Der ÖD-Abschluss:
Ein erwartbarer Reallohnverlust

Der Ablauf der Tarifrunde

Nach dem Postabschluss blieben die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst (mit GdP, GEW, der IG BAU sowie dem Beamtenbund + Tarifunion) die letzten in der Reihe der größeren und Leitlinien setzenden Branchen von IG BCE, IGM und Post in 2022/23. Dabei bedeutete insbesondere das Post-Ergebnis von 4,3 % tabellenwirksamer Erhöhung (vergleiche Arbeiterpolitik 2/2023) eine klare Vorgabe in Richtung Reallohnverlust für den ÖD.

Diese Linie machten die AG sofort klar in der 2. Verhandlungsrunde mit dem Angebot einer linearen Erhöhung von 3 % in 2023 und weiteren 2 % in 2024. Zudem sollten 2500 € Inflationsprämie steuer- und abgabenfrei in zwei Tranchen, 1500 € im Mai 2023, 1000 € im Januar 2024, gezahlt werden. Die Laufzeit sollte sich über 27 Monate erstrecken. Diese Vorstellungen hielt Nancy Faeser für einen „Ausdruck des Respekts“.

Für die etwa 2,5 Mill Beschäftigten von Bund (134000) und Kommunen (mehr als 2,4 Mill.) hatte ver.di 10,5 % bei einer Laufzeit von 12 Monaten, mindestens jedoch 500 € ohne Inflationsausgleichsbetrag gefordert. Das Angebot der Regierung in Höhe von 3000 € (steuer- und abgabenfrei) im Rahmen der Konzertierten Aktion sollte nicht in die Verhandlungsmasse eingehen.

Die 3. Verhandlungsrunde Ende März wurde von Warnstreikmaßnamen mit einer halben Million Teilnehmern öffentlichkeitswirksam unterstützt, zum Teil zeitgleich mit Aktionen der EVG. Das dort von den Arbeitgebern (Nancy Faeser) vorgelegte Angebot (‚Denkmodell‘, angeblich nicht mit Karin Welge/OB Gelsenkirchen/Präsidentin des VKA abgestimmt) von 8 % (mindestens 300 €) und einmaligem Inflationsausgleich bei 27monatiger Laufzeit wurde von den gewerkschaftlichen Verhandlungsführern und der Bundestarifkommission abgelehnt. Als Gründe wurden von ver.di die unzureichende Berücksichtigung der aktuellen und in 2024 zu erwartenden Inflationsbelastungen der unteren und mittleren Einkommen und die mit diesem Angebot nicht ausgeglichenen Reallohnverluste des Jahres 2022 angeführt. Die Arbeitgeberseite rief daraufhin die Schlichtung an.

Das Ergebnis der Schlichtung vom 15. April sah die gestückelte Zahlung der 3000 € Inflationsausgleichszahlung (1240 € im Juni 23, bis Februar 24 jeweils 220 mtl., für Auszubildende die Hälfte davon). Ab März 24 steht die Erhöhung um 200 € plus 5,5 % (Minimum 340 €, für Auszubildende analog 150 €) an. Die Laufzeit wurde auf 24 Monate bis zum 31.12.24 festgelegt.

Der Schlichtungsvorschlag wurde eine Woche später zur Tarifeinigung, die BTK empfahl die Annahme fast einstimmig. Gewerkschaftsseitig wurden die überproportionalen Erhöhungen ab März 24 besonders betont, die in den unteren Einkommensbereichen bis über 16 % ausmachen, bei den obersten über 8 %. Die den Arbeitgebern geforderten Sonderopfer für Beschäftigte im Gesundheitsbereich und den Sparkassen wurden abgewehrt.

Die Arbeitgeberseite stellte die hohen Gesamtkosten für Bund (4,95 Mrd.) und Kommunen (17 Mrd.) heraus, hielt die Einigung aber insgesamt für einen vertretbaren Kompromiss. Insbesondere für strukturschwache Kommunen bedeuten die Kosten den Anlass zu einem erneuten Versuch eines Schuldenschnitts.

Der Widerstand der Arbeitgeberseite des Nahverkehrs in Sachsen gegen die Tarifeinigung erzwang ein Nachsitzen um 2 Tage bis zum 17.5.23, der Problempunkt konnte aber erwartungsgemäß ausgeräumt werden. Die Mitgliederabstimmung über den Einigungsvorschlag vom 4. – 12.5 erbrachte fast 66 % Zustimmung, offen bleibt dabei aber wie üblich, wie viele überhaupt abgestimmt haben.

In den ver.di-Texten über die Tarifeinigung fiel – wie schon beim Postabschluss – auf, dass die übliche und für Vergleiche unabdingbare prozentuale tabellenwirksame Erhöhung nicht veröffentlicht wurde. Rechnet man die von Frank Wernecke angegebene Steigerung von 11,5 % für die Monate 3/ bis 12/24 auf eine jährliche Steigerung um, ergeben sich nominell 4,79 %, die Spanne reicht dementsprechend von knapp 3,4 beim höchsten bis 7 % beim niedrigsten Tabellengehalt. Auch wenn nur 200 € als einheitlicher Sockel von den AG zugestanden wurde statt des geforderten Mindestbetrages von 500 €, verändert sich durch die Kombination Sockel und prozentualer Erhöhung das Gesamtgehaltsgefüge zu Gunsten der unteren Tabellenbereiche. Hier dürfte die besondere Belastung durch die Inflationshöhe bspw. bei Lebensmitteln und Energie berücksichtigt worden sein. ver.di erklärte, dass ein 500 €-Mindestbetrag nicht durchsetzbar gewesen sei, eben so wenig eine einjährige Laufzeit.

Die Beschäftigten zahlen für die Regierungspolitik

Bei der Bewertung der materiellen Steigerungen dürfte das Ergebnis von Marcel Fratzscher (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) treffend beschrieben worden sein: „Allerdings bedeutet dieser Tarifabschluss einen weiteren Verlust an Kaufkraft und Wohlstand für die Beschäftigten. Denn nach einer Inflationsrate von acht % 2022, sechs % 2023 und wohl circa 3 % 2024 werden die Löhne im öffentlichen Dienst am Ende der Laufzeit circa 6 % weniger Kaufkraft haben. Das bedeutet, dass es mindestens noch weitere fünf Jahre dauern wird, bis die Löhne im öffentlichen Dienst diesen Kaufkraftverlust wieder aufgeholt haben.“ Ob die letzte Schlussfolgerung so eintreten wird, muss derzeit sicherlich offen bleiben, der Abschluss führt aber unzweifelhaft die Reallohnverlustreihe der letzten Jahre weiter. Von der gewerkschaftlichen Forderung blieb nach dem sattsam bekannten Muster ungefähr die Hälfte übrig, so dass die Arbeitgeber insgesamt mit dem Ergebnis sehr zufrieden sein können. Die Kämmerer werden ohnehin 5 bis 6 % Personalkostensteigerung ab der Bekanntgabe der ver.di-Forderung in ihre Etatplanungen für 2023 eingestellt haben, insofern ist nicht nur die geforderte Planungssicherheit gewährleistet, sondern ein finanzielles Sonderopfer von den Tarifbeschäftigten des ÖD vertraglich fixiert worden.

Die politische Einordnung dieses Tarifabschlusses mit den deutlichen Reallohnverlusten muss die Interessenlage der (organisierten) Beschäftigten im Zusammenhang mit den Vorgaben aus der Konzertierten Aktion (Scholz, Fahimi, Dulger) als nahezu optimaler Form der Zusammenarbeit aufgreifen. Denn damit war der Verhandlungskorridor festgelegt, den in diesem Falle die Sozialdemokraten auf Regierungs- und Arbeitgeberseite sowie in den Gewerkschaftsspitzen abgestimmt hatten, inklusive der abgaben- und steuerfreien Inflationsausgleichsprämie von 3000 €, die ver.di ursprünglich nicht in die zu verhandelnden Tarifsteigerungen hatte aufnehmen wollen. Diese Vorgabe war jedoch schon in der Postrunde fallen gelassen worden.

Mit dieser Verzichtstarifrunde im ÖD wurde ganz wesentlich finanzieller Druck bei den Arbeitgebern auf Kosten der Beschäftigten abgebaut. Die v.a. durch den Wirtschaftskrieg gegen Russland angestiegene Inflationsrate wird nicht ausgeglichen, zusätzlich werden jetzt Kriegskosten wie die Aufnahme der über 1 Million ukrainischen Flüchtlinge zu den Sonderkonditionen der EU – und andere Asylsuchende faktisch diskriminierend – in die deutschen Sozialsysteme direkt abgewälzt: Jedes Gewerkschaftsmitglied wird damit explizit zur Kasse gebeten[1].

Im Takt der Konzertierten Aktionen

Die Gründe für den fein ziselierten Abschluss treten damit deutlich zu Tage, denn in der Unterstützung der nationalistischen bis rechtsradikalen, in Teilen faschistischen ukrainischen Regierung sind sich die ver.di-Führung, selbstverständlich auch andere DGB-Gewerkschaften, und die Bundesregierung einig. Ein Blick auf die Wahlentscheidungen von DGB-Gewerkschaftern bei Bundes- oder Landtagswahlen zeigt eindeutig die Unterstützung des bürgerlichen Lagers auf, das mittlerweile bis in die Mitte der Linkspartei reicht. Dazu gehört dann auch, dass eine kritiklose Integration in die westliche Wertegemeinschaft ( im Kern = Profitorientierung) zumindest hingenommen wird, weil damit perspektivisch die Sicherung des derzeitigen Lebensstandards als einem der Welt höchsten, wenn auch mit vorübergehenden Abstrichen, am ehesten gewährleistet scheint.

Die mit Hinweis auf die potentielle Streikbereitschaft proklamierte vergebene Chance, wie von den Kolleg*innen des ‚Netzwerk(s) für eine kämpferische und demokratische ver.di‘ am 24.4.23 konstatiert, muss insofern als inexistent eingestuft werden. Auch hat die gewerkschaftliche Tarifkommission, wie Orhan Akman (junge Welt vom 27.4.23) meint, keinesfalls schlecht verhandelt, im Gegenteil erfolgte die Einordnung in den gesamtpolitischen Rahmen in exzellenter Art und Weise. Frank Wernecke hatte übrigens schon direkt nach dem Schlichtungsvorschlag durchblicken lassen, dass er sich von einem Vollstreik keinerlei Verbesserungen verspreche.

Die bekannt gewordenen Diskussionen, in denen eine eindeutige Ablehnung des Tarifabschlusses formuliert wurde wie im Kontext der Berliner Krankenhausbewegung, konnten keine Breitenwirkung entfalten und bleiben insofern eher isolierte Maßnahmen. Die Anzahl der streikbereiten Aktiven kann den politisch fest verankerten Apparat auch schon deshalb nicht sonderlich beeindrucken, weil die Mehrzahl der sozialdemokratischen Gewerkschafter nicht zu weitergehenden Maßnahmen bereit ist. Die enttäuschten Aktiven werden schlichtweg mit den 70000 Neumitgliedern des ersten Quartals 2023 verrechnet und damit auf den bürgerlich-sozialdemokratischen Mindeststandard eingestampft werden.

Gerade der Ablauf der Abstimmungen bei der Post – zunächst 85,9 % für Streik, dann 61,7 % für die Annahme eines insgesamt schlechten Abschlusses – hat unmissverständlich gezeigt, dass die ver.di-Führung sich momentan auf ihre konventionellen/konservativen Mitglieder verlassen kann. Beispielhaft dazu Lars Klingbeil in der WELT am Sonntag vom 18.3.23 gegen das Ansinnen der bundesdeutschen Arbeitgeber, das Streikrecht einzugrenzen: „Wir haben hierzulande im europäischen Vergleich sehr wenige Streiktage. Und wir haben es in Deutschland mit einer Arbeitnehmerschaft zu tun, die sich seit Jahrzehnten höchst verantwortlich verhält und das gesamtwirtschaftliche Wohl stets im Blick hat.“ Damit ist die schon seit Jahrzehnten geltende Bindung an das (deutsche) Kapital nicht nur zur Beruhigung desselben beschrieben, sondern auch die Ideologie des überwiegenden Teils der abhängig Beschäftigten auf den Punkt gebracht. Yasmin Fahimi & Co konnten deshalb das Konzept der Konzertierten Aktion als nationales Einheitsprojekt ungefährdet benutzen.

Für die nächste Tarifrunde bieten sich einige Schwerpunkte quasi automatisch an: Inflationsausgleich plus hohem Sockelbetrag, die Neuregelung der Altersteilzeit (TVFlexAZ) ab 63 Jahren oder eine echte Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich. Politisch naheliegende Forderungen wie die Abschaffung des Niedriglohnsektors oder aber der Einführung einer nennenswerten Vermögenssteuer werden sich allerdings derzeit nicht bei den Mitgliedern verankern lassen. Gleichwohl wären sie sowohl in Richtung Reduzierung der gegenwärtigen Spaltungslinien als auch für die finanziellen Spielräume von eminenter Bedeutung.

29.5.23


[1] Berechnungen der NachDenkSeiten vom 19.5.23 zufolge belaufen sich die direkten und indirekten Kosten der deutschen Kriegsbeteiligung inzwischen auf 577,4 Milliarden €, das entspreche 14000 € pro Haushalt.


 

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