigt sein, in dem Fall Vergeltung zu üben und die Gaslieferungen entweder einzustellen oder aber zu drosseln. Nur am Rande sei erwähnt, dass der ukrainische Präsident Selenskyj die Einstellung russischer Kohle- und Erdöllieferungen verlangt, nicht aber oder keineswegs mit Nachdruck die Beendigung russischer Gaslieferungen. In dem Fall gingen der ukrainischen Regierung Milliardenbeträge an Transitgebühren verloren.

Sollte der GAU, die Kernschmelze, tatsächlich eintreten und die russischen Gaslieferungen entfallen, gehen hierzulande die Lichter aus. In dem Fall, so Kanzler Scholz, stünden in Deutschland Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Millionen, wohlgemerkt. Der Vorstandsvorsitzende der BASF, Martin Brudermüller, hat für den Fall eines vollständigen Energieembargos bereits angekündigt, dass dann der BASF-Hauptstandort in Ludwigshafen mit seinen rund 40,000 Mitarbeitern stillgelegt werden müsste. Der größte Chemiekonzern der Welt, gegründet 1865, stünde dann zumindest in Deutschland vor dem Aus. Ob sich Industrie, Gewerbe und Handel in diesem Land von einem solchen wirtschaftlichen Tsunami erholen könnten sei dahingestellt – übertriebener Optimismus jedenfalls erscheint nicht angebracht. Umso mehr, als der Krieg in der Ukraine weltweit die Lieferketten gefährdet oder bereits unterbrochen hat.

Es ist nicht allein die Energieabhängigkeit von Russland, welche die hiesige Wirtschaft bedroht, sondern auch deren starke Verflechtung mit der chinesischen. Beides zusammen ergibt eine explosive Mischung, die jederzeit die hiesige Volkswirtschaft, die auf billige Energie und Exportmärkte angewiesen ist, vor existentielle Herausforderungen stellen kann. Teilweise bestehen die bereits – noch allerdings ist die Kernschmelze nicht eingetreten. Nicht zuletzt ist der soziale Friede in Deutschland angesichts der ohnehin schon rapide steigenden Energiekosten gefährdet. Wenn im nächsten Februar Millionen Haushalte ihre Abrechnungen für den Energieverbrauch in diesem Jahr erhalten und vierstellige Nachzahlungen fällig werden sollten, plus drastisch erhöhte Abschlagszahlungen, dürften sozial schwache Haushalte vor der Frage stehen: Heizen oder Essen? Spätestens dann wird es gesellschaftlich kritisch.

In der hiesigen Politik wie auch den Medien wird der Ball diesbezüglich eher flach gehalten. Vorzugsweise werden Experten gehört, die zu relativieren und abzufedern verstehen. Darüber hinaus handelt die Regierungsseite auf drei Ebenen, um die Weichen neu zu stellen. Zum einen flüchtet sie in Aktionismus, wie die Reise von Wirtschaftsminister Habeck nach Katar unterstrichen hat. Anschließend reiste er weiter nach Abu Dhabi, um auch dort seine Visitenkarte für weitere Energiegespräche zu hinterlassen. Die Vereinigten Arabischen Emirate führen gemeinsam mit Saudi-Arabien, aktiv unterstützt von den USA und Großbritannien, seit 2015 einen mörderischen Krieg im Jemen, dem bislang mehr als 100.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Millionen Jemeniten sind vom Hungertod bedroht, der Jemen und Afghanistan gelten als die beiden größten humanitären Katastrophen weltweit. Warum nun Energielieferungen aus den Emiraten moralisch eher zu vertreten sein sollen als solche aus Russland, erschließt sich dem logisch denkenden Menschen nicht. Beide führen Angriffskriege.

Zum anderen legt die Bundesregierung finanzielle Sonderprogramme auf als gäbe es kein Morgen. 100 Milliarden Euro sind geplant für die Erneuerung der Bundeswehr, 200 Milliarden sollen in erneuerbare Energien fließen, die Kosten für die Flutkatastrophe im Ahrtal und für diverse Corona-Hilfen belaufen sich zusammen auf mindestens 70 Milliarden, darüber hinaus ist Deutschland der größte zivile Geldgeber der Ukraine. Hinzu kommen die Kosten für die Versorgung ukrainischer Flüchtlinge, die sich monatlich auf 420 Millionen Euro belaufen, macht fünf Milliarden im Jahr. Und so weiter, und so fort.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg fährt die Bundesregierung auf Sicht. Man redet sich die Wirtschaftslage schön, versäumt es, eigene Interessen zu benennen, lässt sich treiben von Vorgaben aus Washington, Brüssel oder Kiew. Lieber schwelgen Politik und Medien in moralischer Selbsterhöhung und nehmen sehenden Auges auch die wirtschaftliche Selbstentleibung in kauf. Hauptsache, es schadet Russland – was keineswegs ausgemacht ist. Auch Albernheiten gehören offenbar zum Programm, sie bilden die dritte Ebene des Regierungshandelns. Am Karfreitag rief Wirtschaftsminister Habeck die Deutschen auf, Energie zu sparen. „Wir können nur unabhängiger von russischen Importen werden, wenn wir … alle mitwirken. Das schont den Geldbeutel und ärgert Putin.“ Konkret empfahl er, mehr Fahrrad zu fahren, das Auto am Sonntag stehenzulassen, mehr im Home-Office zu arbeiten, und, nicht zu vergessen: „Wenn man abends die Gardinen zuzieht, spart man bis zu fünf Prozent Energie.“ Mit dergleichen Ausführungen offenbart der Vizekanzler, auf welchem Niveau sich deutsche Politik gegenwärtig in Teilen bewegt.

Wie aber den Krieg in der Ukraine beenden? Besser gesagt: Wie ist die Ukraine vor einem düsteren Schicksal zu bewahren, ihrer fortschreitenden Zerstörung? Es gibt nur eine sachliche Antwort, so unbefriedigend oder unrealistisch sie gegenwärtig auch erscheinen mag: Auf dem Verhandlungsweg. Die Alternative wäre, den Krieg solange fortzusetzen, bis eine Seite zerstört am Boden liegt. Diese Seite wäre im Zweifel die Ukraine, mit Sicherheit nicht Russland. Wäre die Regierung Putin bereit zu Friedensverhandlungen? Die russische Kernforderung ist bekannt: die politische und militärische Neutralität der Ukraine, keine NATO-Mitgliedschaft und keine NATO -, vor allem keine US-Soldaten, -Waffensysteme und -Militärberater in der Ukraine. Inwieweit sich großrussische Ideologien, die Kiews Unabhängigkeit infrage stellen, im Rahmen einer Friedenslösung einhegen ließen, lässt sich gegenwärtig nicht beantworten. Wollen die Russen den Frieden? Wir wissen es nicht, seit Wochen hat es keine Verhandlungen mehr gegeben.

Was wir aber wissen und kennen, ist die Haltung der USA in dieser Frage. Sie könnte eindeutiger kaum sein: keine Verhandlungen, Fortführung des Krieges bis zum Sieg der Regierung Selenskyj, Festhalten am Weg einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Jake Sullivan, nationaler Sicherheitsberater der Regierung Biden, hat in zahlreichen Interviews, darunter mit NBC am 10. April, die Linie der USA klar umrissen. Washington werde der Ukraine auch weiterhin „alles geben, was sie dort an Waffen benötigen“, um Russland zu besiegen. Die USA wollten eine starke Ukraine und ein dauerhaft geschwächtes, isoliertes Russland. Ganz ähnlich hat sich auch Außenminister Antony Blinken geäußert. Offenbar ist man zumindest in Teilen der US-Administration entschlossen, in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg mit Russland zu führen. In der Hoffnung, Russland dort eine ähnlich vernichtende Niederlage zu bereiten wie einst der Sowjetunion in Afghanistan. In den Worten des US-Diplomaten und ehemals stellvertretenden Verteidigungsministers Chas Freeman: „Lasst uns kämpfen bis zum letzten Ukrainer.“

Dieser geostrategische und militärische Konfrontationskurs ist nicht neu und keineswegs erst eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg. Am 1. September 2021 haben die USA und die Ukraine eine „strategische Partnerschaft“ begründet – der Vertragstext ist auf der offiziellen Webseite des Weißen Hauses nachzulesen. Er liest sich wie eine Kriegserklärung an Russland, bekräftigt das Recht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft und sichert Kiew eine umfassende militärische Zusammenarbeit auf allen Gebieten und in allen Waffengattungen zu. Am 10. November 2021 unterzeichneten Washington und Kiew darüber hinaus eine „Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine“, nachzulesen auf der Webseite des US-Außenministeriums. Auch diese Charta bedient sich eines aggressiven, kompromisslosen Tonfalls gegenüber Russland. Viel ist die Rede von weiteren militärischen Kooperationen, nirgendwo fällt auch nur ein Wort zu Verhandlungen mit Russland, etwa über die Zukunft der seit 2014 umkämpften Regionen Donbass und Luhansk im Osten der Ukraine, wo gegenwärtig die härtesten Kämpfe toben.

Mag sein, dass der ukrainische Präsident Selenskyj beide Vereinbarungen als Freibrief verstand, um auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar die geplante atomare Bewaffnung der Ukraine anzukündigen. Parallel dazu ließ er einen Großteil der ukrainischen Armee im Osten zusammenziehen. Man muss keinerlei Sympathien für die russische Regierung hegen, um dennoch verstehen zu können, dass aus Sicht Moskaus Gefahr im Verzug war. So sehr der russische Angriff auf die Ukraine auch zu verurteilen ist – er hat eine Vorgeschichte, an der die USA und die NATO einen erheblichen Anteil haben. Diesen Aspekt aufzugreifen aber grenzt in den hiesigen Leitmedien und der Politik an ein Tabu. Stattdessen wird lieber über den Geisteszustand Putins spekuliert oder die Frage erörtert, welches Land die Russen als nächstes überfallen könnten. Die bevorzugte Antwort lautet meist: das Baltikum.

Die aufgeheizte innerdeutsche Debatte, nämlich so schnell wie möglich schweres Kriegsgerät in die Ukraine zu expedieren – ganz gleich übrigens, ob sich die Ukrainer mit der erforderlichen Waffentechnik auskennen oder nicht – ist also keineswegs aus dem Nichts entstanden. Sie setzt, wie die Politik von NATO und EU insgesamt, die Vorgaben, Anregungen und Regieanweisungen aus Washington in weiten Teilen um, meist über den Umweg transatlantischer Echokammern. Das allerdings liegt weder im Interesse Deutschlands, Europas und am allerwenigsten der Ukraine – auch wenn die Mehrzahl hiesiger Entscheider das anders sieht. Die Amerikaner mögen ihren Stellvertreterkrieg mit Russland auf ukrainischem Boden bis zum letzten Ukrainer fortführen wollen. Für uns in Europa allerdings gibt es dabei nichts zu gewinnen.

Wie aber könnte es eine Verhandlungslösung des Ukraine-Krieges geben, angesichts der klaren Vorstellungen Washingtons in dieser Frage? General Mark Milley, Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte und somit einer der ranghöchsten US-Militärs, erklärte am 4. April in einer Anhörung vor dem US-Verteidigungsausschuss: „Ich denke, wir müssen uns auf einen langanhaltenden Konflikt in der Ukraine einstellen, der mindestens in Jahren gemessen werden wird.“ Mit anderen Worten: Es könnten auch Jahrzehnte werden.

Anstatt die Vorgänge in der und um die Ukraine herum kritisch zu beleuchten, insbesondere die Haltung Washingtons ins rechte Licht zu rücken und einzuordnen, ziehen es die hiesigen Leitmedien in der Regel vor, ausschließlich Russland zu geißeln und den ukrainischen Präsidenten als Heldenfigur zu inszenieren. Selenkij handelt, bislang jedenfalls, keineswegs unklug. Er versteht es, sich darzustellen, bedient sein Bunker-Image und weiß, wie wichtig gerade die Sozialen Medien für ihn sind. Die schweizerische Weltwoche schreibt dazu: „Es scheint, dass die ukrainische Kommunikation unter der Ägide der Gruppe PR Network nicht weniger als 150 PR-Firmen, Tausende von Experten, Dutzende von Presseagenturen, renommierte Medien, Telegram-Kanäle und russische Oppositionsmedien beschäftigt, um ihre Nachrichten zu verbreiten und die westliche Meinung zu prägen.“ Selenskyj muss dabei die Balance wahren. Einerseits braucht er die militärische Unterstützung des Westens, andererseits kann er kein Interesse daran haben, sein Land in einen Dreißigjährigen Krieg zu führen, mit freundlicher Unterstützung aus Washington.

Fazit: Die Aussichten sind düster. Der Krieg in der Ukraine wird fortdauern, die Weltwirtschaft in eine Rezession führen, einer Zweiteilung der Welt Vorschub leisten. Auf der einen Seite die Guten, also wir im Westen, auf der anderen die Bösen, allen voran Russland und China, die politisch, wirtschaftlich und militärisch immer enger zusammenrücken werden. Deutschland und die EU werden ihre Rolle als Juniorpartner oder Vasallen der USA, je nach Perspektive, auch weiterhin bereitwillig annehmen. Vor allem Deutschland wird dabei größten wirtschaftlichen Schaden erleiden, bis hin zu sozialen Unruhen. Erst wenn ein Tipping Point überschritten ist, die Angst um die Zukunft und den eigenen Wohlstand eine substantielle Zahl von Menschen erfasst, dürfe die Zeit derer kommen, die diesen Konfrontationskurs nicht länger mitzutragen bereit sind. Man kann nur hoffen, dass es dann nicht zu spät ist. Zu diesem Konfrontationskurs gehören übrigens auch die zunehmende Dämonisierung alles Russischen und die Beendigung selbst kultureller und wissenschaftlicher Kontakte zu Russland. Russen und Weißrussen erhalten mittlerweile keine Touristenvisa mehr für die EU – warum eigentlich? Um sie für ihre jeweiligen Präsidenten zu bestrafen?

Sollte der Ukraine-Krieg enden, dann wird die Ukraine entweder weitgehend zerstört sein oder aber ein neutrales Land werden. Eine Mitgliedschaft in der NATO ist ausgeschlossen, nicht anders als eine Mitgliedschaft etwa Mexikos in einem Verteidigungsbündnis unter Führung Russlands oder Chinas. Die Ukraine ist zwischen die Fronten der USA und Russlands geraden, auch infolge eigener Selbstüberschätzung. Wir Deutsche und Europäer sollten daraus lernen, um nicht eines Tages ebenfalls als Bauern auf einem geopolitischen Schachbrett zu enden. Oder uns schlafwandelnd im Dritten und dann sicherlich letzten Weltkrieg wiederzufinden.

Michael Lüders
am 22. April 2022


 

2 Kommentare

  1. Eine sehr differenzierte Einschätzung der Lage. Die Haltung von Herrn Scholz ist besonnen und klug. Ich hoffe dass er dabei bleibt und dank solcher Artikel wie dem Ihren, mehr Unterstützung bekommt.

  2. Super Analyse! Bleibt noch zu ergänzen, dass durch das USA/EU-Embargo steigende Rohölpreise letztlich auch Russland zu gute kommen, wenn sie ihr Öl in andere Länder der Welt exportieren. Was für eine Groteske!

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