Griechenland: die Wahl und die Tragödien auf der Schiene und im Meer

Dokumentiert

Am 26. Juni 2023 hielt die Journalistin Evridiki Bersi aus Athen auf Einladung des Bündnisses Griechenlandsolidarität Berlin diesen Vortrag im Haus der Demokratie in Berlin.

Der ursprüngliche Titel lautete „Eisenbahnunglück in Griechenland: eine Katastrophe mit Ansage“. Wegen der Versenkung des Bootes mit ca. 750 Geflüchteten und weil die Wahl am Vortag der Veranstaltung erfolgt war, veränderte sich das Thema.


Guten Abend,
Ich freue mich sehr, wieder hier zu sein und euch alle zu sehen! Herzlichen Dank an die Organisatoren und an das Haus der Demokratie für die Gastgeberschaft. Während der Griechenlandkrise kam ich oft nach Deutschland, eingeladen von den wunderbaren Freunden des Soli-Bündnisses. Die Stimmung damals war ganz anders. Ich werde versuchen zu erklären, wie die Situation jetzt ist – nicht nur, was gestern und in den letzten Monaten passiert ist, sondern auch, warum es passiert ist. Ich werde auf Griechisch sprechen. Kostas, unser großartiger Übersetzer, übernimmt die schwere Arbeit. Ευχαριστώ Κώστα.

Als ich während der Krise hierher kam, war die politische Situation in Griechenland ganz anders. Es gab den Schock der Memoranden, Protestbewegungen und eine linke Partei, die sich daraus speiste und schließlich 2015 an die Regierung kam.

Jetzt hingegen scheint sich ein Kreislauf zu schließen – Sie haben die Ergebnisse der gestrigen Parlamentswahlen gesehen:

  • Der Triumph der Nea Dimokratia, einer hegemonialen Kraft, die zum ersten Mal seit 1974 keinen Gegner hat.
  • SYRIZA liegt mit 17%, knapp über der Hälfte des Prozentsatzes, den sie bei ihrer Niederlage von 2019 noch erreichte.
  • Erstmals gibt es drei rechtsextreme Parlamentsparteien mit insgesamt 12%, im Parlament- das ist mehr als die PASOK erreichte.

Sie werden sich fragen, wie das passieren konnte und wie die griechische Gesellschaft so schnell so konservativ werden konnte. Sie werden sich fragen, wie schockierende Ereignisse wie der Frontalzusammenstoß von Zügen in Tempe, der im Februar 57 jungen Menschen das Leben kostete, der Untergang eines Bootes mit Flüchtlingen und Migranten mit Hunderten von Toten am 14. Juni, bei den Wahlen keinen Niederschlag gefunden haben.

Man kann sich fragen, wie es angesichts der galoppierenden Inflation und der explodierenden Lebenshaltungskosten dazu kommen konnte, dass kein Protest gegen die Regierung registriert wurde.

Wie kann es sein, dass Griechenland Spitzenreiter bei der Zahl der Todesfälle durch das Coronavirus war, wo das nationale Gesundheitssystem marode ist und die Regierung noch dafür belohnt wurde?

Bei Reporters United, dem Medienunternehmen, in dem ich arbeite, haben wir dazu beigetragen, den Abhörskandal aufzudecken, wir haben die Tatsache, dass Agenturen unter der Kontrolle des Premierministers Minister, Journalisten und sogar den Vorsitzenden der PASOK überwacht haben, ans Licht gebracht.

Wiederum keine Auswirkung auf die Wahlen. Im Gegenteil, die Neue Demokratie wird jetzt zu einem Garanten der liberalen Demokratie und zu einem Bollwerk gegen die extreme Rechte.

Zwei kurze Erklärungen

  1. Der Protest ist still. Viele von denen, die frustriert und wütend sind, haben niemanden gewählt, weder die Regierung noch die Opposition. Die Stimmenthaltung lag bei fast 50 % – ein noch nie dagewesener Wert.
    Einige haben aus praktischen Gründen nicht gewählt: Die Touristensaison hat begonnen und sie sind von ihrem Wahlort weggezogen oder konnten zum zweiten Mal innerhalb von fünf Wochen nicht in ihr Dorf fahren (wo sie hätten wählen können).
    Ich möchte Sie daran erinnern, dass es in Griechenland keine Briefwahl gibt. 40 % der Stimmen für die Neue Demokratie entsprechen 20 % der Wählerschaft; das ist nicht gerade ein Tsunami.
  2. Die Menschen in Griechenland wünschen sich nichts sehnlicher, als die Zeit der Wirtschaftskrise zu vergessen. Eine der spektakulärsten Leistungen der Regierung war es, die Menschen davon zu überzeugen, dass Syriza gleichbedeutend mit einer Rückkehr zur Krise ist und dass eine Stimmabgabe für sie gleichbedeutend mit einem Abenteuer für das Land wäre.
    Die Nea Dimokratia gewährte eine Fülle von Vergünstigungen, die als „Pass“ bezeichnet werden, weil das Wort Vergünstigung nicht sehr schön klingt – Vergünstigungen für Stromrechnungen, Benzin usw.
    Mit der Duldung der Europäischen Union gab sie Geld aus, als gäbe es kein Morgen Diese Politik wird bald vorbei sein, aber sie hat ihr Ziel bereits erreicht, das haben wir im Wahlergebnis gesehen.
  3. Die „Nea Dimokratia“ hat sich in vielerlei Hinsicht eine Mitte-Links-Agenda gegeben:
    Sie versprach Lohnerhöhungen, Einstellungen im öffentlichen Gesundheitswesen und versprach, dass nicht nur die Wasserversorgung nicht privatisiert werden würde, sondern dass die Wasserunternehmen aus dem „Hyperfond“ – unserer eigenen „Treuhandanstalt“ einer Vorstufe der Privatisierung – herausgenommen und wieder unter die öffentliche Kontrolle gestellt würden.
    In dieser Hinsicht ist nicht die Wählerschaft nach rechts gewandert, sondern die Rechte in die politische Mitte.

Ich habe die Kommentare der internationalen Presse zu den griechischen Wahlen gelesen: „Die Mitte hat sich behauptet“, schrieben sie. Die Tatsache, dass die Nachfolgepartei der Goldenen Morgenröte ins Parlament zurückgekehrt ist und nun öffentliche Gelder erhält, sagt mir nicht, dass die Mitte standgehalten hat, sondern dass in der nächsten Krise, die nicht mehr lange auf sich warten lässt, die extreme Rechte lauern wird, um dem Volkszorn Ausdruck zu verleihen.

Die Öffnung der „Nea Dimokratia“ zur Mitte ging mit einer eindeutig rechten Agenda in einigen Punkten einher, allen voran die Einwanderung. Die Tatsache, dass Hunderte von Menschen vor den Augen der griechischen Küstenwache ertrunken sind, wenn nicht sogar mit deren aktiver Komplizenschaft, hat die Regierung in keiner Weise schockiert.

Das Erste, was Kyriakos Mitsotakis in der ersten Frage des großen Interviews einige Tage nach dem tragischen Schiffsunglück vom 14. Juni versicherte, war, dass sich an der Einwanderungspolitik nichts ändern würde.

Wir werden später mehr darüber sprechen; leider sind die Verantwortlichkeiten viel umfassender und betreffen zu einem großen Teil auch die Europäische Union.

Was jedoch Griechenland betrifft, so glaube ich, dass wir die Dinge nicht beschönigen müssen: Wenn der fortschrittliche Raum nicht organisiert wird, beginnt eine Zeit, in der sich Kyriakos Mitsotakis allmächtig fühlen wird und der soziale Protest durch die extreme Rechte zum Ausdruck kommt.

Ich möchte Sie an den Beginn der griechischen Krise zurückversetzen, als wir darüber diskutierten, was das Ergebnis des enormen Drucks auf die griechische Gesellschaft sein könnte.

Wir haben damals gesagt, dass der Aufstieg der extremen Rechten völlig vorhersehbar ist. Die Tatsache, dass die Goldene Morgenröte als kriminelle Organisation verboten wurde, bedeutet nicht, dass ihre Wähler verschwunden sind.

Die Einschätzung eines geschlossenen Kreislaufs und eines politischen Systems, das zu einem Punkt des Gleichgewichts zurückgekehrt ist, ist nicht richtig.

Die Ergebnisse sind nicht ausgeglichen, sondern es gibt ein Abdriften in eine düstere Zukunft.

Diejenigen, die allen Grund haben, sich zu freuen, sind die Vertreter der griechischen Oligarchie.

10 Milliarden Euro Profitabilitätssprung von 150 an der Athener Börse notierten Unternehmen zwischen 2021 und 2022

Sie spielen überall mit. Eine der rechtsextremen Parteien, Niki, wurde in jeder Hinsicht von dem Reeder Restis unterstützt. Andere Reeder spielten mit der Goldenen Morgenröte, als diese ihren Höhepunkt erreichte – sie können dies zweifellos wieder tun.

Was die Regierung der „Neuen Demokratie“ betrifft, so muss nicht viel darüber gesagt werden, wie sie die Interessen des großen Reichtums zum Ausdruck bringt.

Eine ganze Generation ging nach dem (Eisenbahn)-Unfall bei Tempi auf die Straße, die Demonstrationen waren überwältigend und veranlassten die Regierung, die für April geplanten Wahlen zu verschieben, mit der Überlegung, dass das Thema in Vergessenheit geraten würde und die Schuld nicht nur bei der jetzigen, sondern auch bei der vorherigen Regierung liegen würde.

Die Verantwortlichkeiten sind in der Tat seit langem bekannt, der nicht erteilte Auftrag zur Modernisierung der Signaltechnik und der Fernsteuerung hätte bereits 2016 unter Syriza erteilt werden müssen.

Aber es gibt einen Unterschied. Das Feuer auf dem Gelände, auf dem sich die Batterien der Signalzentrale von Larissa befinden, brach im Sommer 2019 aus, unmittelbar nach dem Amtsantritt der Nea Dimokratia.

Sie hatte fast vier Jahre Zeit, es zu reparieren, hat es aber nicht getan; stattdessen hat Verkehrsminister Karamanlis wenige Tage vor dem Unglück im Parlament diejenigen scharf angegriffen, die ihn auf die Gefahren des Schienennetzes hingewiesen haben. Wenn man der Gerechtigkeit Genüge tut, wird man auch die politische Verantwortung zuweisen, aber das wird erst im Nachhinein geschehen.

Nach dem Unfall hat die Regierung die Subventionen für die marode OSE etwas erhöht und versprochen, mit Hellenic Train, dem italienischen Staatsunternehmen, das die griechischen Züge wie der schlechteste private Unternehmer betreibt, neu zu verhandeln.

Aber machen wir uns nichts vor. Auf strategischer Ebene hat sich an der Entscheidung, die Eisenbahnen in einem maroden Zustand zu belassen, nichts geändert. Die Sicherheitsprobleme bleiben bestehen.

Das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, dass sich nichts ändert, selbst wenn etwas so Tragisches – und (doch) so tragisch Vorhersehbares – passiert, ist lähmend. Investigate Europe, für das ich ebenfalls arbeite, hatte Ende 2021 und Anfang 2022 die Probleme der europäischen und der griechischen Eisenbahnen untersucht. Aufgrund dessen hatten wir einen solchen Unfall vorhergesagt.

Die Kollision der Züge als dem Auslöser der Kämpfe ist für einen Großteil der Jugendlichen nun der Beweis dafür, dass es besser ist, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, weil sich nichts ändert.

Aber auch hier ist die Antwort, sich zu organisieren und Forderungen zu stellen.
Die Angehörigen der Opfer haben sich organisiert, es ist die Pflicht von uns anderen, sie zu unterstützen.

Wir von Reporters United haben uns bemüht, die wahren Schuldigen zu benennen, hier ist ein Artikel, den ich über Alstom und AKTOR geschrieben habe und der in mehreren europäischen Ländern veröffentlicht wurde. Diese beiden Unternehmen sollten die Eisenbahnen modernisieren, taten es aber nicht.

Schauen wir uns nun das Schiffsunglück an. Hunderte von Menschen sind im Mittelmeer ertrunken, in Gewässern, die in den Zuständigkeitsbereich Griechenlands fallen, was die Suche und Rettung angeht. In Griechenland hat das Schiffsunglück einen Schock ausgelöst, aber er hat keine politischen Folgen.

Die internationale Presse ist voll von Zeugenaussagen, die darauf hinweisen, dass es sich um ein Verbrechen der griechischen Küstenwache handelt. Diese Berichte werden zwar auch in Griechenland verbreitet, aber nicht mit der gleichen Intensität wie im Ausland. Zunächst wurde versucht, die Schuld auf die Ertrinkenden selbst zu schieben, die sich angeblich weigerten, gerettet zu werden.

Natürlich gibt es Karikaturen wie die ganz oben, die besagt, dass die Landkarte blau (die Farbe der Nea Dimokratia) und das Meer rot gestrichen wurde. Aber es bleibt das vorherrschende Narrativ der Regierung, das sie zur Einwanderung geschaffen hat: Flüchtlinge und Migranten sind Werkzeuge eines „hybriden Krieges“, den die Türkei gegen Griechenland führt (auch wenn diese Menschen versucht haben, sowohl die Türkei als auch Griechenland zu meiden). Die Begrenzung der Migrantenströme wird als großer Erfolg der Regierung dargestellt. Wie „wir“ die Ankünfte begrenzt haben, wird nicht diskutiert.

Hier muss ich leider eine Bemerkung zur öffentlichen Meinung in Europa machen:
Es ist sehr einfach, die Schuld auf Griechenland zu schieben. Aber angenommen, dass die griechische Küstenwache diese Menschen tatsächlich ertränkt hat, dass dies gerichtlich festgestellt wird und dass die Verantwortlichen bestraft werden.

Wir würden uns bestätigt fühlen. Aber was, glauben wir, wird sich ändern?

Der Befehl „wenn nötig, ertränken“ ist Politik der Europäischen Union und muss als solche behandelt werden. Zufälligerweise gab es hier zu viele Opfer und zu viele Hinweise, um sie zu ignorieren.

Hier ist eine Karte der Fälle, bei denen Menschen im Mittelmeer in den letzten Jahren ertranken – von denjenigen, von denen wir wissen.

Die meisten von ihnen betreffen nicht einmal Griechenland. Wenn die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, Griechenland als „Europas Schutzschild“ bezeichnet und wenn von europäischer Seite aus klar ist, dass diejenigen, die in Griechenland ankommen, in Griechenland bleiben, weil die Grenzen geschlossen sind, dann wird die europäische Verantwortung für den Umgang Griechenlands mit den Menschen offensichtlich.

Und um es noch etwas deutlicher zu sagen. Was, glauben Sie, ist für die deutsche Regierung bequemer? Dass ganz Europa mit dem Finger auf Griechenland zeigt, oder dass Deutschland wegen seiner eigenen Einwanderungspolitik wirklich unter Druck gesetzt wird? Natürlich das Erstere.

Nach all dem wünschen Sie sich sicher einen Lichtblick, einen einigermaßen angenehmen Abschluss dieses kurzen Überblicks. Schwierig. Ich kann nur Folgendes sagen: Die zentrale Lehre, dass es Organisation und harte Arbeit braucht, hat nichts von ihrer Aktualität verloren.

Der entscheidende strategische Vorteil der ‚Nea Dimokratia‘ liegt in der Analyse von Daten über die Stimmung der öffentlichen Meinung durch einen Stab gut bezahlter Kommunikatoren, griechische und ausländische, und in der blitzschnellen Anpassung und Reproduktion der Botschaft.

Wenn man viel Geld hat, kann man es für die Perfektionierung der Mechanismen zur Manipulation der öffentlichen Meinung ausgeben.

Wenn man nichts davon hat, braucht man Basisorganisationen, ernsthafte politische Arbeit, keine Verleumdungen.

Ich weiß nicht, was die Lücke füllen wird, die der Zusammenbruch von Syriza und das schwache Abschneiden der PASOK auf der linken Seite der griechischen Politikszene hinterlassen haben. Aber ich weiß, dass es massenattraktiv sein und ohne die Egos funktionieren muss, die bisher viele Projekte zerstört haben.

Ich weiß, dass jeder von uns, innerhalb und außerhalb der Parteien, sich organisieren und den Kampf so gut wie möglich führen kann, denn letztendlich haben wir nur einander.


 

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*