Seit mehr als 70 Jahren regiert die SPD in Bremen, mal unangefochten allein, mal in wechselnden Koalitionen. Gab es in den ersten Jahrzehnten noch eine Wahlbeteiligung von 80% und mehr, nahm diese seit den 80er Jahren ständig ab – und mit ihr die Zustimmung für die SPD. Die Langzeitarbeitslosigkeit blieb in den letzten Jahren hoch. Die Schulden wuchsen beständig. Seit den 80er Jahren herrschte nur noch Mangelverwaltung. Zwar hat Bremen nach Hamburg das zweithöchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Doch da viele gut bezahlte Facharbeitskräfte (z. B. bei Daimler) in Niedersachsen wohnen, geht ein großer Teil der Einkommenssteuerzahlungen in niedersächsische Kommunen, an ihren Wohnort. Wie es durch ein Bundesgesetz geregelt ist.
Dass der SPD der Machtverlust erstmals bei der Bürgerschaftswahl 2019 drohte, lag auch daran, dass die CDU lange Zeit nicht über geeignete Herausforderer verfügte, die der SPD gefährlich werden konnten. Das gelang ihr erst 2019 mit dem Unternehmer und Seiteneinsteiger Carsten Meyer-Heder, mit dem die CDU erstmals mit knappem Vorsprung stärkste Partei in Bremen wurde und der SPD mit dem bisherigen Bürgermeister Carsten Sieling das schlechteste Ergebnis seit Kriegsende bescherte.
Nur durch die Hinzunahme der Partei die Linke in die Koalition mit den Grünen konnte die SPD weiter den Bürgermeister stellen. Es gab im Koalitionsvertrag gute Ansätze für eine fortschrittliche Politik im Hinblick auf Klimawandel, Gesundheitsversorgung, Wohnungsbau. Mit Andreas Bovenschulte hatte die SPD einen Bürgermeister, der die Rolle eines sorgenden Landesvaters besonders auch während der Pandemie ausfüllen konnte und sich volksnah zeigte. Damit wurde für die SPD jetzt mit 29,8% ein besseres Ergebnis, aber immer noch das zweitschlechteste der Nachkriegsgeschichte erreicht. Zum Jubeln besteht also kein Grund.
Tatsache ist, dass Bremens ökonomische Probleme nicht kleiner geworden sind: Die Pro-Kopf-Verschuldung ist nach Jahrzehnten Sparpolitik immer noch die höchste aller Bundesländer. Zurzeit ist sie dank einer vorausschauenden Zinspolitik zwar unter Kontrolle. Das ist aber keine Sicherheit für die Zukunft.
Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierungspolitik betrug nach Umfragen vor der Wahl nur etwa 40%. Der Bonus durch das gemeinsame unaufgeregte Krisenmanagement von Bovenschulte als auch der Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard von der Linken während der Pandemie, das positiv wahrgenommen wurde, konnte die ungelösten Probleme nicht überdecken. Nach wie vor ist die Langzeitarbeitslosigkeit hoch, Wohnungen fehlen oder sind – obwohl billiger als in anderen Großstädten – zu teuer.
Der allgemeine Mangel durch die Verschuldung zeigt sich auch im öffentlichen Nahverkehr – er ist teuer, Taktzeiten und Streckenführung sind an vielen Stellen zu wenig an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet. In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wird die Versorgung wegen Personalknappheit spürbar schlechter. Die Kriminalität steigt zumindest im Gefühl der Mehrheit der Bevölkerung. Obendrauf kommen für die Menschen die Belastungen durch steigende Flüchtlingszahlen, Inflation und immer neue Vorschriften wegen des Klimaschutzes, die allerdings kein auf Bremen beschränktes Problem darstellen. In die Zukunft blicken Menschen immer mehr mit Sorge.
Bremens Bildungsmisere steht seit Jahrzehnten in der Kritik. Die nötigen Finanzmittel für Schulen, Lehr- und Betreuungskräfte in Schulen waren durch die langjährige Sparpolitik nicht ausreichend vorhanden. Heute erfordern Ganztagsschulen und Inklusion zusätzliche Lehr- und Betreuungskräfte, die aber auf diesem Arbeitsmarkt nicht zu bekommen sind.
Durch die im Verhältnis zur Bevölkerungszahl höchsten Flüchtlingszahlen und Migrantenzahlen aller Bundesländer machen sich die Personalknappheit in Schulen und Kitas, die schlechtere ärztliche Versorgung, fehlende Arbeitsplätze vor allem in Stadtteilen mit vielen sozialen Problemen besonders bemerkbar. Hier gingen mit ca. 40% ungleich weniger Menschen zur Wahl als in den bürgerlichen Vierteln, wo es mehr als 70% gewesen sind. Viele sind aufgrund ihres Aufenthaltsstatus auch gar nicht wahlberechtigt. Und unter den Wahlberechtigten, die unter den Verhältnissen besonders leiden und die sich von den Behörden und Institutionen, denen sie in ihrem Alltag begegnen, abgehängt und vernachlässigt sehen, kann dann schon mal die Stimme für „Bürger in Wut“ Ausdruck ihrer Ohnmacht sein.
Das gute Abschneiden dieser Partei, die obendrein durch den Ausschluss der heillos zerstrittenen AfD profitierte, vor allem in Bremerhaven und einigen Vierteln in Bremen, wundert nicht. Diese Entwicklung war schon bei früheren Wahlen zu beobachten. Die extrem hohen Stimmenzahlen in einem Ortsteil Bremerhavens von 36% erzielten die „Bürger in Wut“ allerdings in dem von Einfamilienhäusern geprägten Wahlbezirk des jahrelangen Spitzenkandidaten Jan Timke, in dem es nur wenig mehr als 500 Wahlberechtigte gibt.
Das Gejammer der regierenden Parteien nach jeder Wahl über die hohen Stimmenzahlen für rechte oder rechtspopulistische Parteien hat Tradition. Jedes Mal werden die Floskeln wiederholt, dass man „mehr zuhören“ und „zu den Menschen gehen“ müsse. Das schlägt sich aber im politischen Alltag kaum nieder. Einige Bürgergespräche hat Bovenschulte in benachteiligten Stadtteilen im Laufe des letzten Jahres absolviert, um sich den dortigen Sorgen zu stellen und zu beruhigen.
Besonderheiten in einem Bundesland mit grüner und linker Regierungsbeteiligung
Die Grünen – sie regieren seit 2007 kontinuierlich in Bremen mit. Ihre Zustimmung steigerte sich vor allem in den innenstadtnahen Vierteln und drängte die FDP nah an die Bedeutungslosigkeit. Mit der engagierten, kompromisslosen und kommunikationsunfähigen Senatorin Maike Schaefer manövrierte sich die Partei in eine Situation, dass ihr selbst prinzipielle Unterstützer einer Verkehrswende wegen der teils dilettantischen Umsetzung ihrer Vorhaben nicht folgen wollten. Radpremium-Routen sind in Planung oder schon verwirklicht, aber an den Kreuzungen stehen die Radler umso länger. Aufgesetztes Parken in den Seitenstraßen soll verboten werden – aber es gibt zeitnah keine Alternativen. Autofreie Innenstadt – aber die Verkehrsprobleme in den Stadtteilen werden nicht gesehen.
Das Mammutressort umfasste auch Bauen und Wohnen. Es ist bekannt, dass hier zurzeit wenige Lorbeeren zu gewinnen sind. Der Dämpfer von Stimmenverlusten von 5,5% führte nach anfänglichen Versuchen, die Schuld bei bundespolitischen Themen wie dem geplanten Heizungsgesetz zu suchen, schnell zu ihrem Rückzug. Ihr folgten bald die beiden Landesvorsitzenden und wenig später auch die grüne Sozialsenatorin, die das Amt 12 Jahre innehatte und in den letzten Jahren vorrangig mit dem Managen des Flüchtlingsandrangs beschäftigt war.
Die Partei die Linke ist seit 2019 in der Landesregierung vertreten und hat bei der jetzigen Wahl nur geringe Verluste erlitten. Sie war ein angenehmer Koalitionspartner, die Arbeits- und Wirtschaftssenatorin angesehen bei Kammern und Unternehmen: Unaufgeregte ideologiefreie Politik im Sinne von „Arbeitsplätze erhalten“ um jeden Preis, vor allem durch Unterstützung der Unternehmen. Darin unterschied sich Kristina Vogts nicht von bisheriger SPD-Politik in diesem Ressort. Erfolge für die Beschäftigten und Erwerbslose waren eher nicht zu bemerken.
Im von der Partei die Linke belegten Gesundheitsressort fällt die Bilanz unterschiedlich aus. Als Krisenmanagerin während der Corona-Krise erwarb sich Claudia Bernhard breite Anerkennung durch ihr professionelles Krisen- und Impfmanagement. Früher als andere stellte sie die Situation in benachteiligten Stadtteilen fest, bezog lokale Multiplikatoren in den Communities ein und schickte mobile Impftrucks in die Stadtteile. Hier funktionierte das Hingehen zu den Menschen. Als Mitglied des Senats muss Claudia Bernhard jedoch die Sparpolitik mitvertreten. Was Krankenhaus-Management und mögliche Klinikschließungen betrifft, steht sie deshalb in offenem Gegensatz zu linken Betriebsräten und linken Positionen zur Erhaltung einer Krankenhausversorgung im Interesse von Patient*innen aus Bremen und dem Umland und den Beschäftigten.
Neuauflage der bisherigen Koalition – weiter so?
Nach Sondierungsgesprächen mit der CDU und den bisherigen Koalitionspartnern hat sich die SPD für Koalitionsgespräche mit den Grünen und Linken entschieden. In einer solchen Koalition kann sie als dominierende Kraft die Politik weitgehend und besser als bisher bestimmen. Die Linke ist ein angenehmer Partner, die Grünen sind geschwächt und werden konzilianter agieren.
Zu erwarten ist also ein „weiter so“, aber mit etwas mehr Umsicht im Umgang mit der Verkehrswende und mehr Gewicht auf dem Thema „innere Sicherheit“ – schon weil die „Bürger in Wut“ – bisher nur mit einem Abgeordneten aus Bremerhaven in der Bürgerschaft vertreten – nun in Fraktionsstärke vertreten sind und laut agieren werden.
Aber die Sparzwänge werden wachsen und die politische Auseinandersetzung bestimmen.
19.6.2023
Ergebnis der Bürgerschaftswahl in Bremen 2023 und 2019 im Vergleich
Partei | Stimmen 2023 | % | +/- | Stimmen 2019 | % |
SPD | 376.007 | 29,8 | +4,9 | 366.375 | 24,9 |
CDU | 330.791 | 26,2 | -0,4 | 391.709 | 26,7 |
Grüne | 150.047 | 11,9 | -5,5 | 256.181 | 17,4 |
Die Linke | 137.449 | 10,9 | -0,4 | 166.378 | 11,3 |
BIW | 118.527 | 9,4 | +7,0 | 35.808 | 2,4 |
AFD | 89.939 | 6,1 | |||
FDP | 64.055 | 5,1 | -0,9 | 87.420 | 5,9 |
Wahlbeteiligung | 261.788 | 56,8% | 304.626 | 64,1% |
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