„Griechenland verlangte Gerechtigkeit, die Regierung antwortete mit Repression“

Korrespondenz aus der Solidaritätsgruppe „Gegen Spardiktate und Nationalismus“

Ihr werdet unseren Zorn nicht mit Tränengas eindämmen können
Ihr werdet unseren Zorn nicht mit Tränengas eindämmen können

„Griechenland verlangte Gerechtigkeit, die Regierung antwortete mit Repression“. So überschrieb die „Zeitung der Redakteure“ (efsyn) ihre Berichterstattung über die am 8. März stattgefundenen Demonstrationen. „‘Unser Leben zählt, es darf nichts vertuscht werden‘, Hunderttausende von Demonstranten in rund 80 Städten von Evros bis Kreta brachten ihre Wut zum Ausdruck und forderten Gerechtigkeit und volle Rechenschaft – und keine Vertuschung – für das Verbrechen in Tempe[i], das bisher 57 Menschenleben gefordert hat. Vor allem in Athen kam es zu einer noch nie dagewesenen Massenmobilisierung von Gewerkschaften, Verbänden und anderen Organisationen, die 3,5 Stunden lang im Zentrum von Athen demonstrierten. Die Lautstärke und der Puls der Großkundgebung erinnerten an die militanten Mobilisierungen in den Jahren 2010 bis 2012.“

Die seit dem Unfall stattgefunden Arbeitsniederlegungen bei der Bahn hatten am 8. März zu einem Generalstreik geführt, der alle Bereiche des Öffentlichen Dienstes lahmlegte. Neben den Forderungen nach lückenloser Aufklärung der Unglücksursachen bei der Bahn wurden die durchgeführten und geplanten Privatisierungen in sämtlichen Bereichen der staatlichen Daseinsvorsorge kritisiert und entsprechende Forderungen nach einem Ende vom Ausverkauf und Privatisierungen erhoben. Die zahlreichen Telefonate der letzten Tage mit unseren griechischen Freund*innen und Genoss*innen betätigten die in der „efsyn“ geschilderte Einschätzung.

Die Parolen auf den Transparenten: Die junge Generation verzeiht nicht. Wir sind die Stimme aller Toten. Mörder. Ihre Gewinne, unsere Toten. Schick mir eine Nachricht wenn du ankommst (Das ist eine sehr übliche Parole diese Tage, sie bezieht sich darauf, dass besonders die Mütter ihre Kinder bitten, eine Nachricht zu schicken, dass sie gut angekommen sind). Es war kein Unglück, es war Mord. Und die Liste (der Toten, ist gemeint) hat kein Ende. Unsere Leben zählen.

Noch im Oktober 2022, während unseres letzten Solidaritätsbesuches in Griechenland, hatten wir wenig von der Wut und Auflehnung spüren können, wie sie am 8. März zum Ausdruck kam. Allerdings wurden wir über die Zustände bei der Bahn informiert. Seit Jahren hatten die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten auf die erheblichen Sicherheitsmängel bei der Bahn hingewiesen. Darüber berichtete uns Evridike: „Als in die falsche Richtung gehend sieht sie die griechische Bahn. Die ist mittlerweile komplett privatisiert und filetiert, d.h. an verschiedene Unternehmen verkauft. Wo es früher 12.000 Beschäftigte gab, gibt es jetzt noch 2.000. Die Unternehmen mussten der Regierung schriftlich versichern, einen Mindestleistungsservice einzuhalten. Das machen sie aber nicht und kassieren trotzdem. Es funktioniert kaum noch was. Die Strecke Athen – Saloniki dauert jetzt zehn Minuten weniger als früher, aber nur deswegen, weil es lediglich noch einen einzigen Zwischenhalt gibt. Von der EU gibt es einen 5-Mrd.-Fonds für neue Bahnstrecken, die auch gebaut werden, wo aber keine Züge fahren. Sie vermutet, dass die Lobby der Flug- und Busgesellschaften das Ganze sabotiert. Das private Busnetz funktioniert demgegenüber prächtig.“[i]

Auch über mühsam (nach jahrelanger gewerkschaftlicher Organisationsarbeit) errungene Einzelerfolge, wie im privatisierten Hafen von Piräus, hatten wir im Herbst letzten Jahres erfahren. Im Hafen wurde ein tödlicher Arbeitsunfall zum Auslöser für spontane Arbeitsniederlegungen, Gewerkschaftseintritte und letzten Endes einen erfolgreichen Tarifkampf. „Bei COSCO gab es für die Arbeiter weder Tarifverträge noch galten die Sicherheitsregeln, die sonst im Hafen einzuhalten sind. Gesetzliche Arbeitssicherheits- und Gesundheitsschutzvorschriften wurden erst 2018 unter der Syriza-Regierung beschlossen Demnach sollte es auch Erschwerniszuschläge und früheren Renteneintritt für besonders schwere Arbeit geben. Aber nichts davon wurde umgesetzt. Nach dem tödlichen Arbeitsunfall von Dimitris N. gab es den großen Streik im Oktober 2021. Es konnten ein Tarifvertrag zur Einhaltung der Arbeitssicherheit  und höhere Löhne für alle Arbeiter bei COSCO durchgesetzt werden. Eine Arbeitsschutzkommission, die es vorher nicht gab, wurde durchgesetzt.“[ii]

Was, wenn es eure Kinder gewesen wären

Ansonsten war für mich die Stimmung während unserer Griechenlandbesuche gekennzeichnet durch die Enttäuschung und Resignation in der arbeitenden Bevölkerung über das Einknicken der Syriza-Regierung unter Ministerpräsident Tsipras vor der Troika im Juni 2015. Dies brachte letztendlich die Nea Demokratia (ND) 2019 wieder an die Schalthebel der Regierung. Ob nun der weitverbreitete Zorn der Menschen auf Ministerpräsident Mitsotakis zu dessen Abwahl im Frühjahr führen wird, bleibt abzuwarten. Zu tief sitzt das Misstrauen gegenüber der einzig realistischen, parlamentarischen Alternative in Form von Syriza. So ist es durchaus möglich, dass ein allgemeines Misstrauen gegenüber dem politischen Personal sich nicht niederschlägt in einem Regierungswechsel. Die zahlreichen Parteien und Organisationen auf der radikalen Linken bilden noch keine Wahlalternative und die Kommunistische Partei Griechenlands konnte aus den zahlreichen Krisen seit 2010 wegen ihrer sektiererischen und dogmatischen Haltung keine Zugewinne verzeichnen.

Dieses Verbrechen wird nicht vertuscht werden. Gewinne in Blut getaucht. Wir sind die Stimme aller Toten.

Aber mit der Massenmobilisierung vom 8. März konnte die Stimmung von Resignation, Lähmung und Passivität durchbrochen werden – mit welchen längerfristigen gewerkschaftlichen und politischen Folgen lässt sich allein am Ergebnis der kommenden Parlamentswahl nicht ablesen.

Die Fotos zeigen die Stimmung und Empörung auf den Demonstrationen. Wir haben sie der „Zeitung der Rdakteure“ (efsyn) entnommen.

[i] Siehe Reisetagebuch „Zehnte Solidaritätsreise nach Griechenland. Oktober 2022“, Seite 18, Treffen mit Evrydike

[ii] Siehe Reisetagebuch „Zehnte Solidaritätsreise nach Griechenland. Oktober 2022“, Seite 21, Die Streiks bei Cosco und die Gewerkschaft ENDEP/PAME

[i] In der Nähe der Stadt Tempe geschah der fürchterliche Unfall auf der Bahnverbindung zwischen Athen und Thessaloniki.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*