Aktionstag gegen den Krieg in Hanau

Korrespondenz

Die Hanauer Friedensplattform beteiligte sich mit einer lokalen Kundgebung am Aktionstag der Friedensbewegung am 1. Oktober 2022. Der Zuspruch seitens des Publikums ist allgemein schwach, auch an diesem Tag hörten nur wenige Menschen den Reden zu bzw. interessierten sich für die verteilten und ausgelegten Flugblätter und Materialien. Das schlechte Wetter mag die Resonanz noch einmal halbiert haben.

Die Initiative selbst zeigt die wohl mehr oder weniger auch anderswo üblichen internen Differenzen in der Einschätzung des Krieges und der daran beteiligten Seiten. Während die einen für den Krieg beide Seiten (Ukraine und NATO einerseits, Russland andererseits) verantwortlich machen, nehmen andere gegen die NATO, damit mehr oder weniger offen für Russland Stellung. Zumindest diejenigen, die sich in Vorstellungsrunden selbst als Marxist:innen bezeichnen, sollten jedoch den Fokus darauf setzen, die Dialektik dieses Krieges zu entschlüsseln und darzulegen, anstatt für eine der Seiten Stellung zu nehmen. Wer damit argumentiert, dass Russland von der NATO eingekreist werde, Putin also keine andere Möglichkeit habe, als den Krieg zu eröffnen, übernimmt doch im Grunde die imperialistische Logik.

Nehmen wir einen historischen Vergleich: Im Gefolge des für das russische Zarenregime unglücklich verlaufenden Ersten Weltkriegs wurde die Ukraine von deutschen und österreichischen Truppen besetzt. Die durch die Oktoberrevolution 1917 im damaligen Petrograd zur Macht gelangten Bolschewiki schlossen mit dem imperialistischen Deutschen Reich und Österreich-Ungarn den Frieden von Brest-Litowsk ab, der für das revolutionäre Russland ähnlich katastrophal war wie der spätere Versailler Vertrag für das besiegte Deutschland. Lenin und Trotzki überließen die Ukraine den Besatzungsmächten (und konnten sie erst nach deren Kapitulation vor den Westalliierten zurückerobern). Sie konnten und mussten diesen schweren Schritt gehen, weil ihre Priorität darin lag, die Revolution in Russland weiterzutreiben. In Russland bestand damals eine revolutionäre Situation, die Bolschewiki waren Revolutionäre und wollten es sein. Deshalb hatten sie die Möglichkeit, die Pflicht und den Willen, sich gegen die imperialistische Logik zu verhalten, um ihr Ziel, den Sozialismus aufzubauen, konsequent weiterzuverfolgen, sobald es die Umstände wieder zuließen.

Heute ist die Situation in Russland eine völlig andere: Es gibt keine revolutionäre Situation und keine revolutionäre Führung. Russland ist ein kapitalistischer Staat ohne Alternative hierzu, Putin und sein Gefolge haben nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Sie führen den Krieg, um Russland als kapitalistischen Staat und Großmacht zu erhalten. Sie können es nicht anders, weil sie sich in einem imperialistischen Umfeld bewegen. Insofern müssen sie sich entsprechend verhalten. Das ist die Dialektik dieses Krieges. Mit irgendwelchen Perspektiven emanzipatorischer Politik hat das nichts zu tun.

Im folgenden dokumentieren wir einen Redebeitrag, der sich in dieser Logik bewegt.

F/HU, 2. Oktober 2022


Redebeitrag zum 1. Oktober

Zwei Züge rasen im Ukraine-Krieg aufeinander zu. Da haben wir die angebliche „Wertegemeinschaft“ des Westens, konzentriert in der NATO, die die Gelegenheit wahrnimmt, Russland zu schwächen. Auf der anderen Seite steht das Putin-Regime in Moskau, das seine „Weltgeltung“ retten bzw. wiederherstellen will, indem es seine Nachbarn unter Druck setzt bzw. mit Krieg überzieht. Dazwischen steht das Selenski-Regime in Kiew, das trotz der Leiden, Verelendung und Flucht der eigenen Bevölkerung an seinen Maximalpositionen, der Wiederherstellung der Grenzen von 2013, festhalten und sich in den Westen (EU und NATO) integrieren will. Analysen dazu von allen Seiten gibt es reichlich; sie sind widersprüchlich, weil die Interessen widersprüchlich sind und die Positionen in der Friedensbewegung ebenfalls.

In meinem Beitrag sollen die Interessen der herrschenden Eliten in den beteiligten Ländern nicht im Vordergrund stehen. Hier soll vielmehr zuerst gefragt werden, wer die Opfer sind, worin ihre Leiden bestehen und in welche Richtung eine Lösung, so vorläufig und unvollkommen sie sein mag, gedacht werden kann. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Hass, Gewalt, Nationalismus und Rassismus zumindest dort verhindert oder beendet werden können, wo wir Einfluss nehmen können: Ich spreche z. B. von Anfeindungen gegen aus Russland stammende Menschen hier in Deutschland, die ja nicht umstandslos mit dem Handeln ihrer Regierung gleichgesetzt werden können.

Dieser Krieg ist nicht unser Krieg. Die Opfer sind die Menschen, die nichts haben außer ihrer Arbeitskraft, vielleicht noch ein mehr oder weniger bescheidenes Privatvermögen oder gar nur ihr nacktes Leben, mit Sozialeinkommen oder Hilfe von Verwandten und Freunden finanziert.

Im einzelnen sind diese Opfer

  • die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, die viele Tote zu beklagen hat und deren Lebensgrundlagen und Infrastruktur zerstört werden; Putin bestreitet der Ukraine das Recht, ein völkerrechtlich anerkannter Staat zu sein (vgl. seine Rede vom 22. Februar 2022), und die NATO unter Führung der USA versucht, die Ukraine gegen Russland in Stellung zu bringen; demgegenüber ist klarzumachen, dass allein die ukrainische Bevölkerung in einem fairen Abstimmungsverfahren, ohne Bedrohung durch Waffengewalt, zu bestimmen hat, wohin sie gehört (ähnliches gilt in der Taiwan-Frage – nur die Bevölkerung Taiwans hat zu bestimmen, wohin sie gehören will);
  • die Bevölkerung im Donbass, der von russischer Seite unterstellt wird, zu Russland gehören zu wollen; das mag sein, aber dafür bedarf es ebenfalls eines fairen Abstimmungsverfahrens; Abstimmung im Kriegszustand, unter russischer Besetzung und nicht mit unzweifelhaft anerkannter Legitimität garantiert keinen Frieden und keine Sicherheit für diese Teile der Bevölkerung;
  • Menschen in Russland, die Soldaten und Soldatinnen stellen müssen, im übrigen unter Lasten leiden, die der Krieg auch jenseits der Front mit sich bringt;
  • Menschen v. a. im globalen Süden (Ägypten, Jemen, Bangladesch usw.), die auf ukrainisches Getreide mehr oder weniger angewiesen sind, in neue Hungersnot geraten und sich auf die Flucht machen müssen;
  • lohnabhängig arbeitende und auf Sozialleistungen angewiesene Menschen bei uns und in der ganzen Welt, die unter der Teuerung, besonders in der Versorgung mit Energie und Lebensmitteln, leiden; es gibt Berichte und Analysen, dass diese Teuerung schon vor dem Ukraine-Krieg im Gange war, strukturelle und konjunkturelle Gründe hat, worauf in diesem Beitrag nicht differenziert eingegangen werden kann – der Ukraine-Krieg wirkt aber ähnlich wie die Corona-Pandemie als Brandbeschleuniger, der die schwächeren sozialen Schichten umso härter trifft;
  • schließlich noch alle diejenigen, die in den Einzugsbereich eines möglichen Atomunfalls durch die Kriegslage oder gar eines Atomwaffeneinsatzes geraten.

Was tun?

Kurzfristige Lösungen sind nicht zu erkennen, eher sieht es nach einem langen, brutalen, militärisch betrachtet: Abnutzungskrieg aus. Die Friedensbewegung ist derzeit weder mächtig noch einig genug, um daran kurzfristig etwas zu ändern. Sie ist auch in den Gewerkschaften derzeit nicht mehrheitsfähig: Daran muss gearbeitet werden. Die Lösung kommt nicht von allein, und sie kann nicht von den herrschenden Eliten erwartet werden. Putin setzt auf Gewaltanwendung, Selenski auf Durchhalte- und Siegesparolen, der „Westen“ auf angeblich „werte- und regelbasierte“ Außenpolitik und Aufrüstung der Ukraine, was den Krieg verlängert, statt nach dem Ausweg durch Verhandlungen zu suchen. Demgegenüber mögen unsere Forderungen abstrakt klingen, weil wir nicht die Mittel haben, sie zur Geltung zu bringen. Sie sind aber richtig und vor allem die einzige Perspektive, einen Frieden herzustellen, der die Möglichkeit zu Wiederaufbau der Lebensgrundlagen und menschenwürdigem Dasein eröffnet. Dies sind zunächst einmal:

  • Waffenstillstand;
  • Verhandlungen;
  • vertragliche Sicherheitsgarantien für alle Beteiligten, insbesondere Russland und die Ukraine.

Dies ist nach Lage der Dinge freilich ein sehr schwer zu realisierendes Programm, und es kann nicht allein von der jetzt noch zahlenmäßig schwachen Friedensbewegung erkämpft werden. Es ist auch keine Garantie für die Durchsetzung eines wirklich haltbaren Friedens (dies zeigen die Erfahrungen der Geschichte). Die Friedensbewegung wird es geben müssen, solange die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Krieges bestehen und es damit auch Kriege geben wird.

Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen
(Jean Jaures, französischer Sozialist, 1859 – 1914).


 

1 Kommentar

  1. Gut, dass man sich hier auch mal auf Marx(ismus) beruft.
    Friedensbewegung und Arbeiterbewegung sind eben nicht identisch. Die Friedensbewegung ist eine politische Bewegung und richtet sich vor allem an/gegen Staat und Regierungen. Die Arbeiterbewegung ist eine soziale Bewegung und richtet sich zunächst und vor allem gegen die kapitalistischen Ausbeuter. https://marx-forum.de/Forum/index.php?thread/1079-ausbeutung-der-lohnarbeit-2022/

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