Die Widersprüche wachsen

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und die Perspektive „geht es den Unternehmen gut, geht es den Lohnabhängigen gut“ zerbröselt

Wenn heute in allen deutschen Großstädten 2 Millionen arme Menschen an der Tafel Schlange stehen, um etwas zum Essen zu bekommen, so ist das nicht immer so gewesen. Bis zum Zerfall der Sowjetunion hat die Politik der BRD das Ziel gehabt, als Schaufenster zum Osten dazustehen. Der Zerfall der SU, und damit auch das Ende der DDR, machten diese Politik überflüssig. Ohne auf die Details der ökonomischen Entwicklung einzugehen, hat vor allem die Schaffung des Niedriglohnsektors zwar dem Anschein nach die hohe Zahl an Arbeitslosen der 90er Jahre dezimiert, die Einkommenssituation der dort beschäftigten jedoch auf ein Reproduktionsminimum zurückgeworfen. In der Folge wurde und wird der Niedriglohnsektor in alle Produktions- und Reproduktionsbereiche ausgeweitet. Ergebnis dieser Entwicklung – nicht nur in Deutschland – ist die stetig zunehmend ungleiche Aufteilung des Arbeitsprodukts zugunsten der ohnehin schon Reichen auf Kosten einer wachsenden Zahl von Armen.

Der Kapitalismus des Westens kam als Sieger aus dem Wettbewerb des Kalten Krieges hervor. Dem deutschen Kapital wurde so die Möglichkeit gegeben, in den bisher von der SU geführten osteuropäischen Staaten sowie in Afrika und Südasien in Billigproduktion u. a. Vorprodukte für die industrielle Produktion herzustellen. Damit verbesserte sie ihren Stand im globalen Konkurrenzkampf. Die staatliche Organisierung der „sozialistischen“ Wirtschaft stand als Verlierer da.

Diese Entwicklung hatte ihre Auswirkungen auf die Arbeiterklasse in Deutschland. Das Scheitern der SU und damit auch der DDR ließ in der Masse der Bevölkerung den Kapitalismus als unüberwindlich erscheinen. So konnte die Regierung Schröder der Privatproduktion freie Bahn zur Entfaltung geben.

Die extremen Verwerfungen in Deutschland (Abwicklung des Ostens, hohe Arbeitslosenzahlen etc.) und weltweit und zudem der Druck des im Aufwind stehenden Finanzkapitals, haben weltweit eine Welle der Privatisierung öffentlicher Güter durchgesetzt.

Die Regierung Schröder baute den sozialen Schutz der Lohnabhängigen unter Einbindung der Gewerkschaften, in denen sich die Haltung „geht es den Unternehmen gut, so geht es den Arbeitern gut“ breitmachte, ab: beispielhaft die Hartz 4 – Gesetzgebung. Niedriglöhne konnten so von den Unternehmern leicht durchgesetzt werden.

Innenpolitisch und weltweit verschärfen sich die Gegensätze bis in die Gegenwart. Die Militarisierung des Westens gegen Russland hat in vielen Staaten des Südens zur Hemmung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und damit zu Hunger und Armut ihrer Bevölkerung geführt. Die „westlichen Werte“ werden so zunehmend als scheinheilig erkannt. Folglich wenden sich Entwicklungsländer verstärkt vom Westen ab.

In westlichen Staaten führt die Militarisierung gegen Russland dazu, dass die Unternehmer längere Arbeitszeiten und staatliche Unterstützung wegen der hohen Energiepreise fordern, während Geringverdiener nicht wissen, wie sie die steigenden Kosten für Energie, Wohnungsmiete und Lebensmittel bezahlen sollen. Die Sozialausgaben der Regierung, wie Energiegeld, 9-Euro-Ticket und Energiepreisbremse, reichen nicht als Ausgleich für die steigenden Lebensunterhaltungskosten. Gleichzeitig werden Investitionen für den klimaneutralen Umbau der Industrie und die Klimawende insgesamt verschleppt.

In Frankreich und Großbritannien wehrt sich die lohnabhängige Bevölkerung. Haben die französischen Lohnabhängigen in den Staatsunternehmen für ihren Kampf gegen die Verlängerung ihrer Lebensarbeitszeit seit einer Generation wieder Kampferfahrungen gesammelt und können so einen gemeinsamen Kampf führen.

Auch die britischen Lohnabhängigen haben zu neuer Kampfesstärke gefunden und erhöhen den Druck auf ihre Regierung, obwohl die britische Industrie im internationalen Konkurrenzkampf eine schwache Position hat und ihrerseits Druck auf Regierung und die Lohnabhängigen ausübt. Die Labour Party distanziert sich von den Streikenden, die in ihrem Kampf die Notwendigkeit sektorenübergreifender Solidarität erfahren. Lange hat es in Großbritannien nicht so viele Streiks auf einmal gegeben.

Demgegenüber steht eine Rechtsentwicklung in mehreren europäischen Staaten. So haben z. B. zuletzt Italien und Schweden einen Rechtsruck in den Wahlen und der Regierungsbildung zu verzeichnen.

Haben die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in der Industrie nach drei Jahren nachgelassen – so trifft das nicht auf die Ursache Ukrainekrieg zu: Der Wirtschaftskrieg gegen Russland wirkt wie ein Bumerang: Insbesondere für Deutschland sind die Folgen des Wirtschaftskrieges gegen den bis dahin wichtigsten Energielieferanten hoch: gestiegene Kosten nicht nur für Strom und Gas, sondern auch für Vorprodukte und Rohstoffe. Daraus folgt eine einherge -hende Zurückhaltung der Unternehmer bei Investitionen. Der Boykott russischer Energie hat in Deutschland die vor allem von den Energiepreisen getriebene Inflation auf 7,9 % steigern lassen. Der weltgrößte Chemiekonzern und größte Gasverbraucher BASF z. B. reagierte darauf mit weltweitem Abbau von 2600 Stellen, 2/3 davon in Deutschland. Die DIHK warnt vor zu scharfen Regeln für den Export in Länder, die weiterhin Handel mit Russland treiben. In Deutschland ließ die Inflation die Nominallöhne nur um 3,4% steigen und vermindert so die Kaufkraft der Lohnabhängigen, die sich immer weniger von einem Euro kaufen können. Gleichzeitig wird deutlicher: prozentuale Lohn -erhöhung steigert die Spaltung der lohnabhängig Beschäftigten. Doch aus dem Hause des neuen Verteidigungsministers Boris Pistorius, der das Zwei-Prozent-Ziel der NATO lediglich als Untergrenze sieht, ist lt. Spiegel bereits deutlich gemacht worden, dass Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst den Spielraum für Investitionen in die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr schmälern würden. Während nicht wenige Unternehmen behaupten, dass ihre Wettbewerbs- fähigkeit durch hohe Tarifabschlüsse bedroht würde und sie Entlassungen vornehmen müssten, machen die Energiekonzerne Zusatzgewinne in Milliardenhöhe, und auch die großen Konzerne wie Daimler und Airbus stellen ihre Rekordgewinne für 2022 heraus. Die deutschen Exporteure erreichten ein Rekordergebnis: Waren „Made in Germany“ im Gesamtwert von gut 1564 Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr ins Ausland geliefert. Die Deutsche Bank erreichte ihr bestes Ergebnis seit 15 Jahren: 5,6 Milliarden Euro vor Steuern.

Die Inflation hat in Deutschland bereits zu Warnstreiks in den Seehäfen, Flughäfen, den Stahlbetrieben und der Post, in einigen Städten auch in Krankenhäusern und an Kindertagesstätten und Schulen geführt; bezeichnenderweise hauptsächlich bei staatlichen Einrichtungen. In der Urabstimmung von ver.di bei der Post zeigt sich eine verstärkte Einflussnahme der Gewerkschaftsmitglieder: Nicht mehr nur Warnstreiks, denn die zunehmende Arbeitsbelastung, die auch in der Industrie zu verzeichnen ist, wird unerträglich. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit wächst und wird deutlicher.

Jeder fünfte Rentner lebt heute an der Existenzgrenze und die Mieten steigen weiter an. Für die deutsche Bevölkerung kommen dazu die Kosten für die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland. Die Bundesregierung sah sich unter dem Druck der EU, NATO und der Ukraine veranlasst, die Lieferung von 100 Leopard- 1- sowie -2-Panzern zu beschließen. Kein Beitrag, der auf Beendigung des Krieges zielt, sondern eine ihn verlängernde Kriegslogik. So wurde es der AfD ermöglicht, sich mit einer „Friedensinitiative“ zu profilieren. Die deutschen Rüstungsunternehmen freuen sich über profitable Aufträge zur Produktion von Munition. Bei der Lieferung von Panzern halten sich inzwischen die USA und mehrere europäische Nato-Partner zurück. Zeitweise lehnten in Deutschland 2/3 der Bevölkerung die Lieferung von Panzern ab.

Bei schnell steigenden Preisen, eben auch Mieten, haben die Bundesländer keine Wohnungen für deutsche Wohnungssuchende wie auch für die Kriegsflüchtlinge, die z.T. in Zelten untergebracht werden. In Deutschland fehlen 1 Million Sozialwohnungen. Ausgaben für den sozialen Bereich und der militärischen Rüstung stehen sich gegenüber. Das erhöht die Staatsverschul -dung und führt zu Gegensätzen in der Regierung. Geradestehen muss für die Ausgaben letztlich die lohnabhängige Bevölkerung.

Diese Probleme und deren Folgen treffen materiell und mental auf eine deutsche Gesellschaft, die mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der kapitalistischen Wirtschaft nach dem 2. Weltkrieg ab 1948 eine politische Form ermöglichte hat, die an Stelle der Klassenauseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit den Interessensausgleich setzte. Für die Arbeiter bedeutet das, dass sie ihr politisches Handeln den bürgerlichen Normen unterwerfen, um deuten zu können, was da passiert. Sie erkennen noch nicht den Klassengegensatz zwischen lohnabhängiger Bevölkerung und den Unternehmern.

Die Pandemie hat in vielen Ländern soziale Gegensätze verschärft. In den Bereichen, in denen es konkret um die Lebensqualität der Menschen geht – wie Pflege, Erziehung und Lehre – sind die Beschäftigten überlastet, weil es an Personal fehlt, weil Kolleginnen und Kollegen in Rente gegangen sind, erschöpft durch Überlastung oder krank nur noch Teilzeitarbeit leisten können; und gerade die Menschen, die dringend Betreuung und Förderung brauchen, werden dadurch benachteiligt: Pflegebedürftigkeit wird wieder zum Armutsrisiko. Überlastung ist nicht nur in der Betreuung von Menschen und im Dienstleistungsbereich, sondern auch in der Industrie zu sehen: Unter dem Druck des weltweiten Konkurrenzkampfes fordern die Industriellen, dass mehr gearbeitet werden muss, wollen also die Belastung auf die Lohnabhängigen, die sich schon durch die Inflation beschränken müssen, abwälzen.

Auf diesem Hintergrund hat die Inflation auch in Deutschland bereits zu Warnstreiks in den Seehäfen, Flughäfen, den Stahlbetrieben und der Post, in einigen Städten auch in Krankenhäusern, an Kindertagesstätten und Schulen geführt. In der Urabstimmung von ver.di bei der Post zeigt sich eine verstärkte Einflussnahme der Gewerkschaftsmitglieder: Nicht mehr nur Warnstreiks.

Die große Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine bringt Deutschland in zusätzliche finanzielle Schwierigkeiten. Lösen will die Regierung das Problem mit mehr Abschiebungen von Flüchtlingen in ihre asiatischen und afrikanischen Herkunftsländer. Doch dort herrschen Armut und Elend u.a. aufgrund der Ausbeutung durch die hochentwickelten Industrieländer mit nicht existenzsichernden Löhnen, die Verlagerung von Umweltschäden in Entwicklungsländer und durch die Auswirkungen der Pandemie. Die Regierungen der Industrieländer wollen nicht für die Spätfolgen ihrer Kolonialherrschaft aufkommen.

Die Pandemie hat einen enormen Digitalisierungsschub ausgelöst, der zu Arbeitsplatzabbau führt. Hoffnungsland für die Großindustriellen der Maschinenindustrie sind eigentlich die USA. Doch dort wird die heimische Industrie von der Regierung finanziell gegen die Konkurrenz aus der EU unterstützt. Durch ausländische Billigzulieferer können der Automobil- und Chemieindustrie gut bezahlte Arbeitsplätze für hochqualifizierte Fachkräfte noch erhalten bleiben. Doch die Unternehmer sehen für sich Wettbewerbs -nachteile durch hohe Energiekosten und fordern für den globalen Konkurrenzkampf staatliche Unterstützung

Wird in Deutschland auch nicht einmal eine Vermögens- und Erbschaftssteuer genutzt, wie in anderen europäischen Ländern, die Unternehmer sprechen von Deutschland als einem Hochsteuerland.

Wie die Armut wächst, ist in Großstädten auch bei den Tafeln zu sehen. Doch das Tafelkonzept scheint an seine Grenzen zu stoßen, denn die Agrarerzeugnis -preise steigen weiter. Nicht wenige müssen sich deshalb entscheiden, friere ich und esse genug? Oder friere ich nicht und verzichte auf Essen? Der Unternehmensberater McKinsey war Unterstützer der „Tafelbewegung“. Sein Leitspruch lautet dabei immer: Sozialleistungen und Unternehmenssteuern müssen abgebaut werden.

Deutlich wird: In der Öffentlichkeit werden Symptome der Armut bekämpft, während die gesellschaftlichen Ursachen der wirtschaftlichen Probleme und der Verarmung vertuscht werden. Wächst in Großbritannien die Einsicht, dass für einen dauerhaften Sieg eine breite Solidarität notwendig ist, so werden in Deutschland die wachsenden Widersprüche in den Branchen letztlich zum Handeln treiben.

 HB 19.03.2023


 

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