Tarifrunde 2023:
Trotz hoher Gewinne der Post kein Inflationsausgleich für Beschäftigte

Zusteller*innen vor dem ZSP 12 in Berlin

Zum Ende des Jahre 2022 kündigte ver.di die Ende 2020 mit der Deutschen Post AG abgeschlossenen Lohntarifverträge[1]. Die Gewerkschaft musste sich mehreren Herausforderungen stellen.

Der Abschluss 2020 schien zum damaligen Zeitpunkt ein recht guter zu sein[2]. Da die Post in der Zeit der Pandemie ihr Paketgeschäft stark steigern konnte, hatte sie außergewöhnlich hohe Gewinne erzielt. Dies erlaubtes ihr, die Löhne leicht über der Inflationsrate zu erhöhen.

Nach einem Jahr entpuppte sich die zweijährige Laufzeit des Tarifvertrages als Nachteil. Ab Anfang 2022 schossen die Lebenshaltungskosten auf etwa 8% im Jahresdurchschnitt in die Höhe, so dass die Beschäftigten einen erheblichen Rückgang ihrer Kaufkraft zu verzeichnen hatten. Im gleichen Zeitraum machte die Post von Quartal zu Quartal Rekordgewinne. Das Vorsteuerergebnis des Konzerns für das Jahre 2022 mit 8,4 Milliarden Euro übertraf das schon außergewöhnlich gute von 2021 mit acht Milliarden. Die Dividenden der Aktionäre stiegen 2022 um 35% nach über 30% im Vorjahr.

Die Deutsche Post AG war trotz der exzellenten Wirtschaftszahlen nicht bereit den Tarifabschluss von 2020 aufzubessern. Sie zahlte auf freiwilliger Basis lediglich zweimal eine Coronaprämie, die steuer- und sozialabgabenfrei war.

Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich 2022 sogar noch, weil die Post die Verträge einer großen Zahl von Kolleg*innen nicht verlängerte, die in der Anfangszeit von Corona befristet eingestellt worden waren.

Tausende von Kolleg*innen, auch solche, die bereits jahrelang bei der Post angestellt waren, kündigten aufgrund der immer unerträglicher werdenden Arbeitsverdichtung ihr Beschäftigungsverhältnis. Und von denen, die bei der Post blieben, nahmen 2022 fast ein Drittel die seit 2018 bestehende Möglichkeit wahr, sich durch Verzicht auf Lohnerhöhungen mehr Freizeit zu verschaffen (Entlastungstage). Wer in den letzten Jahren alle Möglichkeiten dieses Tarifvertrages ausgeschöpfte hatte, kam 2022 auf fast sechs Wochen zusätzlicher Erholungszeit.

Als die Post im Herbst 2022 nicht mehr genügend Arbeitskräfte für den anstehenden Weihnachtsverkehr finden konnte, fiel ihr nichts weiter ein, als den Druck auf die Stammbelegschaft nochmals zu steigern. Erhöhte Krankenstände waren die Folge, Abbrüche der Zustelltouren Tagesgeschehen. In vielen Regionen erhielten die Bürger nur noch alle vier Tage Post.

Aufstellung der Tarifforderungen unter Beteiligung der Mitglieder

Wie üblich unterbreitete der Fachbereich zur Vorbereitung der Tarifrunde den Gremien einen Diskussionsvorschlag. Die tabellenwirksame Forderung sollte sich auf 10% belaufen, ergänzt durch einen Festbetrag. Dabei schielte er auf die steuer- und sozialabgabenfreie Inflationsausgleichssonderzahlung (IA-SZ) von 3.000 €, die die Bundesregierung auf Vorschlag des DGB im Einkommenssteuerrecht abgesichert hatte[3].

Die ersten Debatten in den Gremien der Gewerkschaft und den Betriebsgruppen verliefen verhalten. Kaum einer konnte sich vorstellen, wie eine so hohe Forderung durchgesetzt werden konnte. In den letzten Jahrzehnten hatte sie es nur mit einstelligen Forderungen zu tun gehabt[4].

Mit der Befragung der Mitglieder, die seit der Niederlage 2015 im Kampf um die Ausgliederung der Delivery[5] vor den Tarifrunden zur Forderungsfindung vom Fachbereich durchgeführt wird, kam Bewegung in die Diskussion. Insgesamt 43.139 Kolleg*innen, mehr als ein Drittel der Gewerkschaftsmitglieder bei der Post, beteiligten sich an der Debatte. Eine Forderung von 10% hielten 39% der Abstimmenden für ‚viel zu gering‘ und 26% für ‚eher zu gering‘. Zweidrittel wollten eine deutlich höhere Lohnforderung aufstellen als die von der Tarifabteilung vorgeschlagene. Wenn es über die Erhöhung der Entgelttabellen noch einen zusätzlichen Betrag geben sollte, so eine der Fragen des Fachbereichs, wünschte sich knapp die Mehrheit eine Kombination aus monatlicher Festbetragserhöhung und einmaliger Sonderzahlung (Z.B. Urlaubsgeld).

Die Konzerntarifkommission beschloss, sich auf eine Lohnforderung von 15% zu konzentrieren. Für kleinere Gruppen wie die Auszubildenden und die Studierenden sowie die Beamten stellte sie Nebenforderungen auf.

In einer Vielzahl von Betriebsversammlungen wurde die Forderung von den eingeladenen Gewerkschaftsfunktionären vorgestellt. Sie erhielten für die Entgeltforderung großen Zuspruch.

Der Fachbereich E[6] bezog in den kommenden Wochen zum ersten Mal die aktiven Mitglieder in die Tarifrunde ein. Über den Verlauf der drei Verhandlungsrunden wurde unmittelbar nach deren Ende im Netz berichtet. Die Teilnehmerzahl stieg von etwa 1.000 bei der ersten auf über 3.000 bei der dritten Videokonferenz. Fragen konnten in den Chat gestellt werden und wurden teilweise beantwortet. Die engagierten Kolleg*innen fühlten sich gut informiert und endlich einmal mitgenommen. Allerdings gab es keine offenen Diskussionen.

Flächendeckende Warnstreiks

Die Fachbereichsspitze wie die aktiven Mitglieder wussten, dass sie die Post nur zu einem halbwegs vernünftigen Angebot bewegen konnten, wenn sie ihre Forderung von Anfang an mit Arbeitskampfmaßnahmen unterstreichen würden. So rief die Zentrale Arbeitskampfleitung bereits unmittelbar vor der zweiten Verhandlungsrunde zu ersten Warnstreiks auf. In die zweitägigen Arbeitsniederlegungen wurden fast alle großen Betriebsstellen von Brief und Paket einbezogen sowie ein Teil der Zusteller.

Die Post war zwar beeindruckt, legte aber in der zweiten Verhandlungsrunde Mitte Januar kein Angebot vor. In den Sondierungsgesprächen verschärfte sie die Tonlage. Sie erklärte, allenfalls über die Zahlung der IA-SZ reden zu wollen. Sie kündigte am Schluss der zweitägigen Gespräche aber an, beim nächsten Treffen einen Vorschlag zu unterbreiten.

Der Gewerkschaft war klar, dass sie nur dann ein halbwegs vernünftiges Angebot vorgelegt bekäme, wenn sie die Arbeitskampfmaßnahmen intensivieren würde. In zwei Wellen à zwei und drei Tagen wurden alle Kolleg*innen zu ganztägigen Warnstreiks aufgerufen. Insbesondere dort, wo es gut verankerte Vertrauensleute gab, war die Streikbeteiligung hoch. An den Arbeitsorten der Beschäftigten entstanden unzählige. Sie stärkten das Selbstwert- und Gemeinschaftsgefühl. Die Bilder wurden über adhoc eingerichtete WhatsApp-Gruppen verbreitet. In Berlin besuchten lokale Paketauslieferungsbasen benachbarte Verteilzentren. An einigen Orten wurde der Grill angeschmissen und ein genussvolles Frühstück vor der eigenen Betriebsstätte organisiert. Viele kleinere Videoclips entstanden, die umgehend die Runde machten. In ihnen wurden Streikthemen aufgegriffen, die Raffgier der Postvorstände wie der Aktionäre attackiert, die Arbeitsbelastung thematisiert oder über Kurzdemonstrationen wie sonstige fantasievolle Aktionen berichtet. Manche Beiträge waren humorvoll, andere schon fast kleine Theaterstücke. Die Kolleg*innen hatten die Schnauze voll. Tausende Beschäftigte traten in diesen Tagen der Gewerkschaft bei.

Höhepunkt der Aktivitäten vor der dritten Verhandlungsrunde bildeten regionale Kundgebungen. Allein in Berlin nahmen über 2.000 Kolleg*innen bei fußkaltem Wetter an der Veranstaltung auf der Schillingbrücke nahe der Zentrale von ver.di teil. Sie kamen aus Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Es sprachen bei guter Stimmung und aufmunternder Musik der ver.di Vorsitzende Wernicke, die Fachbereichsvorsitzende Kocsis, mehrere Regionalvertreter des Fachbereiches E, einige Betriebsräte sowie abschließend der Altvordere Bsirske, der für seine Rede den stärksten Beifall bekam.

Regionale Kundgebung in Berlin auf der Schillingbrücke nahe der ver.di Zentrale

Verhandlungen scheitern

In der dritten Verhandlungsrunde Anfang Februar machte die Post nach zähen Gesprächen ver.di ein Angebot. Es sah vor, dass die Beschäftigten die IA-SZ von 3.000 € verteilt auf zwei Jahre bekommen sollten. 2023 je Monat 150 € und 2024 monatlich 100 €. Am 01.01.2024 sollte die Prämie von 150 € in die Lohntabellen eingearbeitet werden. Im Dezember 2024, also erst kurz vor Beginn der nächsten Tarifrunde, würden alle Beschäftigten eine weitere tabellenwirksame Erhöhung der Gehälter von 190 € erhalten.

Dass die Post die 3.000 € IA-SZ anbieten würde war nicht überraschend. Dass sie aber bei den tabellenwirksamen Erhöhungen Festgeldbeträge vorschlug, hatten die wenigsten erwartet. Sie wollte diesmal die unteren Einkommen deutlich stärker anheben als die oberen.

Das Angebot bedeutete für die meisten Tarifkräfte einen realen Einkommensverlust für das Jahr 2023 und sicher für alle einen für das Jahr 2024, unterstellt man, dass die Inflationsrate sich im kommenden Jahr kaum nach unten bewegen wird.

Die Verhandlungskommission von ver.di lehnte das Angebot nach kurzer Beratung ab, die Konzerntarifkommission folgte ihr einhellig. Ver.di Bund beschloss daraufhin die Einleitung der Urabstimmung über einen unbefristeten Streik.

Urabstimmung und neue Verhandlungsrunde

Die Urabstimmung fand zwischen dem 20. Februar und dem 8. März statt. 85,9% der Mitglieder, die ihre Stimme abgaben, lehnten das Angebot der Post ab und erklärten, sich aktiv an unbefristeten Streikmaßnahmen beteiligen zu wollen. Das Ergebnis war noch nicht öffentlich bekannt, da trudelte bei ver.di ein Brief der Post mit der Aufforderung ein, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, sollten über 75% der Gewerkschaftsmitglieder die Offerte der Post ablehnen.

Die Post erklärte ihre Verhandlungsbereitschaft just am Tag ihrer Bilanzpressekonferenz. Dort präsentierte sie für das Geschäftsjahr 2022 erneut wachsende Umsatzahlen und einen Anstieg des Gewinns. Sie wollte sich den für den Vorstand und die Aktionäre schönen Tag nicht durch Dauerfragen nach dem Streik und seinen Folgen für das Unternehmen trüben lassen.

Die Post ging intern davon aus, dass sie sich nach der auch für sie überraschend starken Beteiligung der Mitglieder an den Warnstreiks auf eine längerfristige Auseinandersetzung werde einrichten müssen. Die Planbarkeit von Gegenmaßnahmen war durch die von ver.di angekündigte Taktik, nur tageweise die Betriebsstellen bestreiken zu wollen, deutlich erschwert. Ein Katz und Maus Spiel drohte, mit eskalierender Wirkung. Auch wusste die Post, dass nach den guten Wirtschaftszahlen der letzten Jahre die Öffentlichkeit hinter den Beschäftigten stehen würde. Die Kritik der letzten Monate an den miserablen Zustellleistungen vor allem im Briefbereich hatte ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit bereits erheblich geschadet. Auch signalisierten viele Großkunden, im Falle eines unbefristeten Streiks zu Konkurrenten wechseln zu wollen. Der Post drohte der dauerhafte Abbruch lukrativer Geschäftsbeziehungen.

Das Verhandlungsergebnis

Nach zähen Verhandlungen am Freitag den 10.03. machte die Post zu nächtlicher Stunde ein Angebot, das die Verhandlungskommission von ver.di akzeptierte und am Folgetag die Konzerntarifkommission den Mitgliedern zur Annahme empfahl. Es sah gegenüber dem Angebot vom Februar Einkommensverbesserungen von etwa 25% vor.

Im Einzelnen enthielt es folgende Regelungen:

  1. Von Januar bis April 2023 gibt es für alle Vollzeitbeschäftigten monatlich 255 € IA-SZ
  2. Von Mai 2023 bis März 2024 erhalten Vollzeitkräfte monatlich 180 € IA-SZ
  3. Am 1. April 2024 werden die Lohntabellen in allen Lohngruppen und Gruppenstufen um 340 € erhöht
  4. Die individuellen Besitzstandsbeträge wie die persönlichen Besitzstandszulagen werden entsprechend der jeweiligen prozentualen Lohnerhöhung vom April 2024 erhöht
  5. Die Zuwendung, deutsch Weihnachtsgeld, wird zukünftig bereits nach einem Monat Beschäftigungszeit anteilmäßig bezahlt. Seit 2018 galt, dass ein Anspruch auf Weihnachtsgeld erst nach zwei Jahren besteht. Die Hälfte der Zuwendung kann in monatlich gleichbleibenden Raten zusätzlich zum Lohn ausgezahlt werden. Die Neueingestellten haben anfangs keine Wahlmöglichkeit
  6. Die Zulage für Beamte wird weitergezahlt
  7. Weitere Regelungen für spezielle Beschäftigtengruppen wurden getroffen (Altersteilzeit, Besitzstand Delivery, Entlastungszeit, Studierende)
  8. Teilzeitbeschäftigte erhalten die Leistungen anteilig im Verhältnis zu ihrer Wochenarbeitszeit
  9. Die Tarifverträge haben eine Laufzeit von zwei Jahren

Bewertung des Abschlusses

Während der Laufzeit des Tarifvertrages erhält jede vollzeitbeschäftigte Tarifkraft 6060 € mehr Einkommen unabhängig von seiner Einstufung in die Lohntabellen, wobei die 3.000 € der IA-SZ nicht tabellenwirksam werden, die restlichen 3060 € schon.

Das Verhandlungsergebnis bricht mit der Logik aller bisherigen Lohntarifrunden. Bei früheren fiel eine Tariferhöhung so aus, dass prozentual das Verhältnis der Lohngruppen und Entgeltstufen zueinander gleichblieb. Wenn es Eingriffe in das Lohnsystem gab, traf es nur die, die erst nach dem Abschluss ein Arbeitsverhältnis bei der Post begründeten.

Durch die Erhöhung der Tabellenlöhne um einheitlich 340 € fallen die prozentualen Lohnerhöhungen für die Beschäftigten äußerst unterschiedlich aus. Es profitieren die unteren Lohngruppen, die mittleren wie die oberen werden benachteiligt.

Nach Angaben der Post beträgt die durchschnittliche Lohnerhöhung im April 2024 11,5%[7]. Die Zahl ist allerdings geschönt, da sie die ersten drei Nullmonate unter den Tisch fallen lässt. Zieht man die für die Berechnung der tabellenwirksamen Erhöhung für das Jahr 2024 mit heran, kommt lediglich auf eine Lohnerhöhung von 8,6%, auf die gesamte Laufzeit des Tarifvertrages bezogen ergibt das eine jährliche Lohnsteigerung von 4,3%.

Am Ende des Jahres 2024 ist die IA-SZ verraucht. Bei einer unterstellten Inflationsrate von 8% steht der Durchschnittsbeschäftigte Ende 2024 ohne Inflationsausgleich da. Da er schon 2022 Reallohnverluste hinnehmen musste, hat sich in nur drei Jahren sein Realeinkommen um etwa 13% verringert. Bei seinem Gehalt von aktuell 3.000 € fehlen ihm Ende 2024 gegenüber dem Januar 2022 knapp 400 € Brutto, in der Haushaltskasse etwa 200 €.

Bei der untersten Lohngruppe beträgt für das Jahr 2024 die Erhöhung 12,1%, bei der höchsten Lohngruppe 4,5%. Auf zwei Jahre umgerechnet bedeutet dies eine Erhöhung um 6,05% bei den Einstiegslöhnen und bei den höchsten Tarifgehältern 2,25%. Alle anderen liegen zwischen den Spannen.

Die einzigen Profiteure der Festgeldbeträge sind die Auszubildenden und die Studierenden. Ihre prozentualen Einkommenszuwächse liegen über der Inflation. Das liegt schlicht daran, dass ihr bisheriges Einkommen deutlich unter dem der Tarifkräfte lag.

Verlierer der Tarifrunde sind auch die Sozialkassen. Rechnet man die Arbeitgeberbeiträge mit ein, so entgehen ihnen pro Beschäftigten bei einer Gesamtabzug von etwa 40% 1.120 €. Rechnet man das hoch auf 120.000 Vollzeitbeschäftigte bei Post, kommt man schon auf 134, 4 Millionen Euro. Da auch andere Gewerkschaften sich auf die Zahlung der IA-SZ eingelassen haben, kommen insgesamt Milliardenbeträge zusammen. Die Löcher, die dadurch in den Sozialkassen entstehen, werden die Beschäftigten in den kommenden Jahren durch die Erhöhung ihrer Beiträge stopfen müssen. Wer die IA-SZ als Erfolg feiert, wie die DGB-Spitze[8] es tut, untergräbt mit ihrer Anwendung das Fundament, auf dem er steht.

Ergebnis der zweiten Urabstimmung

Bei der abschließenden Urabstimmung votierten 61,7% der Gewerkschaftsmitglieder für die Annahme des Angebotes.

Die Zustimmung dürfte bei denjenigen, die noch nicht lange bei der Post beschäftigt sind, besonders hoch gewesen sein. Für sie waren die anfänglich hohen monatlichen Festbeträge attraktiv. Insbesondere die zu erwartende erste Zahlung in Höhe von 1020 € im April 2023 für die ersten vier Monate des Jahres war verlockend. Mit ihr lassen sich einige Rechnungen begleichen und für die Kleidung der Kinder ist auch noch etwas übrig. Die Weihnachtsgeldregelung führt darüber hinaus bei ihnen zu einer weiteren Erhöhung der monatlichen Gehälter.

Wer allerdings schon länger bei der Post arbeitet und nicht an die baldige Aufkündigung seines Beschäftigungsverhältnisses denkt, war mit dem Ergebnis weniger zufrieden. Für ihn war wichtig, wie sich das Ergebnis dauerhaft auf sein monatliches Gehalt auswirken würde. Trotz der Komplexität des Abschlusses, die eine Umrechnung auf die eigene Einkommenssituation extrem erschwerte, merkten viele dieser Beschäftigtengruppe schnell, dass sie bis Ende 2024 Reallohnverluste werden hinnehmen müssen.

In den gewerkschaftsinternen Diskussionen wie aber auch bei den Auseinandersetzungen unter den aktiven Kolleg*innen sorgte im Vorfeld der zweiten Urabstimmung insbesondere der Umstand für Entrüstung, dass das Verhandlungsergebnis in keinem Punkt den Ausgangsforderungen entsprach. Weder gab es eine lineare Lohnerhöhung für alle, noch eine tabellenwirksame Einkommensverbesserung für das Jahr 2023, noch eine Laufzeitbeschränkung auf ein Jahr. Stattdessen gab es eine tarifliche Lohnerhöhung für 2024, doch welche Forderung für dieses Jahr aufgestellt werden sollte war nicht Teil der Mitgliederbefragung Ende 2022 gewesen. Für dieses Jahr hatten sie weder eine Lohnforderung diskutiert noch aufgestellt. Dies warf unter ihnen die Frage auf, welchen Sinn eine Befragung der Beschäftigten vor den Tarifrunden macht, wenn am Ende der Arbeitgeber die Struktur des Ergebnisses allein bestimmt.

Die kompletten Missachtung der Mitgliederdiskussion wird ver.di in der nächsten Zeit vielleicht noch mehr zu schaffen machen als die magere Erhöhung der Tariflöhne.

Dass die Unzufriedenheit eines Teils der Mitglieder über den Abschluss noch nicht abgeklungen ist, zeigte sich bei der letzten Videokonferenz des Fachbereichs zum Ergebnis der Urabstimmung. Es gab eine Vielzahl von ablehnenden Stellungnahmen im Chat, die den Fachbereichsvorstand sichtbar nervös machten. Denn bereits Mitte des Jahres stehen die Tarifverhandlungen zur Fremdvergabe von Fahr- und der Zustellleistungen an und am Ende des Jahres läuft der Vertrag über den Ausschluss von betriebsbedingten Beendigungskündigungen aus. Setzt sich der Frust über das Tarifergebnis bis dahin fest, wird es schwierig werden, die Kolleg*innen erneut zu mobilisieren.

Eine nennenswerte Opposition gegen den Abschluss hat sich allerdings nicht herausgebildet. Immerhin meldeten sich in einigen Niederlassungen Vertrauensleute zu Wort und forderten, den Abschluss abzulehnen[9]. Ob sie über größeren Rückhalt unter der Belegschaft verfügen, lässt sich im Moment nicht einschätzen.

H.B., 05.04.2023

Postkolleg*innen zu Besuch bei den Streikenden des Öffentlichen Dienstes
Gruppenfoto der Kolleg*innen aus Mittenwalde und Zernstdorf

[1] Es handelt sich um die Grundtabellen, die Tabellen für die unterschiedlichsten Entlastungszeiten, die Vergütungen für die Techniker und den Vertrieb. Der Text bezieht sich allein auf die Grundtabellen. Die Aussagen über sie sind wesensgleich auf die anderen Vergütungsgruppen zu übertragen.
[2] Vgl. Arpo 1’21, S. 13f.
[3] Der DGB wollte ursprünglich, dass die IA-SZ zusätzlich zu einer Erhöhung der Tarifgehälter gezahlt wird, nicht anstatt.
[4] Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass Postgewerkschafter eine zweistellige Lohnforderung beschlossen haben. Die Vorläuferorganisation des Fachbereichs E, die Deutsche Postgewerkschaft (DPG), hatte im November 1973 zusammen mit der ÖTV eine Lohnforderung von 15% aufgestellt. Nach mehrtägigen Streiks kam es zu einem Abschluss von 11%.
[5] Vgl. Arpo 2/3’18, S. 19f.
[6] Seit der Organisationsreform von 2021 heißt der Fachbereich 10 (Postdienste, Speditionen und Logistik) Fachbereich E. Der FB 10 hatte sich mit Händen und Füßen gegen die Zusammenlegung mit dem Fachbereich Handel gewährt und sich schließlich durchgesetzt.
[7] Dies entspricht etwa dem Einkommen eines Zustellers der Lohngruppe 3, Entgeltstufe 7. Um die zu erreichen, muss er mindestens vierzehn Jahre bei der Post beschäftigt sein.
[8] Angeblich soll ver.di sich dagegen ausgesprochen haben.
[9] Vgl. Vernetzung Vertrauensleute Post: NEIN zum neuen Angebot! – JA zu einer starken ver.di! – Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften.


 

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