Griechenlands Flüchtlingspolitik: Pushbacks, Folter, Mord
Wie die EU an ihrer Außengrenze ihre Werte verteidigt

Korrespondenz

Bild: Yorgos Konstantinou – griechenlandsoli.com

„Ich verließ Iran 2017 in Richtung Türkei. Auf dem Weg nach Griechenland wurde ich sechsmal zurückgeschoben. Ich versuchte es über den Evros-Fluss und über das Meer, obwohl ich nicht schwimmen kann. Griechische Beamte nahmen mich fest, steckten mich in dreckige Zellen, packten uns in unbelüftete Frachtcontainer, es gab nichts zu essen, keine Toiletten. Sie schlugen mich, Kinder, eine schwangere Frau, zerstörten unsere Handys, nahmen uns Nahrung und Kleidung weg. Ich wurde mit Handschellen gefesselt, geschlagen, es wurde auf mich geschossen, ich wurde Tränengas ausgesetzt, gefoltert und fast umgebracht.“

Dies berichtete Parvin A., eine junge, im Iran von Repression bedrohte Feministin, die es trotz allem schaffte 2020 nach Deutschland zu kommen. Auf einer Veranstaltung am 10.5. im Regenbogenkino in Berlin zur Flüchtlingspolitik in Griechenland war sie anwesend, zusammen mit dem in Athen lebenden Anwalt Achim Rollhäuser. Dieser hatte schon am 6.5. in Hamburg im Curiohaus zu den illegalen Zurückschiebungen („Pushbacks“) berichtet.

Parvin A. war es gelungen ihr Handy zu verstecken und Fotos und Videos von der brutalen Behandlung an der griechischen Grenze zu machen. Wie aus ihrem Bericht hervorgeht, versuchen die griechischen Grenzbeamten, die maskiert auftreten, alle Beweise zu vernichten. Umso wichtiger ist ihr Bildmaterial, mit dem sie Griechenland vor dem UN-Menschenrechtskomitee verklagt.

Europäischer Wert: Rechtsstaatlichkeit…

Einer der zentralen Werte, die die EU vor sich herträgt und die sie zu verteidigen vorgibt, ist die Rechtsstaatlichkeit. So gilt zum Beispiel für die EU-Länder die Genfer-Flüchtlingskonvention, nach der keine geflüchteten Personen an der Grenze zurückgewiesen werden dürfen: „Das bereits 1951 in der Genfer Flüchtlingskonvention erwähnte Refoulementverbot (vom französischen refouler – zurückweisen) ist ein im Völkerrecht verankerter weltweit gültiger Grundsatz. Er untersagt es Staaten, Personen in Länder zurückzuführen, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverstöße drohen.“ (Deutsche Welle: Wann sind Pushbacks an der EU-Außengrenze illegal? | Europa | DW | 07.10.2021) Die EU hat diese Bestimmung in der Richtlinie 2013/32/EU umgesetzt, in der es heißt: „Bedienstete, die als erste mit Personen in Kontakt kommen, die um internationalen Schutz nachsuchen, (…) sollten in der Lage sein, Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die sich im Hoheitsgebiet einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen der Mitgliedstaaten befinden und die internationalen Schutz beantragen, relevante Informationen zukommen zu lassen, wo und wie sie förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen können. Befinden sich diese Personen in den Hoheitsgewässern eines Mitgliedstaats, sollten sie an Land gebracht und ihre Anträge nach Maßgabe dieser Richtlinie geprüft werden.

Bild: Yorgos Konstantinou – griechenlandsoli.com

…und die Realität

Kommen also Geflüchtete z.B. übers Meer oder den Grenzfluss Evros auf griechisches Hoheitsgebiet, müssen sie einen Antrag stellen können, der dann von einer zuständigen Stelle geprüft wird. Das wäre rechtsstaatlich und würde den EU-Werten entsprechen. Nun wird aber seit Jahren immer wieder berichtet, dass in griechischen Hoheitsgewässern sogenannte Pushbacks stattfinden, dass also Geflüchtete abgefangen und, ohne jede Möglichkeit einen Antrag zu stellen, auf türkisches Hoheitsgebiet zurückgeschoben werden (also „pushed back“). Es geht dabei nicht um wenige Einzelfälle, sondern um Tausende. Achim Rollhäuser schätzt die Anzahl der Zurückgeschobenen alleine für das Jahr 2020 auf etwa 10000.

Die griechische Regierung leugnet das beharrlich und behauptet, das sei alles türkische Propaganda. Um die Beobachtung und Dokumentation dieser illegalen Aktionen zu verhindern oder stark zu erschweren, erließ das griechische Parlament im September 2021 ein Gesetz, das NGOs, die Geflüchteten auf See helfen wollen, kriminalisiert. „Die Menschenrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatović kritisierte, damit würden ‚die lebensrettende Tätigkeit von NGOs und deren Fähigkeit, die Einhaltung der Menschenrechte in der Ägäis zu überwachen, einschneidend behindert‘ “.
(Blogbeitrag: „Die kurzen Beine des Kyriakos Mitsotakis“ aus monde-diplomatique.de)

Um so wichtiger ist, dass die Iranerin Parvin nicht nur davon berichten konnte, dass sie insgesamt sechsmal in die Türkei zurückgeschoben wurde, sondern auch Bilder zeigen konnte, die sie heimlich mit ihrem Handy aufgenommen hatte.

Wie Achim Rollhäuser berichtete, ist eine übliche Praxis, dass die griechische Küstenwache Flüchtlingsboote auf hoher See aufbringt, die Menschen auf Flöße setzt, sodass diese mit einer entsprechenden Meeresströmung zur türkischen Küste zurückgetrieben werden. Bei diesen Aktionen kentern auch Boote oder Flöße und Menschen ertrinken. Achim Rollhäuser nannte das Mord, weil solche Unfälle bewusst in Kauf genommen werden, obwohl man weiß, dass viele Geflüchtete nicht schwimmen können.

Parvin A. erzählte auch, dass sie unter den Beamten auch nicht griechisch sprechende Personen wahrgenommen habe, sie nimmt an, dass das EU-Beamte aus anderen Ländern waren. Dass die EU Bescheid weiß, belegt spätestens der Rücktritt von Fabrice Leggeri, dem Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, im April dieses Jahres. Er konnte nicht mehr leugnen, dass er von den Pushbacks wusste und sie zu vertuschen versuchte. „Seine Beamten halfen bei den Pushbacks, so zeigten es die Recherchen von SPIEGEL und Lighthouse Reports, sie orteten und stoppten die Flüchtlingsboote, den Rest überließen sie den griechischen Beamten.“ (Frontex-Chef Leggeri tritt zurück – DER SPIEGEL)

Bild: Yorgos Konstantinou – griechenlandsoli.com

Sie nahm noch eine weitere Gruppe nicht griechisch sprechender Menschen wahr, die sie „Sklaven“ nannte: Geflüchtete, die von den griechischen Grenzbeamten rekrutiert werden, um mit ihnen zusammen die Drecksarbeit zu erledigen, d.h. andere Geflüchtete festzunehmen, zu misshandeln usw. Als Gegenleistung wird ihnen versprochen, dass sie nach drei Monaten einen Asylantrag stellen dürfen. Welch menschenverachtender Zynismus!

Griechenland setzte 2020 praktisch die Genfer Konvention außer Kraft, indem es erklärte, keine Flüchtlinge aufzunehmen. Dazu erklärte die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, vor Ort auf Griechenlandbesuch: „‘Diese Grenze ist nicht nur eine griechische Grenze, es ist auch eine europäische Grenze‘. Sie dankte dem Land dafür, in diesen Zeiten der ‚europäische Schild‘ zu sein.“[EU – EU-Spitze dankt Griechenland: „Europäischer Schild“ – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)]

Und von der Leyen ist nicht die einzige: „Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis machte klar, dass sein Land an der bisherigen harten Linie gegen Migranten festhalten werde. ‚(…)unsere Nachricht ist klar: Kommt nicht illegal nach Griechenland, versucht es nicht.‘ Die aktuelle Lage bezeichnete er als Bedrohung für sein Land und die gesamte EU. Der konservative Politiker empfing am Dienstag neben von der Leyen und [EU-Ratspräsidenten] Michel auch den Präsidenten des Europaparlaments, David Sassoli, und den kroatischen Premier Andrej Plenkovic an der Grenze zur Türkei.“ (ebenda) Diese PolitikerInnen, die in ihren Sonntagsreden die Verteidigung der europäischen Werte hochhalten, wissen also genau Bescheid, was an der EU-Außengrenze vor sich geht.

Wenn Mitsotakis sagt, die Geflüchteten sollen nicht illegal nach Griechenland kommen, unterstellt er, es gebe eine legale Möglichkeit einzureisen und Asyl zu beantragen. Aber das wird durch die Pushbacks gerade verhindert. Wie Parvin A. in Berlin sagte: „Wir würden gerne durch die Tür gehen. Aber die Tür ist versperrt. So müssen wir versuchen durch das Fenster einzusteigen.

Während sie schon seit drei Jahren auf die Anerkennung als Asylbewerberin wartet, sieht sie, wie die geflüchteten Menschen aus der Ukraine nicht nur „durch die Tür“ gehen, sondern auch sofort als Geflüchtete anerkannt werden, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis bekommen usw. Nicht, dass sie das falsch fände, im Gegenteil, so müssten auch die anderen Geflüchteten behandelt und nicht als Flüchtlinge zweiter Klasse eingestuft werden.

Der Videomitschnitt der Veranstaltung am zehnten Mai im Regenbogenkino ist abrufbar unter:

Die Stimme einer Geflüchteten | griechenlandsolidarität

„Spiegel“-Bericht über Pushbacks: Pushbacks in Griechenland, Kroatien, Polen: Europas Sozialdemokraten fordern Vertragsverletzungsverfahren – DER SPIEGEL


aus: Arbeiterpolitik Nr. 4/5 2022

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