Elke gehörte zu den „leisen“, kaum wahrnehmbaren Mitgliedern unserer Gruppe, denn sie blieb immer im Hintergrund, hatte aber eine sehr wichtige Funktion inne: Es war nämlich Elke, die die „Informationsbriefe der Gruppe Arbeiterpolitik“ verschickte, die sich um die Abonnements kümmerte und auch freundlich säumige Leser:innen anschrieb, wenn diese vergessen hatten, ihre Rechnung zu begleichen. Diese Arbeit nahm sie sehr genau, nur wenige Tage vor ihrem Tod vervollständigte sie noch eine Liste von Lesern, die angeschrieben werden mussten. Auch solche Arbeiten sind in einer politischen Gruppe von großer Bedeutung, meist bei den männlichen Mitgliedern nicht beliebt und deshalb auch wenig gewürdigt und geschätzt.
Elke brachte auch Gastfreundschaft, Herzlichkeit und persönliche Beziehung in die Gruppe. Wie viele Genossinnen und Genossen mögen wohl nach der wöchentlichen Endredaktion noch zu ihr eine Treppe höher in die Küche gekommen und von ihr bewirtet worden sein? Die Diskussionen gingen dort bei Tee und köstlicher Suppe noch ein wenig weiter.
Und Elke war immer dabei, meist sehr aufmerksam zuhörend. Diskussionen in großer Runde, sich laut einmischen – das lag ihr fern. Erklärbar durch ihren schweren Hörschaden, Folge einer zu spät erkannten Mittelohrentzündung, die sie sich schon als Kind zugezogen hatte. Die Operationen unter den schlechten medizinischen Bedingungen der Nachkriegszeit waren wenig erfolgreich.
Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer fast Taubheit ging Elke einen für eine Frau ungewöhnlichen Berufsweg. Sie war die einzige Studentin im Fachbereich Bauingenieurswesen – ein anstrengender, zumutungsbeladener Weg. Nach Abschluss ihrer Ausbildung war sie auch auf den Baustellen oft die einzige Frau – anzügliche Blicke, herablassende Bemerkungen blieben nicht aus. Situationen, die viele Frauen aus Elkes Generation, die in Berufen arbeiteten, die bis dahin meist Männern vorbehalten waren, ertragen oder sich ihrer laut erwehren mussten. Aber laut werden, das konnte Elke nicht. Sie litt, aber beschloss dieser Situation ein Ende zu setzen durch ein zweites Studium zur Architektin an der Hamburger Hochschule für bildende Künste. Dort fand sie erste Freundinnen, später auch in den Architekturbüros, für die sie arbeitete. Unter Freundinnen und Frauen, da blühte Elke auf. Ihre handgefertigten Zeichnungen von Hamburger Kaimauern und einer Seniorenanlage in Schwerin: geradezu Wunderwerke an Exaktheit. Aber dann wurden ihre Fähigkeiten durch den wachsenden Einsatz von Computern weitgehend entwertet. Handzeichnungen waren nicht mehr gefragt, ihre Arbeitswelt veränderte sich radikal und Elke hatte es schwer, sich anzupassen.
Elke besaß durchaus eine klare politische Haltung, einen inneren Kompass, auch wenn dieser nicht unterfüttert war durch das Studium von marxistischer Literatur. Sie stand – vielleicht auch auf der Grundlage eigener Lebenserfahrungen – auf der Seite der Unterdrückten, Ausgegrenzten, derjenigen, die Hilfe brauchen. Als 2015 die vielen flüchtenden Menschen auch nach Hamburg kamen, war es für Elke ganz selbstverständlich ihre Kochkünste auch einer Suppenküche zur Verfügung zu stellen, die die Flüchtlinge versorgte.
Auch das war Elke für mich: „Nicht so viel sabbeln“ (Originalton), sondern tun. Praktisch, solidarisch, emphatisch. Elke war schüchtern, aber nicht ängstlich – neugierig und gelassen mochte sie sich auch auf schwierige Begegnungen einlassen. Dafür steht ihre Teilnahme 2014 an einer Bildungsreise nach Palästina. Die war anstrengend: Viele Gespräche mit Frauen aus Dörfern, mit NGOs, mit Siedlern, mit Gewerkschafter:innen, lange Wege zu Fuß, mit dem Bus, immer wieder brenzlige Situationen an check-points, an der Apartheidmauer die Luft noch vom Tränengas erfüllt. Und Elke blieb immer gelassen, fand auch ohne Worte herzlichen Kontakt zu den palästinensischen Frauen. Ohne Elkes Mithilfe wäre auch die nach der Reise entstandene Broschüre „Begegnungen mit Menschen unter Besatzung“ nicht so geworden, wie sie ist, von vielen gelobt wegen des Inhalts, aber auch wegen der vielen Fotos, die Elke ausgewählt und den entsprechenden Textstellen zugeordnet hatte.
Eine Woche vor ihrem Tod – nach einer vor etwa drei Jahren diagnostizierten unheilbaren Krebserkrankung – habe ich Elke besucht. Wir hatten drei wunderbar heitere Tage miteinander: mit vielen Gesprächen über gemeinsame Reisen, über unsere liebenswerten Söhne, über alles , was uns im Leben wichtig war, hörten Musik von Theodorakis, die sich Elke für ihren Abschied ausgesucht hatte, nahmen uns in den Arm und weinten auch ein bisschen, weil wir beide wussten, dass dies unsere letzte gemeinsame Zeit sein würde. Dass sie noch einmal ihren Geburtstag in großer Runde feiern könnte, daran glaubte Elke eigentlich nicht mehr. Sie war schon sehr schwach, konnte aber noch wenige Schritte gehen, war bei vollem Bewusstsein, für ihre Verhältnisse sehr gesprächig und völlig angstfrei.
Es gibt nur wenige Menschen, mit denen man offen und tabufrei über das nahende Lebensende sprechen kann. Elke gehörte dazu. „Es wird bestimmt eine sehr schöne Feier, nur schade, dass ich es nicht miterleben kann.“, sagte sie zu einer ehemaligen Kollegin. Und völlig offen fragte sie mich nach den letzten Stunden von Jürgen, ob er Atemnot gehabt hätte oder Schmerzen. Ich konnte sie beruhigen, denn auch Elke hatte ein Palliativteam zur Seite, das mehrmals in der Woche vorbeischaute und durch die Gabe von Opiaten und beruhigenden Medikamenten dafür sorgt, dass weder Schmerzen, Atemnot oder Panik eintreten.
Was für ein Glück, wenn man seine letzten Tage und Stunden zu Hause sein kann, umsorgt vom Ehemann, vom Sohn, seiner Lebensgefährtin, von Freundinnen und Freunden aus der Nachbarschaft, von Familie. Wie wichtig in solchen Situationen eine funktionierende Gemeinschaft ist! Und wie elend das Sterben in einem unwirtlichen Krankenhaus, in dem es an Personal fehlt oder das aufgrund der Einsparungen völlig überlastet ist. Sterbende werden da oft alleine gelassen, isoliert oder werden überflüssiger Weise in Intensivstationen noch an Infusionen angeschlossen, denn das bringt Geld.
All dies blieb Elke erspart, aber ihr friedvoller und sanfter Tod war nur möglich, weil liebevolle und solidarische Menschen ihr zur Seite standen. Ach, würden wir doch auch in unserem politischen Leben so miteinander umgehen können: mit Respekt, Zärtlichkeit und Offenheit. Dann wäre auch so manche politische Auseinandersetzung ein wenig leichter.
Brigitte D.
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