Zur Geschichte der Ukraine

Steht man vor der Aufgabe, eine kurze Geschichte der Ukraine zu schreiben, so tauchen schnell Schwierigkeiten auf. Nicht, weil es wie bei anderen Ländern auch, eine Herausforderung ist, einen längeren Zeitraum in knappen Aussagen zusammen zu fassen, sondern weil die Ukraine als Staat erstmalig Anfang des 20. Jahrhunderts im Gefolge der Oktoberevolution entstanden ist.

Zur Ukraine wurde eine Vielzahl von Gebieten zusammengefasst, die im Laufe der Jahrhunderte eine äußerst unterschiedliche Entwicklung durchgemacht hatten, so dass sie keine eigene Kultur und sprachliche Identität herausbilden konnten.

Erst im 19. Jahrhundert änderte sich das ein wenig, als in einem Teil der Region Galizien eine ukrainische Nationalbewegung entstand. Sie fand in den anderen Regionen, die später in die Ukraine aufgingen, wenig Resonanz, so dass sie nicht als identitätsstiftend für das ganze Land angesehen werden kann. All diesen Gebieten gemein ist, dass sie nicht in der Lage waren, aus eigener Kraft einen Staat zu bilden.

Die Faktoren, die ihre Geschichte prägten und bis heute noch eine gewisse Bedeutung für das Verständnis der Ukraine haben, sollen im Folgenden kurz angeführt werden. Ausführlicher wird auf die Entwicklung des Landes ab 1990 eingegangen. Die Darstellung endet kurz vor Beginn der russischen Intervention in die Ukraine. Zur Einschätzung derselben wird an andere Stelle dieser Zeitung Position bezogen.

Frühgeschichte

Erstmalig kam es Mitte des 8. Jahrhunderts zu einer Staatenbildung slawischer Völker. Um Kiew herum entstand die sog. Rus, die sich in den folgenden Jahrzehnten zum sog. Kiewer Rus erweiterte. Ihr Territorium berührte größere Gebiete der heutigen Staaten Belarus, Ukraine und Russland. Es reichte im Norden bis nach Finnland hinein.

Die Kiewer Rus war ein Zusammenschluss mehrerer Fürstentümer mit einem Großfürsten an der Spitze. Die Stadt Kiew bildete ihr Machtzentrum. Hier kreuzten sich Handelswege, die alle Regionen Europas verbanden. Die ursprünglich inhomogene Bevölkerung verschmolz im Laufe der Jahrhunderte zu einer in Sprache und Kultur recht einheitlichen ethnischen Gemeinschaft, dem sog. altrussischen Volk. Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte das frühe Bekenntnis der Herrscher zum orthodoxen Glauben.

Die Fürstenherrschaft war dauerhaft nicht stabil. Seit dem 11. Jahrhundert gab es immer wieder durch Erbstreitigkeiten und Nachfolgeregelungen ausgelöste Machtkämpfe unter den adligen Häusern, die zu gravierenden Gebietsveränderungen führten. Anfang des 13. Jahrhunderts zerfiel die Kiewer Rus. Sie wurde abgelöst durch eine über hundert Jahre dauernde Herrschaft der Mongolen.

Ende des 14. Jahrhundert eroberte eine polnisch-litauische Koalition östlich ihrer Herrschaftsgebiete ein Territorium, das heute etwa dem der West-Ukraine und der Zentral-Ukraine entspricht. Sie vollzog für ‚Kiew und Gesamtruthenien‘ eine Wende zum christlichen Glauben unter römischer Vorherrschaft. Die orthodoxen Riten wurden beibehalten. Die Kirche wurde als unierte bezeichnet, später als griechisch-katholische. Sie existiert bis heute in der Ukraine neben der orthodox-christlichen Richtung, die vor allem im Osten des Landes verwurzelt ist[1].

Im 17. Jahrhundert zerfiel diese Herrschaft und wurde durch die Phase des sog. Ruins abgelöst. Sie war geprägt durch einen Zerfall staatlicher Strukturen. Das Land spaltete sich entlang des Dnipros in einen rechts- und links-ukrainischen Bereich. Der eine geriet unter polnischen, der andere unter russischen Einfluss. Die Beziehung zwischen beiden Gebieten war durch wechselseitige Feindschaft bestimmt.

An den südlichen Grenzen dieser beiden Regionen hatten sich die Tartaren etabliert. Sie stammten von der Krim, wo sich im 15. Jahrhundert ein Chanat gegründet hatte, ein Nachfolgestaat der mongolischen Invasoren. Es stand unter der Kontrolle des Osmanischen Reichs. Seine wichtigste Einnahmequelle war der Handel mit Sklaven. Es zerfiel im 18. Jahrhundert.

Ende des 18. Jahrhundert nach den drei polnischen Teilungen gerieten diese Gebiete nahezu vollständig unter russische Vorherrschaft. Lediglich ein kleiner Teil, der das ölreiche Galizien umfasste, wurde von Österreich – Ungarn beherrscht, wobei die Verwaltung direkt den Habsburgern unterstand. Das erstarkte Russland meldete nun auch Herrschaftsansprüche in der Schwarzmeerregion westlich der Krim an.

Zu einer gewissen ökonomischen Blüte kam es im Süden des neu-russischen Territoriums Anfang des 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung verschiedener Länder. Die Bevölkerung der neuen Industriestädte musste versorgt werden. Die Schwarzerdeböden der Region waren ertragreich und lieferten mehr als das Land an Nahrungsmitteln benötigte. Hauptprofiteur dieser Entwicklung war die Stadt Odessa, über deren Hafen nahezu der gesamte Getreideexport erfolgte.

Zwischen 1853 und 1856 entbrannte um die Schwarzmeerregion Russlands der sog Krim-Krieg, der zwischen England, Frankreich, dem Osmanischen Reich und Russland ausgetragen wurde.

Der Krieg hatte für die beteiligten Länder erhebliche innen- und außenpolitische Folgen. Russland konnte nur mit Mühe seinen Einfluss auf der weltpolitischen Karte wahren und war genötigt, zur Finanzierung des Krieges Alaska an die USA zu verkaufen. Allerdings konnte es seine Vorherrschaft in der südlichen Ukraine sichern.

Nach Ende des Krieges kam es in diesen Gebieten erneut zu einem Aufschwung. Die Ausfuhr von Getreide stieg stetig, eine Eisen- und Stahlindustrie entwickelte sich, Kohle sowie andere Erze wurden ausgeführt und das Land mit einem weitläufigen Eisenbahnnetz ausgestattet. In den Industriegebieten, resp. im Donbass entstand eine Arbeiterbewegung.

Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge blieb es in den von Russland eroberten Gebieten unruhig. Das Zaren-Regime unterdrückte alle politischen und kulturellen Bestrebungen der dort lebenden Bevölkerung nach Eigenständigkeit. Im Untergrund lebten sie fort.

Erste Ansätze einer Staatsbildung

Im ersten Weltkrieg wurde die Region zum Beuteobjekt verschiedener Mächte. Diverse Schlachten wurden auf seinem Territorium ausgetragen. Galizien wurde zerstört.

Als Folge der Oktoberrevolution entstand unter Führung des Ukrainischen Nationalrates im Januar 1918 die Ukrainische Volksrepublik als Teil der föderativen russischen Republik mit einer eigenständigen Verwaltung. Durch den sog. Brotfrieden vom Februar 1918 gelang es Deutschland und Österreich-Ungarn mit deren Exekutive einen Separatfrieden zu schließen. Die Rote Armee vertrieb darauf die Regierung, was zum Einmarsch von Truppen der Mittelmächte führte. Mit dem folgenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk im März 1918 wurde das Gebiet der Ukrainischen Volksrepublik von Russland getrennt und international als eigener Staat anerkannt.

Deutschland, das die Ukraine unter seine Kontrolle bringen wollte, musste mit ansehen, dass es kaum Einfluss auf die Gestaltung der inneren Verhältnisse des Landes gewinnen konnte. Ende April 1918 unterstütze es deshalb einen Putsch des Fürsten Skoropadsky. Da er aber nur die Interessen der adligen Landbesitzer wahrnahm und in der Bevölkerung keine Unterstützung erhielt, weil er wieder zur zaristischen Verwaltungsstruktur zurückkehrte, besetzte das kaiserliche Deutschland die Ukraine. Mit dem Ende des 1. Weltkrieges musste es sich wie auch Österreich-Ungarn aus der Ukrainischen Volksrepublik zurückziehen.

Der Ukrainische Nationalrat, der die bürgerlichen Kräfte repräsentierte, übernahm wieder die Führung. Nach dem die Rote Armee im Januar 1919 Kiew eingenommen hatte, rief sie die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik aus. Der Ukrainische Nationalrat hielt an der Ukrainische Volksrepublik fest, musste aber im Februar 1920 kapitulieren, nach dem die Bolschewiki die gesamte Ukraine erobert hatten. Teile der bürgerlichen Kräfte gaben nicht auf und kämpften im 1919 von Polen gegen Sowjetrussland begonnenen Krieg an der Seite der ersteren. Im Frieden von Riga im März 1921 wurde der westliche Teil der Ukraine Polen zugeschlagen. Die ukrainischen Militärverbände wurden aufgelöst. Die Ukrainer bildeten in Polen eine Minderheit, die unterdrückt wurde. Sie erhielten volle staatsbürgerliche Rechte nur, wenn sie sich als Kämpfer gegen Sowjetrussland einsetzen ließen.

Die Ukraine als Teil Sowjetrusslands

Im Gefolge der Oktoberrevolution entstand parallel zur Ukrainischen Volksrepublik um Charkiw die Ukrainische Sowjetische Volksrepublik, die sich als autonome Republik innerhalb Sowjetrusslands verstand. Ihr war ebenso wie den etwa zur gleichen Zeit entstandenen drei Räterepubliken Donezk-Kriwoier, Odessa und Krim nur ein kurzes Leben beschieden. Sie wurden nach Vorstößen der Weißen Truppen zerrieben.

Drei dieser Gebiete wurden Anfang 1919 der neugegründeten Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) eingegliedert. Nach Ansicht der Bolschewiki sollte dadurch eine Gegengewicht zu der stark von bürgerlichen Kräften dominierten West-Ukraine geschaffen werden. Im Osten des Landes des Landes, besonders im Donbass, stieß diese Entscheidung nicht auf ungeteilte Zustimmung. Dort gab es starke Abspaltungstendenzen zu den russischen Gebieten.

Die Krim-Republik blieb autonom, mit Nähe zum osmanischen Reich, das allerdings nicht mehr lange existierte. Nach einer kurzer Besetzung durch die deutsche Armee und anschließender Eroberung durch Weiße Truppen wie Alliierte Verbände wurde sie schließlich von der Roten Armee eingenommen und im Jahre 1921 als Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR Krim) Teil Sowjetrusslands. Ende 1922 wurden beide Sowjetrepubliken Teil der Sowjetunion. Die USSR hieß nunmehr Sozialistische Sowjetrepublik Ukraine (SSR Ukraine).

Die SSR Ukraine erlebte anfangs einen großen Industrialisierungsschub, der vor allem im Süden des Landes stattfand. Anfang der 30er Jahre im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft brach im Land eine große Hungersnot aus, der mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen[2].

Mit dem sog. Hitler-Stalin-Pakt holte sich die Sowjetunion die Gebiete zurück, die sie mit dem Vertrag von Riga an Polen abgegeben hatte. Sie wurden in die SSR Ukraine integriert.

Im zweiten Weltkrieg kämpften ukrainische Bataillone auf beiden Seiten, der faschistischen wie der sowjetischen. Die mit Nazi-Deutschland verbündeten Verbände gründeten einen eigenen Staat und gerieten so in Konflikt mit den Nazis. Diese nahmen ihren Führer Bandera gefangen. Sie lösten allerdings nicht deren Truppen auf, sondern setzten sie nach einer Umstrukturierung weiter für ihre Zwecke ein.

Ein besonderes Schicksal erlitten am Ende des Zweiten Weltkrieges die Krimtartaren, die im Süden der Ukraine beheimatet waren. Sie galten in den Augen der Sowjetführung als Unterstützer der Wehrmacht obwohl bei ihnen der Anteil an Kollaborateuren nicht größer war als bei anderen Sowjetvölkern. Sie wurden nach Sibirien deportiert. Dort starben zehntausende unter widrigen Bedingungen.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine territorial neu strukturiert. Die ASSR Krim wurde aufgelöst. Das Gebiet wurde in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik integriert und hatte in ihr den Status einer Verwaltungseinheit[3]. Ein Teil der Bevölkerung der West-Ukraine, insbesondere Kräfte, die mit den Nazis zusammengearbeitet hatten, forderten die Unabhängigkeit der Ukraine. Sie bildeten im Untergrund die sog. Aufstandsarmee, die kurzzeitig etwa die Hälfte der Ukraine kontrollierte. Sie wurde 1954 durch die Sowjetarmee und anderen Sicherheitsorganen endgültig zerschlagen.

Im gleichen Jahr ‚schenkte‘ Crustschow der Ukraine die Krim. Bis Anfang der 70er Jahre erlebte die Ukraine wirtschaftlich einen großen Aufschwung. Dann trat Stagnation ein.

In den Nachkriegsjahren schwankte die Politik in der Ukraine stetig zwischen den beiden Polen eines liberalen und eines restriktiven Umgangs mit der ukrainischen Sprache und Kultur, jeweils abhängig von den aktuellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten.

Unabhängigkeit der Ukraine

Im Juli 1990 verabschiedete das Parlament der SSR Ukraine eine Erklärung zur Souveränität des Landes. In einer Volksabstimmung im August 1991 wurde der Unabhängigkeit mit großer Mehrheit zugestimmt. Das Parlament verlieh im Dezember 1991 dem Votum Gesetzeskraft.

Die ursprünglich skeptische Haltung der meisten Bürger der SSR Ukraine gegenüber einer Unabhängigkeit schlug um, als es im August 1991 in Moskau wenige Tage vor der Volksabstimmung zum Putsch eines Teils der Armee gegen Gorbatschow kam.

Im Dezember 1991 schlossen in der damaligen Hauptstadt Kasachstans Alma-Ata elf der ehemaligen Sowjetrepubliken, die sich für unabhängig erklärt hatten, einen Vertrag zur Auflösung der Sowjetunion. Sie sicherten sich gegenseitig die territoriale Integrität wie Unverletzlichkeit der Grenzen zu. Signatarmächte waren u. a. Russland und die Ukraine.

Kaum unabhängig geworden, geriet die Ukraine in den Focus der US-Geostrategen. Die USA setzten seit den 2+4 Verträgen auf eine enge Zusammenarbeit der Ukraine mit Polen. Diese Verbindung war als Gegengewicht zu einer möglichen engen Kooperation Deutschlands und Russlands gedacht.

Um geopolitische Ambitionen Deutschlands von vornherein zu unterbinden, hatten die USA als Preis für die Souveränität von Deutschland verlangt, das es nach dem Anschluss der DDR in der NATO bleiben müsse[4]. Damit besaß die US-Administration einen Hebel, um die Integration der europäischen Länder in die EU, die ab 1993 begann, kontrollieren zu können.

Die Geschwindigkeit, mit der die Trennung von der Sowjetunion vollzogen wurde, ließ den Bürgern wie den Politikern der Ukraine keine Zeit, sich darüber zu verständigen, was denn genau unter Unabhängigkeit zu verstehen sei[5]. Auch in den folgenden Jahren gelang es ihr nicht, ihre außenpolitischen Leitsätze zu konkretisieren.

Probleme einer eigenständigen Politik

Der erste Präsident der Ukraine, Krawtschuk, privatisierte eine Vielzahl von Staatsunternehmen über die Ausgabe von Anteilsscheinen. Wer den Wert der Unternehmen kannte, kaufte diese billig auf. Die Oligarchen entstanden.

Insgesamt verfolgte Krawtschuk ähnlich wie Jelzin in Russland eine neoliberale Politik. Die Schocktherapie führte dazu, dass große Teile der Bevölkerung ihren Arbeitsplatz verloren und verarmten. Die Inflationsrate lag bei knapp dreitausend Prozent.

Krawtschuk übergab Russland nach langem Zögern 1994 die noch im Land befindlichen Atomwaffen. Bereits wenige Monate zuvor hatte er einen Teil der Schwarzmeerflotte aus wirtschaftlichen Gründen an Russland verkauft und mit dem Land einen langjährigen Pachtvertrag zu deren Stationierung auf der Krim abgeschlossen[6].

Krawtschuk wurde angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage gestürzt und nach einer Parlamentswahl im August 1994 durch Kutschma ersetzt. Dieser wollte eine marktwirtschaftliche Politik verfolgen, deren Auswüchse durch sozialstaatliche Maßnahmen abgefedert werden sollte. Außenpolitisch wollte er nach allen Seiten offenbleiben.

Im Dezember 1994 wurde von Russland, der USA und Großbritannien mit den Atomwaffen besitzenden Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen waren im sog. Budapester Abkommen vereinbart, dass sie ihre Nuklearwaffen an Russland übergeben müssten. Ihnen wurde im Gegenzug die Unabhängigkeit und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen garantiert. Auch Frankreich und China erklärten im Nachgang ihre Zustimmung zu dem Memorandum.

In der 1996 nach jahrelangen Debatten verabschiedeten Verfassung wurde die Unabhängigkeit der Ukraine festgeschrieben. Die Krim erhielt einen Autonomiestatus.

Etwa um das Jahr 2000 entwickelten sich in der ukrainischen Regierung Spannungen. Der von Kutschma als Ministerpräident berufene Janukowitsch wollte nicht alle Auflagen des IWF umsetzen. Er betonte ferner, dass aus wirtschaftlichen wie historischen Gründen die Bindung der Ukraine an Russland nicht aufgegeben werden dürfe. Dies alarmierte die USA.

Bei den folgenden Wahlen 2005 siegte zunächst Janukowitsch gegen den eindeutig westorientierten Juschtschenko. Da die Wahl wie auch die Auszählung nach Auffassung der Beteiligten wie auch internationaler Beobachter insgesamt nicht korrekt verlaufen war, wurde das Ergebnis annulliert und eine Neuwahl angesetzt. Bei dieser lag Juschtschenko knapp vorn. Sein Sieg wurde möglich, weil westorientierte Institutionen, wie etwa einige von Georg Soros finanzierte NGOs, massiv in den Wahlkampf eingegriffen hatten. Schulungen zur Wahlkampfführung nach amerikanischem Muster wurden von ihnen organisiert und Propagandamittel wie Flugblätter, Fahnen, Broschüren etc. finanziert. Dies gipfelte in der sog. Orangenen Revolution.

Juschtschenkos Versuch der Westanbindung

Nach der Wahl Juschtschenkos zum Präsidenten der Ukraine trat erneut eine neoliberale Wende ein. Etwa 30% der Posten in den Ministerien wurden neu besetzt, staatliche Subventionen zurückgefahren und dem westlichen Kapital Tür und Tor geöffnet, unabhängig von der Frage, ob dies nicht der eigenen Wirtschaft, insbesondere den Klein- und Mittelbetrieben, schaden würde.

Um die Integration der Ökonomie in den Westen auch machtpolitisch abzusichern, unterzeichnete die Ukraine im Jahre 2005 mit der NATO eine Absichtserklärung, die eine baldige Aufnahme des Landes in die NATO befürwortete. In der Bukarester Erklärung vom April 2008 stellte die NATO der Ukraine, Moldawien und Georgien eine konkrete Beitrittsperspektive in Aussicht. Frankreich und Deutschland legten ihr Veto zu einem von den USA unterstützten sofortigen Beitritt der Länder ein[7]. Ein Beitritt zur NATO hätte zu diesem Zeitpunkt in der Bevölkerung keine Mehrheit gefunden[8].

Ein zunehmend aggressiver Kurs der Regierung gegenüber der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte war die Folge. Juschtschenko und Timoschenko, die Ministerpräsidentin, stellten den Verbleib der Truppen auf der Krim in Frage.

Mit der Finanzkrise 2007/2008 brachen die neoliberalen Blütenträume der Vertreter der Orangenen Revolution zusammen. Zur Finanzierung ihres Haushaltes beantragte die Regierung Kredite beim IWF, der, wie üblich, die Gewährung mit strengen Auflagen verband: Subventionsabbau bei fast allen staatlichen Leistungen an die Bevölkerung, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Aufhebung nahezu aller Preisregulierungen, etc. Die Regierung versuchte, diese Auflagen zu erfüllen. Die Währung fiel dramatisch, die Lohneinkommen gingen zurück. Hinzu kamen Preiserhöhungen beim Gas, da Russland die Sonderkonditionen auslaufen ließ.

Janukowitschs Kurs der Blockfreiheit

Bei den Präsidentenwahlen 2010 gewann Janukowitsch gegen die Vertreterin der Orangenen Revolution Timoschenko. Er versuchte innen- und außenpolitisch einen moderaten Kurs zu entwickeln, der auf sozialstaatliche Maßnahmen setzte und sich der Blockfreiheit verschrieb. Er stützte sich auf die russischsprachigen Landesteile und auf die nicht mit der EU geschäftlich verbundenen Oligarchen. Bindendes Glied dieser Kräfte war die ‚Partei der Regionen‘, die mehr ein loses Bündnis denn eine gefestigte Organisation mit klarer Programmatik ist.

Die neue Regierung stellte 2011 die Kooperation mit dem IWF ein, da dieser für seine letzte Tranche eines noch von der Vorgängerregierung ausgehandelten Kredits starke Kürzungen bei den Renten verlangte. Zur Finanzierung ihres Haushaltes nahm die Ukraine einen vier Milliarden Dollar Kredit bei China auf, dem 2012 weitere Kredite in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar folgten. Als Gegenleistung konnte China große Landflächen pachten und Lieferverträge für große Mengen von Mais und Getreide abschließen. Außerdem kaufte China über Umwege einen Flugzeugträger von der Ukraine sowie weitere militärische Güter.

Die Regierung intensivierte die Wirtschaftsbeziehungen zu Venezuela und Indien. Mit amerikanischen und englischen Firmen wollte sie Fracking Potentiale erschließen, um sich unabhängiger vom russischen Gas zu machen. Russische Großkonzerne versuchten dieses Vorhaben durch den Kauf von ukrainischen Raffinerien zu unterlaufen.

Der Versuch der Ukraine, sich als eigenständiger Staat zu etablieren und allseitig zum eigenen Vorteil Wirtschaftsbeziehungen aufzunehmen, stieß an Grenzen, als das Land entscheiden musste, ob es engere Bindungen mit der EU oder mit der eurasischen Wirtschaftsunion (EaU) eingehen wolle. Mit der EaU verständigte sich die Regierung auf einen Beobachterstatus, mit der EU führte sie die schon 2008 zu Juschtschenkos Zeit begonnenen Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen zu Ende.

Die EU verlangte in diesem Vertrag, dass alle von ihr vergebenen Kredite an die Auflagen des IWF gekoppelt werden müssten und damit an die hinlänglich bekannten Folterwerkzeuge. Außerdem forderte sie eine eindeutige Ausrichtung der Wirtschaft auf den europäischen Markt. Damit wären die in den letzten Jahren aufgebauten Beziehungen zu neutralen Ländern an den Rand gedrängt worden. Exponierte Beziehungen zu Russland wären nicht mehr möglich gewesen, der Beobachterstatus in der EaU hätte aufgegeben werden müssen. Der Erhalt dieser Handelskontakte war für die Ukraine wichtig, weil das Land nur teilweise industrialisiert ist. International konkurrenzfähig ist sie nur in wenigen Sektoren (Flugzeug, Stahl, Kohle, etc.). Deshalb kann es viele seiner Produkte nur in Ländern absetzen, die einen gleichen oder schlechteren wirtschaftlichen Entwicklungstand haben wie sie. Alle Versuche der Regierung, Sonderbedingungen für die Ukraine zu verabreden, wurden zurückgewiesen.

Das Abkommen mit der EU führte nicht nur zum Verlust an wirtschaftlicher Eigenständigkeit für die Ukraine, sondern auch zu einer Einschränkung der politischen Souveränität des Landes Es erklärte die Annäherung in Fragen der „Außen- und Sicherheitspolitik“ als strategisches Ziel der vertragsschließendenden Parteien. Das hieß, die Ukraine musste zukünftig zentrale Fragen ihrer Bündnis- und Militärpolitik mit der EU abstimmen. Das konnte dazu führen, dass die ukrainische Schwarzmeerflotte anderen Verpflichtungen unterworfen sein würde als die russische. Die Gefahr bestand, dass die Krim zum Ort der Auseinandersetzung zwischen EU bzw. NATO und Russland werden konnte[9].

Um diese Probleme zu lösen, schlug Ende 2013 die Regierung der Ukraine unter Asarow vor, trilaterale Verhandlungen mit Russland aufzunehmen. Die EU lehnte dies kategorisch ab. Sie war lediglich bereit, Zugeständnisse bei unwichtige Dingen, bei Übergangsfristen und bei Einzelheiten der Anpassung an die EU Regeln zu machen.

Die kompromisslose Haltung der EU machte der Regierung klar, dass der Vertrag nur zum Nachteil der Ukraine abgeschlossen werden konnte. Sie setzte die Unterzeichnung des vorliegenden Vertragsentwurfes aus.

Die EU wurde in ihrer harten Haltung gegenüber der Regierung Janukowitsch durch die USA unterstützt[10]. Die USA befürchteten, dass ihr ein weiteres Einflussgebiet im eurasischen Raum verloren gehen könnte. Seit 2010 war sie in einigen Ländern der Region ins Hintertreffen geraten[11]. Verbündete Regierungen wurden abgewählt, Militärstützpunkte in Zentralasien mussten geschlossen werden. Außerdem gewann Russland in einigen Regionen der Welt wieder an Einfluss, wirtschaftlich, politisch, aber auch militärisch. Die US Administration wollte unter allen Umständen verhindern, dass die Ukraine als zweitgrößtes Flächenland Europas in die EaU aufgenommen wird. Denn dann wäre es zu einer von den USA schlecht kontrollierbaren neuen Wirtschaftsmacht zwischen der EU und China gekommen.

Es kam zu massiven Protesten von Anhängern der Westanbindung[12], die schließlich zum Maidan Massaker durch die Spezialkräfte der Einheit ‚Berkut‘ Ende November 2013 führten. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, ob auch andere Kräfte an diesem Blutbad beteiligt waren. Fast alle EU- und NATO-Länder solidarisierten sich mit der Opposition. Westliche Politiker schlossen sich den Anti-Regierungsdemonstrationen an.

So in die Ecke gedrängt, versuchte die Regierung Janukowitsch zu retten, was noch zu retten war. Sie schloss mit Russland und China Verträge ab, die Kredite und massive Investitionen versprachen. Der Gaspreis sollte seitens Russlands gegenüber den schon im Vertrag von Charkow 2010 vereinbarten Ermäßigungen um weitere 25% gesenkt werden. Doch diese Abkommen, die sich erst mittel- oder langfristig ausgewirkt hätten, halfen Janukowitsch nicht mehr.

Die Stimmung gegenüber Janukowitsch war endgültig gekippt. Er scheiterte allerdings nicht nur an den militanten Rechten und der ausländischen Intervention in die innergesellschaftlichen Konflikt um die Ausrichtung der ukrainischen Politik, sondern auch an seiner persönlichen Maßlosigkeit. Er wollte eine ähnlich herausgehobene Stellung wie die anderen Oligarchen in der ukrainischen Gesellschaft einnehmen. Er nutzte dazu die Mittel, die ihm als Staatspräsident zur Verfügung standen. Seine Söhne bedienten sich der Korruption, um zu Reichtum und sonstigen Vorteilen zu gelangen. Damit zog er nicht nur den Zorn der ihm gewogenen Oligarchen auf sich, die um ihre Pfründe bangten, sondern verspielte auch die Sympathien seiner Wähler, die seinen Kurs der sozialstaatlichen Verpflichtung und außenpolitischen Neutralität gestützt hatten.

Der Umsturz und die Zersplitterung der Ukraine

Einen Tag nach dem unter Aufsicht von Vertretern der Regierungen Frankreichs, Deutschlands und Polens zwischen Regierung und Opposition in Minsk ein Abkommen über eine bald anzusetzende Wahl und die Rückkehr zur Verfassung von 2004[13] unterschrieben wurde, kam es zur Erstürmung des Parlaments durch paramilitärische Verbände der Opposition. Die Regierung und ihre Anhänger wie alle anderen fortschrittlichen, sozialistischen und kommunistischen Kräfte wurden hernach verfolgt, in den Untergrund getrieben oder aufgefordert, das Land zu verlassen, wollten sie ihr Leben retten. Vom Parlament wurde ohne verfassungsrechtliche Absicherung der gewählte Präsident abgesetzt und eine neue Regierung eingesetzt, die von einem Vertreter der Partei Timoschenkos, Jazenjuk, geleitet wurde[14].

Die neue Regierung entschied, kaum ins Amt gekommen, das von Janukowitsch auf Eis gelegte Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen. Der politische Teil, wurde am 21. März 2014 von Jazenjuk, der wirtschaftliche im Mai 2014 von Präsident Poroschenko unmittelbar nach seiner Wahl unterzeichnet.

Poroschenko, ein illustrer Oligarch, der in verschiedenen Wirtschaftszweigen aktiv war und bereits häufig die Seiten gewechselt hatte, setzte voll auf die Westintegration. Die Partei der Regionen zerfiel.

Unmittelbar nach dem Staatsstreich in Kiew kam es auf der Krim zu Unruhen, die als Protest gegen die Absetzung Janukowitschs organisiert wurden. Russland schickte daraufhin Soldaten ohne Hoheitszeichen auf die Insel, die strategische Punkte besetzten. Es unterstützte den vom Parlament der autonomen Republik Krim wenige Tage später beschlossenen Volksentscheid zur Abspaltung der Region von der Ukraine und nahm jene hernach in das russische Staatsgebiet auf[15].

In der Folge dieses Konfliktes erklärten zwei Regionen, die Bezirke Luhansk und Donezk ihre Unabhängigkeit von der Ukraine. Sie fanden die logistische Unterstützung Russlands. Die Regierung hoffte so den Eintritt der Ukraine in die EU und in die NATO hinauszuzögern. Beide Institutionen hatten es bis dahin immer abgelehnt, Länder aufzunehmen, in denen ungelöste Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen bestanden. Zwischen den beiden Bezirken, die nur einen Teil der von ihnen beanspruchten Gebiete kontrollierten konnten, und der Ukraine entbrannte ein jahrelanger Bürgerkrieg, der trotz internationaler Vermittlung (Abkommen Minsk II) nicht gelöst werden konnte.

Poroschenko erfüllt die Erwartungen nicht

Im inneren verfolgte Poroschenko eine Politik, die sich aus wirtschaftsliberalen und reaktionären Komponenten zusammensetzte.

Er stufte die russische Sprache, die 2012 in neun Regionen als regionale Amtssprache anerkannt worden war, wieder zur Alltagssprache zurück. Die Kommunistische Partei der Ukraine wurde verboten und die Überlebenden der sog. Aufstandsarmee, die bis 1954 gegen die sozialistische Nachkriegsregierung gekämpft hatte, wurden den Veteranen des Weltkrieges gleichgestellt.

Seine Regierung ließ die beim IWF anhängigen Kreditanträge wiederaufleben. Sie sagte zu, alle daran geknüpften Auflagen erfüllen zu wollen. Weitere Kreditaufnahmen folgten. Die Außenverschuldung des Landes stieg enorm.

Die Poroschenko-Regierung verordnete dem Land erneut massive Kürzungen der Sozialleistungen. Wirtschaftlich ging es weiter bergab. Tausende suchten das Land zu verlassen und in den Westen auszuwandern. Die Korruption bekam Poroschenko nicht in den Griff. Große Teile der Verwaltung blockierten die Umsetzung von EU-Vorgaben.

Auch in der Frage der Ost-Ukraine erreichte er keine Fortschritte, weil die Regierung und die sie stützenden reaktionären Kräfte den Gebieten keine Autonomie zugestehen wollten und Kompromisse mit Russland in dieser Fragen ablehnten. Aus dem Donbass flohen die Menschen aufgrund des Krieges und der desolaten wirtschaftlichen Lage in andere Regionen der Ukraine oder nach Russland.

Die EU blieb in dieser Phase politisch weitgehend passiv. Sie wollte die Ukraine vorerst nicht in die EU aufnehmen, weil die Rückständigkeit des Landes sie zu enormen Ausgleichszahlungen verpflichtet hätte. Außerdem hielt sie die Institutionen der Ukraine nicht für EU-konform, d.h. wenig transparent und korrupt.

Die USA vertieften ab 2014 ihre separate Beziehungen zur Ukraine, die fast ausschließlich aus der Lieferung von Militärgütern bestand. Im Gefolge ihrer Unterstützung wurde das ukrainische Militär personell aufgestockt. Es erhielt eine Vielzahl von Abwehrwaffen, an denen die Soldaten durch ehemalige amerikanische Armeeangehörige ausgebildet wurden. Wirtschaftlich halfen die USA dem Land eher nicht.

Die Präsidentschaft Selenski

Das Scheitern des Unternehmers Poroschenkos weckte in der ukrainische Bevölkerung das Bedürfnis, endlich einen Präsidenten zu bekommen, der nicht in die Machenschaften der Oligarchen verstrickt war. Mit dem Komiker Selenski schien ein solcher Kandidat gefunden zu sein. Er wirkte unverbraucht, ging einem ‚normalen‘ Beruf nach und erweckte so den Eindruck, er verstehe die Probleme der „normalen“ Menschen und werde sie auch lösen. Da er durch eine Filmserie populär war, gewann er mit großen Abstand zu den anderen Kandidaten die Präsidentschaftswahl 2019.

Doch seine Wähler wurden schon bald enttäuscht. Es stellte sich heraus, dass auch Selenski einen Förderer unter den Geldmagnaten hatte, Kolomoiskij. Der hatte unter Poroschenko seine Bank wegen krimineller Machenschaften verloren und wollte die nun über Selenski zurückhaben. Dieser versprach ihm dies auch, hielt aber seine Zusage nicht zuletzt auf internationalen Druck nicht ein.

Im Jahr 2019 änderte Selenski mit den Stimmen seiner über die absolute Mehrheit im Parlament verfügenden Partei „Diener des Volkes“ die Verfassung. Er ließ in ihr die „strategische Orientierung der Ukraine zum vollständigen Beitritt zur EU und der NATO“ als unverrückbares Staatsziel verankern. Damit gab die Ukraine ihren seit der Staatsgründung verfolgten Grundsatz der Unabhängigkeit und Blockfreiheit endgültig auf. Seit 2003 war die Eintritt in die NATO als zentrale Aufgabe der Außenpolitik definiert und nur in einem Gesetz geregelt[16]. Folgerichtig ließ er Ende März 2019 den 1997 abgeschlossenen Freundschaftsvertrag mit Russland auslaufen, der sich ohne seinen Einspruch um weitere zehn Jahre automatisch verlängert hätte.

Selenski setze auf Druck internationaler Geldgeber eine Bodenreform durch, die es Ukrainer ermöglicht, Land zu kaufen. Bisher war Grund und Boden Eigentum des Staates.

Im Oktober 2020 fanden in der Ukraine Kommunalwahlen statt, die zu einer verheerenden Niederlage der Selenski Partei führten. Im Westen des Landes erstarkten rechte bis faschistische Parteien wie etwa die Organisation Swoboda, im Osten pro-russische Kräfte. Die Partei der Regionen schien sich unter neuer Flagge („Partei des Lebens“) zu regenerieren. Diese Gegenbewegung wäre sicher noch stärker ausgefallen, wenn die Kommunalwahlen auch auf der Krim und in der Donbass Region stattgefunden hätten[17]. Alles deutete darauf hin, dass bei den kommenden Parlamentswahlen die Selenski-Partei ihre Mehrheit im Parlament verlieren würde.

Ende Oktober 2020 hob das Verfassungsgericht das vom Westen als Voraussetzung für die Vergabe neuer Kredite verlangte Antikorruptionsgesetz auf. Damit hatte er zwei Probleme. Zum einen, weil er sich wie schon seine Vorgänger als unfähig erwiesen hatte, die Geisel der Bestechung zu bekämpfen und so sein Ansehen bei der Bevölkerung weiter schwand. Zum anderen, weil die Gefahr bestand, dass die Ukraine in den Staatsbankrott abgleiten konnte.

Selenski sah die Gefahr seines Absturzes. Den möglichen Sieg der Opposition vor Augen geriet er in Panik. Er verbot im Februar 2021 drei russischsprachige Sender, die seine Politik kritisierten und zur Stimme der Opposition geworden waren. Außerdem ließ er im Oktober den Chef der Oppositionsplattform „Für das Leben“, den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk[18], unter Hausarrest stellen[19]. Ihm hatten auch die drei Sender gehört.

Mit der Veröffentlichung der sog. Pandora-Papers im Oktober 2021 wurde bekannt, dass Selenski steuersparende Anlagen im Ausland besaß.

In der Bundesrepublik sahen der Regierung nahestehender Beobachter schon die Gefahr, dass sich die Ukraine zu einem autoritären Staat entwickeln könne[20]. Weil Selenski auf immer mehr Widerstand stieß, hatte er den Nationalen Sicherheitsrat gestärkt und ihm immer mehr Vollmachten übertragen. In dieses Gremium berief er nur Personen, die ihm nahestanden.

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik setzte er mangels eigener Konzepte den von Poroschenko verfolgten Kurs fort. Ebenso verfuhr er in der Frage der Ost-Ukraine. Obwohl er im Wahlkampf noch versprochen hatte, auch gegen Widerstände im eigenen Land den Bürgerkrieg durch neue Initiativen endlich zu beenden, kam er über verzagte Ansätze wie einen Gefangenenaustausch nicht hinaus. Einen Waffenstillstand konnte er in den eigenen Reihen, resp. gegenüber den stark von reaktionären Kräften bestimmten Militär in der Region, nicht durchsetzen. Nach zwei Jahren Regierungszeit hatten sich die Fronten in der Frage des Donbass weiter verhärtet. Das Abkommen Minsk II konnte wegen der kompromisslosen Haltung der ukrainischen Seite nicht umgesetzt werden.

Im Herbst 2021 schien das Ende Selenskis nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Er taumelte orientierungslos seinem Untergang entgegen. Alle Umfragen bescheinigten ihm einen dramatischen Vertrauensverlust bei den Wählern. Jeder wusste, was das für seine Unterstützer in der EU und in der NATO bedeuten würde.

Ausblicke

Seit der Unabhängigkeit haben sich in der Ukraine zwei politische Richtungen herauskristallisiert, die abwechselnd die Regierung und den Präsidenten stellten.

Die eine tendiert zum Westen, möchte letztlich die Aufnahme in die EU und die NATO und verfolgt einen marktradikalen Kurs. Die andere favorisiert die Blockfreiheit, plädiert für gute Beziehungen zu den EU- Ländern, aber auch zu Russland und zu Dritt-Ländern. Sie setzt zwar auch auf die Marktwirtschaft, möchte deren Auswüchse aber durch sozialstaatliche Maßnahmen mildern.

Zwischen diesen beiden Flügeln steht die Mehrheit der Bevölkerung. Sie entscheidet bei Wahlen jeweils nach ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage, welchem der beiden Lager sie ihre Stimme gibt. Bei jeder Wahl wird sie von der Hoffnung getragen, dass eine neue Regierung endlich eine Verbesserung ihre sozialen Lage bringen wird. Doch schon nach kurzer Zeit muss sie feststellen, dass auch die neuen Köpfe an der Staatsspitze sich wieder nicht um sie kümmern. Im Mittelpunkte des Regierungshandelns stehen wie auch in früheren Jahren allein die Interessen der Oligarchen, einmal die der einen Gruppe, die ihre Geschäfte eher im Westen abwickelt, das andere Mal die derjenigen, die ihre Waren eher in Russland oder in neutralen Ländern absetzt[21].

Die bisherige Stärke der Ukraine, in einem Wechsel der politischen Entscheidungsträger die aktuelle Politik korrigieren zu können, ist aber zugleich ihre Schwäche. Da sich so keines der beiden Lager dauerhaft durchsetzen kann und eine aktive Bewegung von unten fehlt, die Vorgaben für eine klare Ausrichtung der ukrainischen Politik liefert, besteht so die Gefahr, dass sich eine Seite irgendwann zu autoritären Mitteln greift, um ihre Agenda längerfristig umzusetzen.

Die Instabilität des ukrainischen Staates wird durch weitere strukturelle Mängel verstärkt. Die chronische Unterfinanzierung des Haushaltes führt immer wieder zu neuen Kreditaufnahmen bei anderen Staaten und internationalen Institutionen. Da die jeweilige Vergabe an die Erfüllung von Auflagen geknüpft ist, bleibt die Handlungsfähigkeit von Regierung und Parlament beschränkt.

Die Korruption von Staatsangestellten spielt bei behördlichen Alltagsentscheidungen, auf die jeder Bürger angewiesen ist, eine große Rolle.

Da die Gründung der Ukraine 1991 eine Sturzgeburt war, die aus dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist, trägt sie all die Mängel in sich, die schon in der UdSSR bestanden. Ihre Gründung entlang der sowjetischen Verwaltungsgrenzen, hat es nicht möglich gemacht, eventuelle Territorialkonflikte, die früher keine große Rolle gespielt hatten (Krim, Donbass) im Gründungsprozess zu lösen. Da aber auch die Bewohner der Ukraine sich nicht auf die Staatengründung vorbereiten konnten, sondern sie nur per Akklamation bestätigen durften, fehlen elementare Voraussetzungen für einen stabilen Staat.

Die Ukraine ist nicht aus einer Nationalbewegung entstanden, sondern eher ein Zusammenschluss von Regionen, die eine sehr unterschiedlicher historischer Entwicklung haben. Deshalb haben lokale und regionale Netzwerke einen großen Einfluss auf die Umsetzung staatlicher Politik. Sie stellen jeweils eigene Kriterien auf, in welchem Maße Gesetze und Verordnungen im eigenen Einflussbereich wirksam werden. Die Verankerung in einem solchen Zusammenhang ist für viele Entscheidungsträger auf der unteren und mittleren Ebene der staatlichen Institutionen angesichts der Fragilität des Gesamtstaates eine Lebensversicherung.

All diese Momente führen dazu, dass die Ukraine anfällig ist für äußere Einflussnahmen. Insbesondere die USA, aber auch die EU, China und Russland nutzen dies, um ihre geopolitischen Ziele und wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen[22].

H.B., 10.04.2022


[1] Sie unterstand dem Moskauer Patriachat. Seit 2018 hat sie sich gespalten. Ein Teil der Kirche folgt jetzt dem Kiewer Patriachat

[2] Auch in Kasachstan starben in dieser Zeit über eine Millionen Menschen. Insofern ist die Behauptung, hierbei habe es sich um eine gezielte Vernichtungsaktion gegen die Ukrainer, einen Völkermord (sog. Holodomor), gehandelt, wie sie rechtsgerichtete Kreise aus der Ukraine erheben, sicher falsch. Folgt man Atansov, hat Juschtschenkos in seiner fünfjährigen Amtszeit versucht, diese Geschichtsinterpretation als verbindlich für die Gesellschaft durchzusetzen. Vgl. Vitalij Atranasow; Mythenbildung, in: Sapper /Weichsel, Die Ukraine im Wandel, Bonn 2010, S. 466.- Die damalige Repression traf alle, die sich gegen die Kollektivierung und den Sowjetstaat richteten. Details dieser komplizierten Entwicklung können wir in diesem Text nicht erörtern.

[3] „Die Krim wurde zu einem Autonomen Oblast der RSFSR degradiert und fest in der sowjetischen Administration verankert.“ Vgl. Gwendolyn Sasse, Die Krim – regionale Autonomie in der Ukraine, Köln 1988, S. 8

[4] Genscher war davon ausgegangen, dass die Sowjetunion niemals akzeptieren würde, dass der Teil des neuen Deutschlands, der vordem die DDR war, Teil der militärischen Strukturen der Nato werde. Die USA befürchteten, dass Deutschland im Fall einer Verhärtung des sowjetischen Standpunktes eher bereit gewesen wären, die Nato Mitgliedschaft aufzugeben als die als den Beitritt der DDR preiszugeben. Nach intensiven Beratung schlug der Nationale Sicherheitsrat der USA vor, dass Gesamtdeutschland Mitglied der Nato werden sollte, aber auf dem Boden der DDR keine nicht-deutschen NATO-Truppen stationiert werden dürften. Der innenpolitisch geschwächte Gorbatschow akzeptierte diese Formel widerwillig, aber erst, nachdem der Sowjetunion seitens Deutschlands ein milliardenschwerer Kredit zugesagt wurde. Vgl. Jörg Kronauer, Projekt Einkreisung. JW 26/27. Februar 2022

[5] Zum chaotischen Auflösungsprozess der Sowjetunion vgl. Knut Mellenthin, Wie alles anfing, JW 03.03.2022

[6] Die Aufteilung der Schwarzmeerflotte wurde endgültig am 28. Mai 1997 in Kiew zwischen der Ukraine und Russland geregelt. Danach erhielt Russland 81,7% und die Ukraine 18,3% der Marine. Die Ukraine bekam als Ausgleich dafür, dass sie den kleineren Teil der Truppe behielt, eine finanzielle Entschädigung in Höhe von über eine halbe Milliarde Dollar. Diese wurde mit den Schulden des Landes verrechnet. Auch Sewastopol, das in der Sowjetunion wie auch in der Ukraine aufgrund seiner militärischen Bedeutung immer einen Sonderstatus besaß, wurde an Russland verpachtet. Vgl. Mellenthin, Wie …

[7] Zu den geopolitischen Überlegungen von US-Strategen in dieser Zeit vgl. Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Frankfurt am Main 19994,, S. 177ff.

[8] Vgl. Alena Hetmancuk, Mythen und Fakten – Die Ukraine und die Nato, in: Sapper …, S. 354f.

[9] Die Regierung Janukowitsch hatte unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt im Jahre 2010 im Vertrag von Charkow die Pachtverträge für die Schwarzmeerflotte und Sewastopol ab 2017 für 25 Jahre zu verlängern mit einer Verlängerungsoption von fünf Jahren. Im Gegenzug bekam die Ukraine deutlich verbilligt Gas. Mit der Annexion der Krim 2014 wurde die Verträge beidseitig aufgehoben.

[10] US-Staatssekretärin Nuland erklärte 2013, dass die USA seit 1991 etwa fünf Milliarden Dollar eingesetzt habe, um die Entwicklung in der Ukraine in ihrem Sinne zu beeinflussen.

[11] Vgl. David X. Noack, Die Ukraine-Krise 2013/14, Dresden 2014, S. 45 ff.

[12] In der Schlussphase der Verhandlungen konzentrierte sich die EU ganz die Durchsetzung des Abkommens. Politisch blieb sie eher zurückhaltend. Die zögerliche Haltung der EU, sich in dieser Phase, wo die Opposition sich schon lautstark meldete, in die inneren Auseinandersetzung der Ukraine einzumischen, veranlasste die in der US-Administration für Europa zuständige Staatssekretärin Nuland zu der Bemerkung „Fuck Europe“. Sie kannte keine Berührungsängste und traf sich mit allen Kräften der Opposition, auch mit Vertretern von Swoboda. Die Bemerkung entstammte einem illegal abgehörten Telefongespräch, dass sie mit dem Botschafter der USA in der Ukraine, Pyatt, führte.

[13] Änderungen der Verfassung von 2004 waren durch die Vertreter der sog. Orangenen Revolution geprägt. Sie wurden wegen Verfahrensfehlern vom ukrainischen Verfassungsgericht 2010 als nicht rechtmäßig erklärt. Daraufhin galt wieder die Verfassung von 1996. Diverse zwischenzeitlich beschlossene Gesetze mussten angepasst werden.

[14] Obama bestätigte in einem CNN Interview vom 01.02.2015, dass die USA einen ‚Deal‘ zur Machtübergabe in den Ukraine ausgehandelt hatten. Ähnlich auch Nuland in dem oben schon angeführten Telefongespräch.

[15] Es muss Historikern vorbehalten bleiben, die genauen Umstände dieses Prozesses herauszuarbeiten. Details werden derzeit kontrovers diskutiert.

[16] Hetmancuk, Mythen …, S. 352.

[17] Lauterbach hat deshalb die Politik der russischen Regierung bezgl. dieser beiden Gebiete als „Pyrrhussieg“ bezeichnet. Vgl. Reinhard Lauterbach, Krieg in der Ukraine, Berlin 2015³, S. 147

[18] Medwedtschuk ist in der Ukraine kein unbekannter. Er diente schon Kutschma. 2010 sollte er einen vom KP Chef Symonenko geschmiedeten Linksblock, der eher den Charakter einer Volksfront hatte, anführen. Vgl. Andrew Wilson, Schildkröten in der Dämmerzone, in: Sapper …, S. 143

[19] Ob die gegen ihn erhoben Vorwürfe stimmen, können wir nicht beurteilen. Er ist des Terrorismus und des Hochverrats beschuldigt worden, später noch die Steuerhinterziehung hinzu.

[20] Vgl. SWP Aktuell, Nr. 9, Februar 2022, Die Ukraine und Präsident Selenskyj

[21] Wilson beschreibt in seinem Aufsatz eindrucksvoll wie sich die Oligarchen in der ukrainischen Politik durchsetzen und wie sie dazu immer neue Bündnisse eingehen. Um ihre Interessen durchzusetzen. Die meisten Oligarchen wechseln ständig das Lager, je nach dem, wie sie Vorteile für ihre Interessen erreichen können. Vgl. Wilson, Schildkröten …, S. 135ff.

[22] Vgl. Brzezinski, S. 67, 74, 152


 

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