Das neue Bürger-Hartz – „Viel Lärm um nichts“

Kritische Darstellung von Hartz IV vom ZDF Magazin Royale, Quelle: Wikipedia

Das neue Bürgergeld soll also kommen, wieder mal ein angebliches Jahrhundertwerk der Sozialpolitik. Die Ampelkoalition lobt sich überschwänglich für ihre Leistung, die Unionsparteien feiern sich dafür, dass sie aus einem schlechten Entwurf im Bundesrat noch ein gutes Gesetz gemacht hätten. Fragt man Betroffene oder liest/hört ihre Stellungnahmen in den öffentlichen Medien, so sind die allermeisten von ihnen enttäuscht oder bekunden Desinteresse, weil sich aus ihrer Sicht nichts ändern werde.

Auch wir sehen darin nichts Neues, wie wir in unserer Überschrift zum Ausdruck bringen. Das Zitat darin stammt aus einer Äußerung einer Aktivistin, Helena Steinhaus vom Verein „Sanktionsfrei e. V.“, in der Frankfurter Rundschau vom 23. November 2022 (zum Verein „Sanktionsfrei e. V.“, der sich für die Interessen der Hartz-IV-Beziehenden einsetzt, s. Stichwort in Wikipedia).

Neue Regelungen zum Bürgergeld

Ab 1. Januar 2023 soll das Bürgergeld kommen, jedenfalls in Teilen. Regelungen zum Arbeitsmarkt sollen wegen zahlreicher Änderungen, die organisatorisch noch nicht umgesetzt werden können, erst im Juli in Kraft treten. Die wichtigsten Neuerungen und ihre Bedeutung für Erwerbslose und Lohnarbeitende sind:

  1. Der Regelsatz soll um 53 € auf 502 € steigen. Das ist nichts weiter als eine längst fällige Regelsatzerhöhung. Sie ist zwar deutlich stärker als in all den Jahren zuvor. Aber sie ist schon jetzt längst von der Teuerung aufgefressen, die Kaufkraft geringer als zu Anfang 2021. Versprochen ist, dass künftige Regelsatzerhöhungen schneller an die Inflation angepasst werden. Freibeträge für Menschen, die neben dem Bürgergeld arbeiten oder sich in Ausbildung befinden, werden erhöht.
  2. Der sogenannte Lohnabstand bleibt gewahrt. Auch wer zum Mindestlohn arbeitet, hat in der Regel aufgrund der Freibeträge und von Leistungen wie Wohngeld und Kindergeldzuschuss deutlich mehr Geld im Monat (so besagt z. B. eine Studie des DGB, dass eine Arbeitnehmerin mit 38 Stunden in der Woche und 12 € Stundenlohn im Monat 670 € mehr verfügbares Einkommen hat als ein Bürgergeldempfänger; ähnliches steht in einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit).
  3. Das Bürgergeld schafft den Vorrang der Vermittlung in Arbeit ab. Das ist zunächst mal ein guter Vorsatz. Konkret kann das bedeuten, dass jemand, der eine Umschulung oder Weiterbildung in Aussicht hat, nicht gezwungen werden kann, diese wegen irgendeines Aushilfsjobs, der keine weiterführende Perspektive bietet, abzusagen. Die Praxis wird zeigen, wie sich das auswirken wird. Sogenannte Vermittlungshemmnisse aus Arbeitgebersicht (mangelnde Abkömmlichkeit etwa wegen Kinder-, Kranken- oder Altenbetreuung zu Hause, eigene gesundheitliche, körperliche oder psychische Probleme etc.) sind damit nicht aus der Welt geschafft, willkürliche Auslegung vom Jobcenter auch nicht.
  4. Wer zum ersten Mal Bürgergeld bezieht, bekommt ein Jahr lang die aktuelle Wohnung finanziert und ein „Schonvermögen“ von 40.000 € für einen Alleinstehenden, 15.000 € für jede weitere Person im Haushalt eingeräumt. Der ursprüngliche Regierungsentwurf hatte eine Frist von zwei Jahren und Beträge von 60.000 € und weitere 30.000 € vorgesehen (diese Werte waren wegen der Pandemie eingeführt worden und sollten ab jetzt festgeklopft werden – daraus wurde nichts). Abgesehen von dem Trauerspiel, das zu diesem Thema zwischen Ampelkoalition und Unionsparteien ablief, ist diese geringe Marge keine Garantie gegen Armut. Denn nach einem Jahr läuft dieser Schutz ja aus. Mehr als zwei Drittel aller derzeitigen Hartz IV-Beziehenden sind aber schon mehr als ein Jahr dabei, haben von dieser Regelung schon jetzt nichts. Ein Sechstel dieses Personenkreises zahlt jetzt schon die Miete zum Teil aus dem Regelsatz. Den künftigen Bürgergeldbeziehenden verspricht dies ebenfalls nichts Gutes. Bekanntlich wird ja nicht einfach „die“ Miete bezahlt, sondern nur eine im „angemessenen“ Rahmen.
  5.  Beim Thema Sanktionen wollte die Ampelkoalition ursprünglich eine „Vertrauenszeit“ von sechs Monaten einführen. Die wurde gestrichen. Es ist sehr bezeichnend, dass die Unionsparteien bei diesem Thema hart blieben, dabei von der FDP unterstützt wurden und SPD wie Grüne vollständig einknickten. Bei den Sanktionen gab es daher keine Veränderungen, aber viele unsachliche, populistisch motivierte Diskussionen: Statistiken der Bundesagentur für Arbeit belegen immer wieder, dass nur ein ganz kleiner Bruchteil der Menge der erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehenden (aktuell 0,9 %) überhaupt sanktioniert wird. Offenbar geht es nur um Disziplinierung der Leistungsbeziehenden, vor allem aber auch um die Profilierung rechter Politik. Die erwerbslos gemachten Menschen möchten in ihrer weit überwiegenden Mehrheit tatsächlich erwerbsmäßig arbeiten und nicht in der von rechter Seite böswillig unterstellten „sozialen Hängematte“ abliegen.
  6. Tatsächlich handelt es sich also beim „Bürgergeld“ nur um alten Wein in neuen Schläuchen, um eine aus Sicht der Betroffenen geringfügige Anpassung des Systems „Hartz IV“: „Das Bürgergeld führt in die blanke Not,“ so Helena Steinhaus.

Nach Hartz IV – sozialdemokratische Symbolpolitik

Schon bei den Hartz-Reformen zu Beginn des Jahrhunderts ging es der damaligen SPD-Grüne-Koalition nicht um Wohltaten, ganz im Gegenteil. Es solle ein Niedriglohnsektor geschaffen werden, so Bundeskanzler Gerhard Schröder, und zwar der „beste“ (d. h. niedrigstbezahlte und umfangreichste) in Europa, damit die deutsche Wirtschaft, der damalige „kranke Mann“ Europas, wieder auf die Beine komme. Dies gelang, indem man die soziale Absicherung der Lohnabhängigen zusammenstrich (vgl. Kasten). Lebensstandard und Vermögen von Langzeitarbeitslosen wurden radikal verschlechtert, der Zwang zur Aufnahme jedweder Tätigkeit zum Programm erhoben, ihre Berufserfahrung oftmals grundlegend entwertet. Den noch Beschäftigten sollte dies eine Warnung sein, die Behandlung der Arbeitslosen zielte nicht nur auf diese selbst, sondern vor allem auf die Disziplinierung der noch Lohnarbeitenden. Mit der Senkung der Lohnersatzleistungen nach schon einem oder zwei Jahren auf Sozialhilfe konnten auch Lohnforderungen der Gewerkschaften ausgebremst werden. Die Durchsetzung dieses Programms gelang in einem Maße, dass „Hartz IV“ heutzutage als gesellschaftliche Erscheinung völlig selbstverständlich hingenommen wird, eine Rückkehr zum vorherigen Zustand also ausgeschlossen scheint.

Diese „Mutter der Sozialreformen“ führte in der Folge – freilich neben anderen Aspekten, insbesondere der Einführung des Euro, die auf EU-Ebene Löhne und Preise unmittelbar vergleichbar machte, sowie anderen Reformen zur Vereinfachung des Kapital- und Warenverkehrs in der EU – zu einem nachhaltigen Aufschwung der ohnehin stärksten Volkswirtschaft der EU, die sich den neuen europäischen Binnenmarkt zunutze machen konnte. Die SPD hielt sich das zugute. Doch dieser Aspekt hielt nicht lange vor. Nach einer Serie verlorener Landtagswahlen musste sie 2005 vorgezogene Bundestagswahlen anberaumen. Diese verlor sie gegenüber der CDU/CSU, mit der sie in der Folge drei „Große Koalitionen“ unter Angela Merkel einging. Dieses „Tal der Tränen“ war die Konsequenz davon, dass die Hartz-Reformen diejenigen Wähler:innen verprellte, die die SPD immer als vermeintlichen Schutz vor den Risiken der Kapitalswirtschaft gewählt hatten.

Für die SPD als bürgerlich-parlamentarische Partei, die letzten Endes für den Zusammenhalt der Gesellschaft unter dem Vorrang des Kapitalinteresses sorgen muss, erschien es aber unmöglich, Hartz IV als einen prinzipiellen „Fehler“ zuzugeben, der sie in den Wahlen zum Bundestag zu einer Kleinpartei zu reduzieren drohte. Also musste sie eine Argumentationslinie aufbauen, die von der Richtigkeit der Hartz-Reformen zur damaligen Zeit ausging und hinüberführte zu einer neuen „Jahrhundertreform“, genannt „Bürgergeld“, die die Bedingungen und Möglichkeiten der heutigen Zeit angeblich besser abbildet. Und wie damals bei den Hartz-Reformen die Unionsparteien mit ihrer Stärke im Bundesrat noch zu einer Verschärfung der Gesetze gesorgt hatten, so verhagelten sie auch diesmal der SPD genau die Positionen, die in der Konzeption des Bürgergeldes noch die vergleichsweise besseren waren, z. B. die „Vertrauenszeit“ bei den Sanktionen und die Höhe des Schonvermögens. Noch schlimmer war, dass der Koalitionspartner FDP als bürgerlich-liberale Partei der SPD in den Rücken fiel. Der blieb gar nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Die Reform – ein parlamentarisches Machtspiel

Beide Seiten im parlamentarischen Machtpoker zogen ihre roten Linien. Dabei war auffällig, dass die FDP nicht nur klammheimlich mit den Positionen der Unionsparteien sympathisierte: Es waren auch ihre eigenen. Für beide Seiten gab es aber ein Problem: Der Elefant im Raum war die überfällige Erhöhung des Regelsatzes, für den die Koalition schon mal den Betrag von 52 € in die Debatte geworfen hatte. Die Erwartung, dass zumindest das sicher zum Jahresanfang 2023 kommt, war groß. Weder Koalition noch Unionsparteien wollten sich die Verantwortung zuschreiben lassen, durch lange, zähe Verhandlungen diese – wegen der Teuerung ohnehin mäßige – Verbesserung verhindert zu haben. Daher machte CDU-Chef Merz schon früh den Vorschlag, die Erhöhung des Regelsatzes vom sonstigen Entwurf abzutrennen und als besonderen Beschluss vorzuziehen. Natürlich ging die Koalition darauf nicht ein, denn damit wäre ihr selbst ein Druckmittel abhanden gekommen. Es kam, wie es kommen musste: Die Ampelmehrheit im Bundestag nahm das Gesetz in Gänze an, die unionsgeführten Länder verweigerten im Bundesrat die Zustimmung. Also wurde zwischen beiden Seiten neu verhandelt mit dem oben beschriebenen Ergebnis. Dieses wurde im weiteren parlamentarischen Verfahren (Vermittlungsausschuss, erneuter Beschluss von Bundestag und Bundesrat) angenommen. FDP und Unionsparteien schlugen sich dröhnend auf die Brust, die SPD stimmte bei, indem sie das Werk zum „Fortschritt“ erklärte.

Da die neuen Bestimmungen letztlich nichts anderes sind als kosmetische Verbesserungen, kann nur die Zukunft zeigen, ob sich praktisch etwas verändert. Ein Beispiel wäre der mit viel rhetorischem Aufwand begründete neue Vorrang von Aus- und Weiterbildung, Umschulung etc. vor hastiger Unterbringung in irgendeinen Aushilfsjob. Neue Floskeln bringen vielleicht bei dem einen oder der anderen Jobcenter-Angestellten bzw. Beratungsuchenden ein Umdenken. In der Breite aber braucht das Zeit. Das wissen gerade Langzeitarbeitslose am besten in ihrem alltäglichen Kampf mit den Widrigkeiten in den Ämtern und mit deren Vollzugskräften, also mit den Vorschriften und ggf. den Launen. Auch das ist ein Terrain und eine Form des Klassenkampfs, denn wie mit den Ausgegrenzten dieser kapitalistischen Gesellschaft verfahren wird, das bietet auch ein Beispiel für die Disziplinierung der Arbeitskräfte. Auch die Gewerkschaften müssen das wissen.

30.11.22


 

Regelungen vor Hartz IV

Vor der Einführung des sogenannten „Hartz IV“ zum 1. Januar 2005 galt in Deutschland traditionell ein dreistufiges System der Absicherung bei Arbeitslosigkeit (1927 erstmalig eingeführt, 1939 durch die Nazis wieder abgeschafft, 1956 in der BRD wiederhergestellt). Die Bestimmungen waren im Groben wie folgt, aber auch im Detail veränderbar (insbesondere während der Kohl-Regierung):

  1. Arbeitslosengeld: reine Versicherungsleistung, Anspruch nach vorheriger Beschäftigung (mit begrenzter Dauer je nach Versicherungsjahren und Lebensalter bis zu zwei Jahren), Höhe prozentual nach dem Durchschnittsverdienst der letzten Jahre, ohne Bedürftigkeitsprüfung, ohne Anrechnung von Vermögen, die Auszahlungsbeträge kommen aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung;
  2. Arbeitslosenhilfe: bedürftigkeitsgeprüfte Versicherungsleistung, Anspruch nach vorherigem Bezug von Arbeitslosengeld, Höhe nach deutlich niedrigerem Prozentsatz, Nebeneinkommen und Vermögen angerechnet, prinzipiell unbegrenzt, aber in bestimmten Intervallen prozentual weiter abgesenkt, steuerfinanziert;
  3. Sozialhilfe: bedarfsorientierte Regelleistung, einheitlich am Existenzminimum der untersten Einkommensgruppen orientiert, Anrechnung von Nebeneinkünften und Vermögen, steuerfinanziert; hier fanden sich – neben nicht erwerbsfähigen Personen – diejenigen Arbeitsuchenden, die entweder keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -hilfe hatten oder deren Auszahlungsbetrag aufgrund geringer Ansprüche unter dem Regelsatz der Sozialhilfe lag (Aufstocker:innen).

Seit „Hartz IV“ bestehen nur noch zwei Stufen. Wer aus dem Anspruch auf Arbeitslosengeld (s. o.) herausfällt, sinkt sofort in die Sozialhilfe. Um diesen radikalen Bruch zu kaschieren, wurde von der SPD-Grünen-Koalition behauptet, es ginge um die „Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“. Tatsächlich aber wurden nur die Personenkreise zusammengeführt, die Arbeitslosenhilfe mit ihren Versicherungsansprüchen ersatzlos gestrichen. Das zweite Niveau der Lohnersatzleistung ist nun der Regelsatz der Sozialhilfe, der aber noch unterschritten wurde dadurch, dass bisherige Pauschal- und Einmalleistungen (z. B. erstmalige Wohnungseinrichtung, Ersatz einer Waschmaschine, Babybedarf) gestrichen bzw. auf Kreditbasis umgestellt wurden, so dass sie in Höhe der Rückzahlungsraten den Regelsatz mindern. Diese Zahlung ist als Arbeitslosengeld II bekannt, ist aber nichts anderes als die bisherige Sozialhilfe.


 

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