Freitag, 1. September, 17 Uhr, Kundgebung Jammertal
Begrüßung: Liebe Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen, sehr geehrte Gäste und Unterstützende unserer Kundgebung
Dank für Eure Teilnahme, Dank für die Einladung der IGM Salzgitter und des DGB, die mir zum wiederholten Mal ermöglichen hier zu sprechen und vielleicht durch meine Worte, mögen sie auch einseitig erscheinen, zur Vielseitigkeit unseres gemeinsamen Anliegens beizutragen:
Gegen Aufrüstung und für Frieden!
Dank in diesem Sinn vor allem der IGM-Jugend, die entscheidend zum Programm der heutigen Veranstaltung beigetragen hat. Ich halte diesen Hinweis für unumgänglich, weil ohne die Einsichten und den Widerstand der uns Nachkommenden die derzeitige politische Entwicklung zu einer weltweiten Katastrophe führen kann. –
Franz Josef Degenhardt, 25. März 1999:
Der Krieg hat begonnen,
Deutschland macht mit
Eigentlich unglaublich,
dass ihnen das immer wieder gelingt …
Deinem Urgroßvater haben sie erzählt:
Gegen den Erbfeind.
Für das Vaterland.
Und er hat das tatsächlich geglaubt.
Was hat er gekriegt?
Granatsplitter in Beine und Kopp
vor Verdun.
Deinem Großvater sagten sie:
Gegen die slawischen Horden.
Für die abendländische Kultur.
Er hat das wirklich geglaubt.
Was hat er gekriegt?
Bauchschuss und einen verrückten Kopp
vor Stalingrad.
Deinem Vater erzählen sie jetzt:
Gegen die Völkermörder.
Für die Menschenrechte.
Für den Frieden.
Unglaublich – er glaubt’s.
Was er wohl kriegt?
Und wo wird das sein – diesmal?
Degenhardts Lied, geschrieben am 25.03.1999, einen Tag nach Beginn des NATO-Angriff auf Jugoslawien, dem ein 70tägiges Bombardement folgte, begleitete uns, als wir wenige Wochen später mit einer Gewerkschaftsgruppe ins bombardierte Land fuhren – aus Protest gegen den von der US-Regierung begonnenen völkerrechtswidrigen Krieg, der durch die Beteiligung der ausschließlich zu Verteidigungszwecken bestimmten Bundeswehr zugleich zum ersten Angriffskrieg Deutschlands seit dem 1. September 1939, dem Beginn des 2. Weltkriegs wurde.
Heute befinden wir uns an der Schwelle zum 3. Weltkrieg. Vergeblich haben wir 1999 darauf hingewiesen, dass der Jugoslawien-Krieg im Zusammenhang mit dem Vorrücken der NATO an die russischen Grenzen Voraussetzung für die Einkreisung Russlands und Beginn eines Krieges der NATO gegen Russland sei. Dieser Krieg hat begonnen – noch beschränkt auf die Ukraine. Noch…
Christa Wolf:
„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gibt, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“
Werden wir von „den Eigenen“ getäuscht? Sie versuchen es jedenfalls. Eine Propagandawelle, unvergleichbar in der bisherigen Geschichte der BRD, beschränkt sich bislang als Erklärung für den Ukraine-Krieg auf den zweifellos völkerrechtswidrigen Angriff der russischen Putin-Regierung.
Aber hat Putin denn Unrecht, wenn er auf den ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriff der NATO auf Jugoslawien verweist?
Die demagogisch irreführende Aussage „Putins Krieg“ ist nur aufrecht zu erhalten, solange die vorausgegangene Geschichte unterschlagen wird. Ein Blick auf die konkrete Entwicklung, die zu diesem Krieg führte, widerlegt dagegen eine derartige Vereinfachung. Sie kann in ihrer Oberflächlichkeit nur aufrechterhalten werden, wenn die Geschichte verkürzt und verfälscht dargestellt wird.
Sogar in den wenigen kritischen Kommentaren bürgerlicher Medien wird an Machiavellis Hinweis aus der Zeit um 1500 erinnert: „Nicht wer zuerst nach den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer die Ursache dafür geschaffen hat.“
Die vor einem Viertel-Jahrhundert begonnene Einkreisung Russlands ging und geht weiter: mit der fortgesetzten NATO-Ausdehnung und geplanten Verstärkung wie es heißt „militärischer Verteidigungskräfte“ der NATO an den Grenzen Russlands, dem Maidan-Putsch 2014 und dem anschließenden Angriff der Westukraine auf die Donbass-Region, nachdem Versuche der russischen Regierung für die Ukraine eine alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung zu finden, abgewiesen wurden und der Versuch, die abgespaltene Krim wieder in die Ukraine zurückzuholen, gescheitert war.
Die Erweiterung der Nato um Schweden und Finnland schließlich verdeutlicht, dass es sich nicht um einen lokalen Krieg zwischen Russland und der Ukraine handelt, sondern um einen geopolitischen Großmachtkonflikt – in dem die Regierung der USA die treibende Kraft ist.
Ein Kapitulationsfrieden kommt für Kiew ebenso wenig infrage wie für Moskau ein völliger Rückzug aus dem Donbass und der Krim, die es als russisches Staatsgebiet betrachtet. Friedenslösungen, die auf Kompromissen und nicht auf Kapitulation beruhen, sind nur unterhalb der Maximalforderungen beider Seiten erreichbar.
Sollte sich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ausweiten über den bislang durch Sanktionen und Waffenlieferungen indirekt geführten Krieg der NATO-Staaten gegen Russland hinaus, wird Europa zum Kriegsschauplatz. Der nach China ökonomisch größte Konkurrent der USA würde damit ausgeschaltet und Russland militärisch weiter geschwächt – Auftakt fürs Pentagon zum seit langem geplanten Krieg gegen China:
eine Möglichkeit, die in Washington geplant und inzwischen auch in Kreisen der deutschen Wirtschaftsführung besorgt mitgedacht werden dürfte. Wir sollten sie unbedingt in unsere Überlegungen einbeziehen und beachten, dass in Publikationen des Springer-Verlags die Notwendigkeit eigener atomarer Waffen erörtert wird und das „Handelsblatt“ vor der Bündnisverpflichtung Deutschlands im Fall des EU-Beitritts der Ukraine warnt.
Lassen wir uns nicht täuschen. Seit Jahrzehnten verfolgen die USA ihr Ziel, Russland zu isolieren und ökonomisch auch die EU auszuschalten – mit den Worten von Zbigniew Brzezinski, dem politischen Berater mehrerer US-Präsidenten, der bereits 1997 formulierte: „schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben“.
Ende Oktober 2014 warnten Roman Herzog, Gerhard Schröder und mehr als 60 weitere Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien vor einem Krieg und riefen zum Dialog mit Russland auf – Wortlaut:
„Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten Partnern. (…) Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer. Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen.“
Ihr Anliegen schien sich zu bestätigen, als am 12. Februar 2015 das Minsker Friedensabkommen unterzeichnet wurde, auch von Angela Merkel, die allerdings im Januar dieses Jahres erklärte, das sei nur geschehen, um der Ukraine Zeit zu verschaffen – Zeit für Vorbereitungen zu einem Krieg, der sich inzwischen zum Weltkrieg auszuweiten droht.
Zu unseren Einsichten sollte entsprechend gehören: Keine Unterstützung für den von Russland am 24. Februar begonnenen Krieg, dessen Ursachen wir versuchen nachzugehen und, soweit uns möglich, zu erklären, keineswegs zu rechtfertigen.
Entsprechend auch: Keine Solidarität mit der ukrainischen Regierung Selensky, wohl aber Hilfe und Unterstützung der vom Krieg betroffenen Bevölkerungen und uns sozial und gewerkschaftlich nahestehender Kolleginnen und Kollegen.
Wir bleiben Internationalisten auf Seiten der arbeitenden, arbeitslosen und leidenden Bevölkerungen – wo auch immer, auch hierzulande.
Beschämend jedoch, wenn beispielsweise die ev. Kirche bei uns in Hamburg-St. Georg in übermenschengroßen Lettern das Wort Liebe blau-gelb angestrichen vor ihrem Hauptportal aufstellt und damit zur nationalen Unterstützung der ukrainischen Regierung im Namen christlicher Nächstenliebe mobilisiert – so wie das Deutsche Schauspielhaus, auch in Blau-Gelb, am Eingang in Leuchtschrift seine Zuschauer zur „Solidarität mit der Ukraine“ auffordert und damit zu weiteren Rüstungslieferungen.
Bertolt Brecht: „Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben.“
Seine Warnung, der „moderne mechanisierte Krieg, der nichts anderes ist als eine Industrie der Vernichtung“ betrifft uns ganz besonders hier an diesem Ort:
„Hermann-Göring-Stadt“: Kohle und Erzförderung für die Stahl- und Rüstungsproduktion – Räder mussten „rollen für den Sieg“. Zwangsarbeitende in Barackenlagern, von Watenstedt bis Immendorf, Wohnlager, Versorgungslager, Straflager – „Lager 21“ da drüben, in dem systematisch gefoltert und gemordet wurde. Alles durchnummeriert wie die 120.000 Beschäftigten, geplant 300.000. Und Gräber, Massengräber, für die, die durch Arbeit, Hunger, Krankheiten, Misshandlungen verschlissen und vernichtet, wurden.
Jammertal, Westerholz, Hallendorf – viele ohne Namens- und Ortsangabe irgendwo verscharrt oder LKW-weise verbrannt im Krematorium Braunschweig. Auf der Hütte, unter der Hochstraße im Stahlwerk das KZ, inzwischen hergerichtet als Gedenkstätte – „Konzentrationslager Neuengamme, Außenlager Watenstedt-Drütte, Reichswerke Hermann Göring“.
Bevor wir gleich Kränze und Blumen niederlegen, ein Blick auf die Inschriften der fünf Steinplatten bei den Gräberreihen dort drüben:
„AUF DIESEM FRIEDHOF RUHEN 2970 OPFER DES KRIEGES UND DER GEWALTHERRSCHAFT 1939–1945
BELGIEN, BULGARIEN, CSSR, DEUTSCHLAND, FRANKREICH, GRIECHENLAND, ITALIEN, JUGOSLAWIEN, NIEDERLANDE, ÖSTERREICH, POLEN, RUMÄNIEN, SPANIEN, UNGARN, UDSSR“
UDSSR – dankenswerterweise haben es die Stadt und der Arbeitskreis Stadtgeschichte bei dieser historisch korrekten Bezeichnung belassen, sodass wir nicht differenzieren müssen zwischen den Opfern der heutigen Nationalitäten Russland und Ukraine, die hier gemeinsam gelitten und den Tod gefunden haben.
27 Millionen Kriegstote in der Sowjetunion infolge des deutschen Überfalls und – nicht weit von hier aber auch bundesweit – die Friedhöfe für sowjetische Kriegsgefangene, „geschätzt“ 3,3 Millionen Ermordete von 5,7 Millionen sowjetischen Gefangenen insgesamt – nur jeder Dritte von ihnen überlebte die Gefangenschaft.
Aus der Rede des damals 95-jährigen Daniil Granin, einem Überlebenden der Belagerung Leningrads, der am 27. Januar 2014, also vor dem Maidan-Putsch in Kiew, im Deutschen Bundestag, bejubelt von Regierung und Abgeordneten, noch erklären konnte:
„An den Wänden des Reichstags waren noch die Inschriften unserer Soldaten zu lesen. Eine davon ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: ‚Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du nicht mehr zu uns kommst‘“.
Lasst uns NEIN sagen –
NEIN zu den bereits vollzogenen und noch geplanten Einschnitten in unsere Lebensverhältnisse,
NEIN zu Rüstung und weiterem Abbau sozialer Standards, von Löhnen, Gehältern, Renten,
NEIN vor allem auch im Namen unserer Kinder, die um Bildung, Ausbildung, Arbeit und Perspektive fürs Leben betrogen werden.
Schluss mit Konfrontationspolitik und Kriegsrhetorik. Verhandlungen statt Hochrüstung und Waffenlieferungen. Wieder und wieder mit Bertolt Brecht:
„Kampf um Frieden ist Kampf gegen den Kapitalismus.“
RB (geringfügig ergänzt und korrigiert) 16.09.2023
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