Am 09.05.2022 ist im Alter von 78 Jahren Inge Viett gestorben. Im Rahmen einer Gedenkfeier nahmen politische Wegbegleiter:innen in Berlin von ihr Abschied. Die Redebeiträge und die zwischen ihnen gezeigten Filmsequenzen aus ihrem Leben spiegelten die Vielfältigkeit ihres Denkens und ihrer politischen Aktivitäten wider.
Über ihre frühen Lebenserfahrungen, den Prozess ihrer Politisierung, ihre Motive, den bewaffneten Kampf aufzunehmen und die internen Diskussionen in der Bewegung 2. Juni und der RAF, denen sie angehörte, können andere mehr sagen als wir.
Aufgabe des bewaffneten Kampfes
Mit dem bewaffneten Kampf brach Inge Viett zusammen mit anderen im Jahre 1982. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass dieser Weg in eine Sackgasse geraten sei.
Die Arbeiterklasse habe sich entgegen den früheren Erwartungen nicht zum revolutionären Subjekt entwickelt, so dass der Kampf im Untergrund ohne Bezug zur Realität geblieben sei. Auch entstand keine politische Organisation, die dem bewaffneten Kampf eine strategische Orientierung hätte geben können. Große Teile der linken Kräfte waren Anfang der 80er Jahre nicht mehr bereit, sie zu unterstützen.
Auch der immer perfektionierter agierende Repressionsapparat setzte ihnen Schranken. Sie konzentrierten sich immer mehr auf die eigenen politischen Gefangenen und vernachlässigten andere politische Aktivitäten.
Da Inge Viett nach ihrer Entscheidung, den bewaffneten Kampf aufzugeben, nicht mit einem fairen Prozess in der Bundesrepublik rechnen konnte und ein Leben in der Illegalität ohne Infrastruktur und Einkommen kaum möglich gewesen wäre, entschloss sie sich, mit anderen in die DDR überzusiedeln. Dort lebte sie ein fast ‚normales’ Leben, im Kreise von werktätigen Kolleg:innen.
Als die SED und die Staatsführung der DDR nicht mehr bereit waren, den Sozialismus zu verteidigen, gerieten die Sicherheitsorgane der DDR unter Druck der ostdeutschen bürgerlichen Opposition wie der Politiker:innen der BRD und der westdeutschen Medien. Inge Viett verlor ihren Schutz und wurde verhaftet.
Bezeichnend für sie war, dass sie im Gegensatz zu den anderen Aussteigern in die DDR die von der Staatsanwaltschaft angebotene Kronzeugenregelung nicht in Anspruch nahm. Sie wollte frühere Mitstreiter:innen nicht denunzieren. Eine Kooperation mit der bundesrepublikanischen Justiz hätte für sie außerdem bedeutet, dass sie deren Geschichtsinterpretation dauerhaft übernehmen musste. Die Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Justizbehörden brachte ihr zwölf Jahre Haft ein, deutlich mehr als den anderen in gleicher Sache Angeklagten[1].
Die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit führte sie in diversen Briefen aus dem Gefängnis, die zu einem Buch zusammengefasst wurden und in einer Autobiografie, die kurz nach ihrer Entlassung aus der Haft 1997 veröffentlicht wurde[2]. Über beide Bücher erschien in der Arbeiterpolitik eine ausführliche Rezension[3].
Antiimperialismus und Antifaschismus
Zwei grundsätzliche Überzeugungen bestimmten Inge Vietts politisches Denken von Anfang an. Zum einen der Antiimperialismus. Sie lehnte den Krieg der USA gegen Vietnam kompromisslos ab wie auch alle anderen ökonomischen wie politischen Interventionen der westlichen Mächte in Ländern der sog, Dritten Welt. Sie zog daraus die Schlussfolgerung, die Widerstandsorganisationen und die Befreiungsbewegungen in diesen Ländern aktiv zu unterstützen.
Zum anderen der Antifaschismus. Für Inge Vietts politisches Selbstverständnis war die Erkenntnis prägend, dass ein großer Teil der Eliten der Bundesrepublik bereits im Faschismus Positionen innehatte. Besonders im Staatsapparat und in den Sicherheitsorganen war diese Kontinuität offensichtlich. Sie bestimmte die Ausrichtung der Politik der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Von einem radikalen Neuanfang nach 1945 konnte also nicht die Rede sein.
Diese Eliten prägten in einem hohen Maß ihre Nachfolger im Staatsapparat. Beispielhaft ließ sich dies an Kurt Rebmann aufzeigen, der von Juli 1977 bis Mai 1990 Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof war. Rebmann hatte aufgrund seiner Jugend keine Funktionen im NS-Staat übernehmen können, war aber durch die Erziehung in der Schule, seine frühe Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und seine Zugehörigkeit zur Wehrmacht geprägt[4]. Er sah kein Problem darin, dass Ex-Nazis im Staatsapparat der Bundesrepublik Funktionen übernommen hatten. Sie hätten lediglich die damals geltenden Gesetze angewendet und machten dies auch in der Bundesrepublik so. Auch er teilte diese ‚positivistische‘ Rechtsauffassung. Deshalb sah er für sich auch kein Problem darin, zum Ankläger derjenigen zu werden, die die personelle Kontinuität der Eliten wie die teilweise Übernahme von faschistischen Rechtspositionen in die Bundesrepublik kritisierten[5] und sich deshalb von solchen Richtern nicht verurteilen lassen wollten.
Verhältnis zur DDR
Zu diesen beiden grundlegenden politischen Überzeugungen von Inge Viett kam später noch eine dritte hinzu. Ihre Haltung zur DDR.
Als sich nach dem Anschluss der DDR an die BRD viele Linke von ihren früheren Positionen zur DDR distanzierten, versuchte sie ein differenziertes Bild von dem Land zu zeichnen.
Sie sah aufgrund ihrer Erfahrungen die DDR als sozialistischen Staat, da er Unternehmen und Banken weitgehend verstaatlicht und das Grundeigentum überwiegend sozialisiert hatte. Da aber die DDR nicht als Ergebnis eines revolutionären Prozesses entstanden war, sondern das Produkt der geopolitischen Sicherheitsinteressen der sowjetischen Besatzungsmacht bildete, konnte sich das Potential, das in ihr steckte, nicht entfalten. Inge Viett bezeichnete die DDR als Übergangsgesellschaft, nicht als vollendetes sozialistisches Gemeinwesen.
Die Arbeiter:innen hatten eine Vielzahl von Vorteilen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Arbeitslosigkeit war abgeschafft, eine bescheidene Wohnung für jeden war gesichert, die Versorgung mit Lebensmitteln zwar nicht sonderlich abwechslungsreich aber weitgehend stabil, die Ausbildung wie gesundheitliche Leistungen kostenfrei und die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen für jeden prinzipiell möglich. Die Konkurrenz unter den Beschäftigten war im Alltag gegenüber der in der Bundesrepublik stark reduziert. Aber sie konnten in offener Diskussion kaum eigene Vorstellungen über die Weiterentwicklung der DDR entwickeln. Solidarische Verhaltensweisen kamen so über kollegiale Beziehungen nicht hinaus und wurden gesellschaftlich nur im privaten Bereich gelebt.
Diese Einschätzung verteidigte Inge Viett nach ihrer Entlassung aus der Haft 1997. Sie wahrte die Kontakte zu den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung, wurde dort gleichwohl nie Mitglied. Mit ihnen verband sie die Auffassung, dass die Bundesrepublik nach dem Anschluss der DDR eine Klassengesellschaft geblieben war, die auf Dauer den abhängig Beschäftigten allenfalls das Überleben ermöglichte. Den Ausweg konnte nach ihrer Auffassung nur eine klassenkämpferische Politik aufzeigen, die an den Bedürfnissen der abhängig Beschäftigten ansetzte.
Kommunismus als Ziel
Inge Viett verstand sich als kommunistische Basisaktivistin. Sie setzte sich für einen klassenkämpferischen Block auf den jährlichen Mai Demonstrationen des DGB in Berlin ein, unterstützte zugleich auch die Aufrufe zu den am gleichen Tag stattfindenden Protestaktionen zum revolutionären 1. Mai.
Obwohl Inge Viett klare Positionen in vielen politischen Themen besaß, gestand sie sich immer wieder ein, dass ihr Wissen in vielen Fragen noch mangelhaft war. Antworten suchte sie mit anderen in solidarischer Atmosphäre zu finden. Ihr waren unverbindliche Allgemeinplätze oder dogmatischen Sichtweisen fremd. So nahm sie Mitte der 2000er Jahre an Schulungen teil, die von der Gruppe Arbeiterpolitik mitorganisiert wurden. Es ging um Thalheimers Vorlesungen zur Dialektik, um die Geschichte der Bundesrepublik im Unterschied zu der der DDR und um die Einschätzung, in wie weit die bundesrepublikanische Gesellschaft immer noch durch den Faschismus geprägt war.
Auch wenn sich daraus keine dauerhaft stabilen Beziehungen ergaben, blieb sie dem gemeinsamen Ziel verbunden, eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen.
H.B., 06.07.2022
[1] In ihrem Prozess bestätigte sie allerdings Aussagen von MfS-Mitarbeitern zu den Umständen ihres Aufenthaltes in der DDR. Diese Aussagen brachten ihren Betreuern eine Anklage wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ein und eine halbjährige Untersuchungshaft. Die Vorwürfe ihnen gegenüber wurden schließlich fallen gelassen. Inge Viett bedauerte später ihre Einlassung. Das Gericht wendete gegen das Votum der Staatsanwaltschaft wegen ihrer Äußerungen die Kronzeugenregelung ‚bedingt‘ auf sie an und milderte die sonst zu erwartende Strafe.
[2] Inge Viett, Einsprüche!, Hamburg 1966; Inge Viett, Nie war ich furchtloser. Autobiographie, Hamburg 1991; Vgl. auch einige jüngere Texte von ihr zu den angesprochenen Themen in: Inge Viett – ¡Presente!, Zürich 2022
[3] Vgl. Arpo 1’97, S. 28f.
[4] Im März 1942 hatte er als Student einen Aufnahmeantrag in die NSDAP gestellt und war im September des Jahres aufgenommen worden. Rebmann hatte seine Mitgliedschaft im Nachkriegsdeutschland bei seinen Bewerbungen um einen Posten im Staatsdienst verschwiegen. Michael Sontheimer, Buback und Rebmann mit NS-Vergangenheit, Cicero 9.1.13
[5] Vgl. Arpo 4’97; 46ff.
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