In der Erklärung des DGB zum Antikriegstag 2022 wird das Dilemma der bundesdeutschen Gewerkschaften deutlich. Aufs Engste in die Mechanismen der Gesellschaftsordnung eingebunden, versuchen sie ohne Konfrontation mit deren Repräsentanten durch die aktuellen Stürme der Welt- und Innenpolitik zu segeln – weitgehend ohne eigene Standpunkte oder Stellungnahmen: »Die deutsche Bundesregierung hat darauf mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, um die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes im Rahmen der NATO und der EU zu stärken. In den letzten Monaten haben Themen, wie das Sondervermögen für die bessere Ausrüstung der Bundeswehr oder die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, die öffentliche und politische Auseinandersetzung geprägt. Diese breite und offene Debatte ist notwendig.«
Auf der anderen Seite müssen die Gewerkschaften auch die Interessen und Meinungen ihrer Mitglieder zum Ausdruck bringen. Dazu dienen ihnen moralisierende Appelle, dass die verstärkte Aufrüstung nicht zulasten des »Sozialstaates« gehen dürfe: »Hinzu kommt, dass jeder Euro, der zusätzlich für Aufrüstung ausgegeben wird, an anderer Stelle zu fehlen droht. Die Finanzierung militärischer Friedenssicherung darf weder auf Kosten der Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates gehen und die soziale Ungleichheit in unserem Lande verschärfen. […] für eine europäische und internationale Friedensordnung, […] für eine kooperativ ausgerichtete Sicherheitspolitik, […] gegen einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf, […] für eine weltweite Ächtung von Atomwaffen.«
Aber weder die Vertreter des Kapitals noch die Parteien der Koalitionsregierung sehen die Notwendigkeit, auf die Befindlichkeiten der Gewerkschaften Rücksicht zu nehmen. Sie haben unter den gegebenen Kräfteverhältnissen auch wenig Grund dafür, denn eine Bereitschaft der Mitglieder zu gewerkschaftlichem Widerstand ist nicht erkennbar. Die Ankündigung, die Bundeswehr zur konventionell stärksten Armee in der Europäischen Union ausbauen zu wollen, kann natürlich nur durch Einsparungen an anderen Stellen des Haushalts realisiert werden.
Aber nicht nur der Bundeshaushalt, die gesamte Wirtschaft ist betroffen durch die beschlossenen Sanktionen, mit denen NATO und EU hoffen, Russland in die Knie zwingen zu können. Auch die deutsche Industrie soll sich diesen Zielen unterordnen und tut dies, nach anfänglichem Zaudern, mittlerweile auch. Die politisch gewollte und forcierte Unabhängigkeit von russischen Energieträgern wird der Wirtschaft und den Verbrauchern in der EU teuer zu stehen kommen. Die Versorger müssen die fehlenden Energieträger an den internationalen Rohstoffmärkten/Börsen einkaufen, deren Preise in die Höhe geschossen sind. Mit erheblichen Finanzhilfen und -geschenken aus dem Staatssäckel werden Konzerne bei Investitionen unterstützt, die die deutsche Wirtschaft unabhängiger von ihren Beziehungen zu Russland und mittlerweile auch zu China machen sollen. Die deutsche Wirtschaft wird umgebaut in Erwartung einer länger andauernden militärischen Auseinandersetzung mit Russland und einer sich anbahnenden Verschärfung der Spannungen zur Volksrepublik China.
Währenddessen wird die Bevölkerung propagandistisch auf den kommenden Winter eingeschworen: Kalt duschen und weniger heizen, während sich die Energiekosten trotzdem verdoppeln oder verdreifachen könnten. Denn ab Oktober dürfen die Energieversorger ihre erhöhten Kosten an den Endverbraucher weitergeben. Das müssen sie auch tun, wenn sie auf den Kosten nicht sitzen bleiben und eine mögliche Insolvenz in Kauf nehmen wollen.
Die Berliner Koalition weiß natürlich um die Brisanz, die mit den steigenden Energiekosten und einer dadurch noch weiter angeheizten Inflationsrate verbunden ist. Bisher hält sich die Bundesregierung zurück, wenn es um finanzielle Ausgleichszahlungen geht, weil es keine Einigkeit im Regierungslager gibt. SPD und Grüne verstecken sich bei den Beschlüssen zugunsten des Kapitals – und damit zulasten der arbeitenden Bevölkerung – hinter dem liberalen Koalitionspartner. Die FDP plant Entlastungen durch eine Korrektur der Steuerprogression und belohnt damit die Besserverdienenden. Steuererhöhungen, um einen sozialen Ausgleich für Transferempfänger finanzieren zu können, lehnt sie vehement ab. Dies gilt auch für den Vorschlag der Einführung einer »Übergewinnsteuer«, wie sie selbst von den Tories in Großbritannien längst umgesetzt wurde.
Sozialverbände, Gewerkschaften und Linkspartei reagieren mit Appellen und Aufforderungen an die Regierenden, den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu wahren. Eine typische Ausgangslage für die weitere Rechtsentwicklung: Die Umverteilung nach oben wird vehement vorangetrieben, die soziale Kluft wächst rasant, während die Betroffenen »die Welt nicht mehr verstehen« und passiv der Dinge harren, in der trügerischen Hoffnung, es würde schon nicht so schlimm kommen. Wenn wir über die Grenzen hinaus schauen, sehen wir eine Entwicklung, die vielleicht auch hier eintreten kann. In Frankreich, Italien und Spanien profitieren die rechten und nationalistischen Parteien. Mit der »VOX« in Spanien und den »Brüdern Italiens« wurden die faschistischen Kräfte zur stärksten Kraft im rechtsnationalen Lager.
Bei jüngsten Meinungsumfragen befindet sich die Sozialdemokratie im Sinkflug, während die Union erneut zur stärksten parlamentarischen Kraft bei Bundestagswahlen werden würde. Die AfD hat ihre Verluste in den letzten Landtagswahlen wettmachen können und legt nun in der Wählergunst wieder zu. Die Partei Die Linke kann ihre Krise nicht überwinden und droht weiterhin an der 5 %-Hürde zu scheitern. Es ist damit zu rechnen, dass die innenpolitischen Kräfteverhältnisse noch stärker in Bewegung geraten, wenn die Energiepreissteigerungen auf die Verbraucher im Herbst und Winter durchschlagen. Dem haben die Gewerkschaften als vehemente Verteidiger der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘, die Sozialverbände oder soziale Initiativen wenig entgegenzusetzen.
Die Linkspartei als parlamentarische Alternative fällt aus, seitdem sie sich in ihrer Mehrheit den Beschlüssen der Regierung gebeugt hat und die Waffenlieferungen an die Ukraine sowie die Sanktionen gegen Russland unterstützt. Eine Steilvorlage für die AfD, die sich als »Friedenspartei« präsentieren kann. So könnte der kommende Unmut der Verbraucher, deren Zukunftsängste und Perspektivlosigkeit rechten Kräften Aufschwung verleihen.
Auch wenn der Widerspruch aus der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft gegen die Haltung des DGB noch schwach ist, es gibt ihn, wie der folgende Appell für den Frieden zeigt. Es gehört zu unseren Aufgaben, diese noch schwache Kritik in den Gewerkschaften zu verbreiten. Wir dürfen die kommenden Proteste nicht allein dem Einfluss der Rechtskräfte überlassen.
13. August 2022
Liebe Redaktion,
es gibt durchaus, wenn auch aktuell schwach, Widerstand aus den Gewerkschaften heraus. Er wird beispielsweise durch die VKG organisiert.