Im Gegensatz zur Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist bei uns die heutige Generation aufgewachsen in einigermaßen sozialer Sicherheit, die eine Individualisierung zur Folge hatte. Nicht geformt durch Streikerfahrungen, steht sie vor wachsenden Problemen. Bei den Wahlen in NRW wurde zum Thema Energieversorgung sinkendes Vertrauen in die Parteien festgestellt. Die Inflation macht besonders dem ärmeren Teil der Bevölkerung Sorgen, doch letztlich allen: Nicht nur die Preise für Benzin, Diesel, Kohle, Gas- und Strompreise steigen erheblich [1] – durch den Verzicht auf Öl- und Gaslieferungen aus Russland – sondern praktisch alle Waren, besonders auch die der Nahrungsmittel. Und nun kürzt Russland von sich aus selber die Gaslieferungen.
Besonders für Alleinerziehende, Leiharbeiter, Minijobber und nicht wenige Rentner ist es schwierig geworden, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Einmalzahlungen sollen einen Sozialstaat vortäuschen und die Menschen ruhig stellen. Eine „Ausgleichspauschale“ ist für Erwerbstätige vorgesehen, nicht aber für Rentner. Die Erzieherinnen konnten mit ihrem Streik eine Gehaltserhöhung erreichen. Doch weil ihre Zahl so gering ist, können nicht alle Kinder in den Kitas aufgenommen werden. Die Überbelastung des Personals bleibt und auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder kann so nicht genügend eingegangen werden. In Bremen solidarisierten sich die Beschäftigten der evangelischen Kitas, die den gleichen Belastungen ausgesetzt sind, mit dem streikenden Personal der städtischen Einrichtungen. Hatte bisher nur ver.di Streiks organisiert, auf den Flughäfen, dann Warnstreiks Kindertagesstätten und mit dem Marburger Bund auch von Ärzten in den Krankenhäusern, so hat die IGM nun im Stahlbereich Warnstreiks durchgeführt. Die Inflation führt zum solidarischen Handeln. Beim Stahlwerk Arcelor-Mittal in Bremen fand ein Warnstreik statt, der die Produktion total stoppte; nur der Notdienst arbeitete noch. Auf dem Hintergrund überaus hoher Gewinne des Unternehmens und der von der Inflation aufgefressenen letzten Lohnerhöhung von 2019 fordert die IGM 8,2 %. Nach jahrzehntelanger Ruhe an der Streikfront im Hafen legten auch die Hafenarbeiter wiederholt die Arbeit für einen Warnstreik nieder. In der Nordsee warten Schiffe auf ihre Abfertigung. Massenhafte Überstunden haben die Belegschaften hinter sich. Und das Angebot der Unternehmer bedeutet für sie Reallohnverlust. 70 % der Hafenarbeiter sind organisiert; von ihnen ist zwar keine Eigeninitiative gekommen, aber gemeinsames Handeln. Die steigenden Lebenshaltungskosten haben zu solidarischem Handeln von Lohnabhängigen geführt.
Prekär ist auch die Lage der Beschäftigten in der Automobilindustrie. Halbleiterengpässe gehören inzwischen zum Alltag. Fehlende Mikrochips legen die hiesige Produktion zeitweise lahm: Eine Auswirkung der Korona-Pandemie. Denn hergestellt werden sie in Billigproduktion in Entwicklungsländern, die fast ohne Gegenmittel der Pandemie ausgesetzt sind. Noch können die Beschäftigten in der Automobilindustrie ihren relativ hohen Lebensstandard durch die Billiglöhne bei den Zuliefererunternehmen in Entwicklungsländern beibehalten, und damit auch ihre individualistische Einstellung und entsprechend ihr kleinbürgerliches Denken. Und es ist gerade das Auto, das ihnen ein größtmögliches Maß an individuellem Komfort verspricht. Doch die Konkurrenz der Unternehmen um Absatzmärkte verschärft sich, und der Klimawandel erfordert ein Sinken der CO2-Abgase.
Um den Profitbereich zu vergrößern und die Staatsausgaben möglichst zu verringern wurden schon vor Jahrzehnten Kliniken und Teile des Schienenverkehrs privatisiert, Schienenwege teilweise stillgelegt und Sozialausgaben beschränkt. Gleichzeitig wird der Staatshaushalt mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr belastet – nicht für den Klimaschutz, der es nötig hätte. Nun muss der so lange vernachlässigte Schienenverkehr ausgebaut werden, außerdem Brücken, Schulen, Kindertagesstätten, Windenergieanlagen, Fahrradwege. Eingestellt werden müssten viele Pädagogen. Vereinzelt wird schon Studierenden eine Klassenleitung anvertraut. Eine Unterstützung der Armen kann die Inflation nicht ausgleichen. Soziale Politik propagieren und durchführen sind zweierlei.
Die Ampelregierung sucht die Lösung der Probleme in der Aufnahme von Krediten. Die verdeckte Staatsverschuldung Deutschlands betrug 2021 schon 2500 Milliarden Euro und wird Endes dieses Jahres noch weiter gewachsen sein. Das heißt: Die Lösung der Probleme wird weiter in die Zukunft verschoben. Während der Reichtum in der herrschenden Klasse wächst, vergrößert sich die Anzahl der Armen.
Zur Entwicklung der sozialen Verhältnisse der Lohnabhängigen
In allen Bereichen der Gesellschaft, von der Produktion bis zur Gebäudereinigung, vom Krankenhaus bis zur Naturbeobachtung findet eine Digitalisierung statt. Die Ampelkoalition sieht in ihr nicht zuletzt betriebliche Rationalisierung – auf Kosten der Lohnabhängigen: Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Intensivierung der Arbeit. Dafür spricht die Absicht der Koalitionäre, das Arbeitszeitgesetz zu ändern, das bisher eine Tageshöchstarbeitszeit von acht Stunden (bei einer Sechstagewoche) bzw. zehn Stunden einschließlich Überstunden festlegt. Arbeitgeber sollen diese Grenze künftig überschreiten dürfen, wenn Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge dies vorsehen. Reinigungskräfte können sich ihrer Arbeitsplätze nicht sicher sein: sie werden schon oft durch Automaten ersetzt.
In der Produktion ersetzt Künstliche Intelligenz Personal. Gesucht werden allerdings Fachkräfte wie Ingenieure. Ergeben sich in der Produktion weniger Unterbrechungen, so wird die Tätigkeit der verbleibenden Belegschaft verdichtet – die Beschäftigten also stärker belastet. Digitale Vernetzungen bestehen auch zwischen Betrieben, und darüber hinaus zwischen Unternehmen. Mögliche massenhafte Produktion durch die Digitalisierung erhöht den Konkurrenzkampf der Unternehmen und fördert das Entstehen von Monopolen. So wirkt technischer Fortschritt zum Nachteil der Lohnabhängigen.
Bei den großen Automobilkonzernen hat zusätzlich die Umstellung der Produktion auf den Elektroantrieb der Fahrzeuge begonnen [2]. Fällt der Verbrennungsmotor weg, so werden bei den Konzernen und ihren Zulieferern viele Arbeitsplätze, wenn nicht ganze Zulieferer-Betriebe überflüssig; denn viele Teile müssen nicht mehr hergestellt werden.
Werkverträge und Leiharbeit wollen die Koalitionäre mit der Begründung nicht antasten, dass es sich dabei um (für sie) „notwendige Instrumente“ handle. Die sachgrundlose Befristung bleibt gleichfalls erhalten, und Kettenverträge werden nur auf sechs Jahre beschränkt. In Ausnahmefällen gilt selbst diese Befristung nicht: bezeichnend für die „Freiheit“ in dieser Gesellschaft. Haben die Unternehmer bei der Digitalisierung steigende Gewinne im Kopf und die Suche nach Ingenieuren, so sind die lohnabhängig Beschäftigten sich nicht mehr sicher um ihren Arbeitsplatz. Der Ersatz menschlicher Arbeit ist die Folge jedes technischen Fortschritts in der Produktion. Nur die Ausweitung des Absatzmarktes lindert die Folgen für die Lohnabhängigen, mehrt den Reichtum der Unternehmer. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in der Pandemie vertieft.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit gilt immer noch nicht für alle Bereiche. Vor allem die Armut im Alter lässt sich nicht mit einem Mindestlohn beseitigen, wenn ein zu diesem Stundenlohn arbeitender Mensch selbst nach 45 Jahren Vollzeittätigkeit am Ende seines Berufslebens wegen einer zu geringen Rente ergänzend auf die Grundsicherung angewiesen ist. Aber ein Opfer bringen, ist ja „ehrenvoll“. Die Sorgearbeit ist während der Pandemie hauptsächlich bei den Frauen hängen geblieben. Die besonders stark von Armut betroffenen Alleinerziehenden will man mittels einer Steuergutschrift entlasten. Doch wer zu wenig Geld verdient und deshalb keine Einkommenssteuer zahlt, hat davon nichts.
Profitorientierung ist auch im Pflegebereich:
Durch die Coronakrise ist diese Realität in privat betriebenen Pflegeheimen und Krankenhäusern bloßgelegt worden. Bekannt sind die dortigen Mängel vielfach seit Jahrzehnten: vernachlässigte Bewohner, die in ihren Ausscheidungen liegen gelassen wurden, Personalmängel und überlastetes Personal (z. T. ohne Schutzausrüstung) sowie kräftezehrende Arbeitsbedingungen. Die Kontrollen der Heime verliefen oft oberflächlich. Kein Wunder, wenn wie z. B. im Kreis Cloppenburg ein Kontrolleur für 72 Heime zuständig ist. Häufig fand nicht einmal eine Plausibilitätsprüfung statt, ob die in den Unterlagen angegebenen Leistungen mit dem vorhandenen Personal überhaupt zu schaffen sind. Trotz langer Mängellisten blieben Heime geöffnet. Denn, wenn Gewinne gemacht werden sollen, müssen die Kosten gesenkt werden.
Bekannt sind auch die bei der Residenzgruppe aufgetretenen extremen Missstände in der Altenpflege. Versuche des Unternehmens, kritische Betriebsräte zu entlassen sind schon mehrmals vor Gericht gescheitert. Besonders in Berlin trug aktives Personal Probleme im Krankenhaus in die Öffentlichkeit. Proteste gab es auch in Hamburg, und in Hannover haben Assistenzärzte der Diakovere wegen der schlechten Arbeitsbedingungen Alarm geschlagen: Sie fürchten um die Gesundheit der Patienten. Die staatlichen Kliniken stehen seit Jahren finanziell unter Druck, weil die Länder ihren Investitionskostenverpflichtungen nicht nachkommen. Die Vorstellung, dass es der Markt schon richten werde, hat nicht funktioniert.
Der Historiker und Mediziner Karl Heinz Roth sieht eine Notwendigkeit als Lehre aus der Corona-Pandemie: Die Pflegeeinrichtungen müssen dem Gewinnstreben internationaler Konzerne entzogen werden. Denn die dortigen weltweit prekären Arbeitsverhältnisse sind der Hauptgrund für jene Zustände, die es den Viren leicht gemacht haben, so verheerend zu wirken.
Inzwischen hat die öffentliche Auseinandersetzung um den Pflege- und Gesundheitsbereich im Pflegebereich zur Festlegung von Mindestlöhnen (je nach Qualifikation zwischen 12,55 € und 15,40 €) und Gehaltserhöhungen geführt. Ein Ausgleich für die Inflation? Der Mangel an Pflegekräften lässt Unternehmen den Beruf aufwerten, die Verantwortung wird erweitert. Zugelassen werden Pflegeeinrichtungen nur noch, wenn der Tariflohn gezahlt wird. Doch die Arbeitsbelastung der Ärzte und des Pflegepersonals ist so groß, dass die Arbeitsplätze hier nicht anziehend sind.
Pflegekräfte fehlen weltweit. Sie werden von Deutschland aus auch weltweit angeworben. In der Bremer Diakonissenanstalt arbeitet inzwischen Personal aus 30 Nationen. Bundesweit sind 22 300 Pflegestellen nicht besetzt. Seit 2016 hat sich die Zahl verdreifacht. Die Abwerbung von Pflegekräften im Ausland verschlechtert natürlich die Versorgung der Patienten in ihrem Herkunftsland.
Und wie sieht es mit der Mitgliedschaft in den Gewerkschaften aus?
Vergleichen wir die Bereiche industrielle Produktion und menschliche Betreuung, so ist festzustellen, dass – abgesehen vom handwerklichen Bereich – in der Produktion Arbeitskräfte mehr und mehr Arbeitskräfte durch die Digitalisierung ersetzt werden. Und die Profite steigen dabei, wie sich auch in der Pandemie gezeigt hat. Im Bereich menschliche Betreuung sehen wir das Gegenteil: Angefangen in den Kindertagesstätten, dann im Bereich Bildung, Ausbildung, in den Krankenhäusern und im Bereich Betreuung alter Menschen fehlen viele Kräfte, wie besonders in der Pandemie deutlich wurde. Die Betreuung von Menschen liegt überwiegend im staatlichen Bereich, wo es an Geld mangelt.
Liegt also eigentlich eine Arbeitsperspektive für junge Menschen im Bereich Betreuung, so muss für die Realisierung dieser Perspektive allerdings gekämpft werden. Die deutsche Wirtschaftskraft ist die stärkste in Europa und so stark, dass sie die Betreuung von Menschen durch Menschen ohne Weiteres bezahlen kann. Was dem im Wege steht, ist die Aneignung des Profits durch die Kapitaleigner.
Wurde in der Nachkriegszeit noch verbreitet mit den Gewerkschaften um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine Erhöhung der Löhne gekämpft, so sehen die Verhältnisse heute anders aus. Der Anteil der Beschäftigten, die in tarifgebundenen Betrieben arbeiten ist auf unter 50 % gesunken. Nur noch 12,4 % der lohnabhängig Beschäftigten sind Mitglied in einer Gewerkschaft und arbeiten auch in einem tarifgebundenen Betrieb. Können wir einerseits von einer Tarifflucht der Unternehmer sprechen, so andererseits von einer Individualisierung der Lohnabhängigen, denen durch die Steigerung ihren Lebensstandards und ihren bislang sicheren Arbeitsplatz Klassenbewusstsein abhandengekommen ist. Die Kapitalseite hat es verstanden, die lohnabhängig Beschäftigten vielfältig zu differenzieren: Bei unterschiedlichem Lebensstandard sind die Gemeinsamkeiten in den Hintergrund getreten.
In was für einer Gesellschaft wir leben, hat sich in der Pandemie und der Inflation offenbart. Der Reichtum einer kleinen Schicht Besitzender wuchs, während die Masse der Lohnabhängigen ihren Lebensstandard einschränken musste, weil die steigenden Preise dazu zwangen und zwingen. Während nach hochqualifizierten Kräfte gesucht wird, werden auch bisherige Facharbeiter durch die Digitalisierung ersetzt.
Eine Reihe von Gewerkschaften wirkt hauptsächlich nur mit ihrem Personal, das mit den Unternehmern verhandelt. Ehrenamtliche gewerkschaftliche Gremien dürfen dann die Entscheidungen der Hauptamtlichen abnicken.
Gut 15 % aller Beschäftigten gaben bei einer Befragung an, Gewerkschaftsmitglied zu sein. Allein die zwei größten Gewerkschaften haben für 2021 100.000 Mitglieder verloren. Die sinkende Tarifbindung wird von mehr als 4/5 der Beschäftigten als negativ gesehen; das führt aber nicht zum Eintritt in die Gewerkschaft. Sehen es die Vorstände nicht als ihre Aufgabe, dieses Problem anzugehen, Mitglieder z. B. durch Kämpfe zu gewinnen? Regelungen haben sie überwiegend der Regierung überlassen.
Bei ihrer Gründung waren die Gewerkschaften Ausdruck der Solidarität der Arbeiter, die in den Fabriken gleichartigen Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren: gleicher Ort und Raum sowie gleiche Zeit begünstigten die Herausbildung von Solidarität. Die Notwendigkeit gemeinsamen Kampfes gegen den sozialen Abbau zeigt sich auch im Zeitalter der Digitalisierung, die die Arbeitswelt stark verändert: Gemeinsame Erfahrungen am Arbeitsplatz gibt es immer weniger: Die lohnabhängig Beschäftigten sind stärker individualisiert, die Klasse ist atomisiert.
Mit Warnstreiks haben in einzelnen Branchen Aktionen gegen eine Verschlechterung der Lebenssituation begonnen. Das ist notwendig. Die Streikenden haben zunächst Solidarität untereinander aufgebaut. Lohnkämpfe reichen aber nicht aus, die Problematik zu lösen. Ein weiterer Schritt ist dann über die Besonderheiten der einzelnen Branchen hinweg die gemeinsame Lage der Lohnabhängigen zu erkennen, was umfassendere solidarische Schritte ermöglicht.
2017 erschien in einem Bericht des Club of Rome (u. a. mit E. U. von Weizsäcker) die Forderung nach Kontrollen und Begrenzungen der Wirtschaft, um mehr Nachhaltigkeit zu erreichen, laut Weizsäcker auch eine Balance zwischen Mensch und Natur. Die schon vor 50 Jahren aufgestellte Forderung nach Begrenzung des Kapitalzuwachses verhallte angesichts des globalen kapitalistischen Konkurrenzkampfes. Erhöhte Produktivität führte zu größerer sozialer Ungleichheit und Zerstörung der Umwelt. Die Profitproduktion selber steht einer Überwindung dieser negativen Folgen im Wege.
13.06.2022
[1] Kraftwerke zahlen inzwischen das Vierfache für Erdgas wie vor einem Jahr. Für die Sicherung der Energieversorgung ist die Bundesregierung offenbar auch bereit, in Kolumbien „blutige Kohle“ zu kaufen. Kanzler Scholz hat deshalb mit dem kolumbianischen Präsidenten telefoniert. Indigene klagen dort immer wieder über Menschenrechtsverletzungen. 2020 wurden 65 Naturschützer und Umweltaktivisten im Lande getötet.
[2] Auch VW hat mit der Produktion von E-Autos begonnen, im Werk Emden.
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