Deprimierend: Bundesweite Demo am 2. Juli in Berlin

Korrespondenz

Der Aufruf lautete: „Wir zahlen nicht für eure Kriege! 100 Milliarden für eine demokratische zivile & soziale Zeitenwende“. Unterschrieben hatten immerhin 30 Organisationen, von IPPNW, über die Falken, den Bundesausschuss Friedensratschlag, Die Linke Niedersachsen bis zu DKP und SDAJ. Zumindest in Hamburg war der Aufruf Wochen vorher schon plakatiert und gut lesbar an vielen Orten aufgehängt worden. Immerhin fuhren aus Hamburg drei Busse zur Demo.

Als ich um halb zwei, also eine halbe Stunde vor Beginn, auf den Bebelplatz kam, verliefen sich vielleicht hundert Menschen auf dem Platz. Um 14 Uhr wurde es etwas voller, aber von einem Massenandrang war nichts zu merken. Es war ein Leichtes Bekannte auf dem Platz zu treffen, dabei hatte ich vorher gedacht, man würde sich unter den Massen schwerlich wiederfinden können. Dann kamen lange Reden. Mir schien, dass die Anwesenden alle Aktive waren aus den verschiedensten politischen Initiativen und eigentlich nicht aufgeklärt werden mussten. Trotzdem reihten sich Beiträge an Beiträge, zur Rüstungskonversion führte eine Frau bestimmt 20 Minuten Details aus, die mir merkwürdig deplatziert vorkamen angesichts der allgemeinen Aufrüstungshysterie und der zunehmenden Gefahr eines Atomkriegs in Europa.

Aber diese Gefahr bewegte offensichtlich kaum jemand über einen engen Kreis hinaus, diese Demonstration als Gelegenheit zum Protest wahrzunehmen. Genauso wenig tat das die gegenwärtige Inflation mit den explodierenden Energiepreisen, von Gewerkschaften waren ein oder zwei Fahnen zu sehen, aber sonst absolute Fehlanzeige. Als der Demozug sich gegen halb vier endlich in Bewegung setzte, beschloss ich, mich an den Rand zu stellen und zu zählen. Ich kam auf 1400, Babys mitgezählt. Es kann sein, dass unterwegs die eine oder der andere dazu stieß, dafür gingen auch welche früher weg bei dem heißen Sommertag. Wenn man einige Hundert rechnet, die von außerhalb kamen, muss man sagen, dass aus Berlin selbst sich praktisch kaum jemand beteiligte. Das bestätigte meinen Eindruck aus Gesprächen mit jungen Leuten aus Berlin, die ich ein paar Tage zuvor gefragt hatte, ob wir uns bei der Demo sehen würden. „Welche Demo?“, war die erstaunte Antwort gewesen. Die „Junge Welt“ spricht von einem Bündnis von „rund 150 Organisationen und Initiativen“, das zu der Demo aufgerufen hatte. Also auf die Anzahl der Teilnehmenden umgerechnet, brachte jede Organisation und Initiative etwa zehn Teilnehmende auf die Beine!

Unterwegs blockierten einige Ukrainer den Zug, so dass wir noch länger in der Sonne schmoren mussten. Die Polizei schien sich nicht sonderlich zu beeilen uns den Weg frei zu machen, da ist sie bei anderen Gelegenheiten flinker. So kam der Zug dann gegen 18h wieder zurück zur Abschlusskundgebung, die dann nochmal über eine Stunde dauerte.

Bemerkenswert die Berichterstattung in der „Jungen Welt“ am Montag, den 4.7.22: „Tausende Menschen stellten sich der geplanten Aufrüstungsorgie und der täglichen Kriegshetze entgegen. (…) Optimistische Schätzungen unter anderem der Veranstalter gehen von rund 4000 bis 6000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus. Die Polizei will nur rund 1400 Demonstrierende gezählt haben.“ Tipp an den jw-Korrespondenten: selber zählen!

In derselben Ausgabe zitiert die „Junge Welt“ die Organisatoren des Bündnisses: „Mit Sprechchören (…) zog die Demonstration lautstark, ausgreifend und positiv gestimmt durch das Berliner Regierungsviertel.

Wem will man sich denn hier was vormachen? Den Herrschenden? Die sehen die Realität und fühlen sich bestärkt. Sich selbst? Das ist ganz offensichtlich. Man leugnet das Fiasko und sieht nicht die Isolation, in der wir uns momentan befinden. Aber anstatt davon auszugehen und zu überlegen: Was bedeutet das für unser Anliegen zur Zeit?, wird so getan, als ob wir irgendeine Kraft ausstrahlen würden.

M.P.,  HH, 6.7.22


aus: Arbeiterpolitik Nr. 4/5 2022

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