Dieser Satz von Olaf Scholz vom 12. Oktober ist keineswegs neu. So ähnlich haben das vor ihm Merkel, Schröder und die früheren Kanzler auch geäußert. Was ist der Hintergrund?
Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland von den Siegermächten in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Kaum jemand von den von Deutschland angegriffenen Ländern konnte sich zunächst vorstellen, dass dieses Land, das so viele Tote und Verwüstungen in Europa hinterlassen hatte, wieder ein normales gleichberechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft werden könnte. Dann aber brach der Systemgegensatz zwischen den ehemaligen Alliierten auf. Es bildeten sich zwei Blöcke, einmal um die kapitalistische Hauptmacht USA, einmal um die sozialistische Sowjetunion. Deutschland teilte sich entlang der sowjetisch besetzten Zone in einen westlichen und einen östlichen Teil.
Die deutsche Bourgeoisie hatte 1933 ihre politische Macht an die Nazipartei abgetreten, um ihre Herrschaft zu erhalten und die Herrschaft über Europa zu sichern. Sie hatte dabei zwar einen Totalschaden erlitten, aber in den westlichen Besatzungszonen hatten die Alliierten dafür gesorgt, dass ihr Kapital, d. h. ihre Fabriken, in ihrem Eigentum blieben und sie so ihre wirtschaftliche Macht weiter ausüben konnte.
Mit dem beginnenden Kalten Krieg zwischen Westblock und Ostblock witterte sie nun ihre Chance. Westdeutschland wurde wieder gebraucht im Kampf gegen die Sowjetunion! Einmal als entscheidender Industriestandort Westeuropas, zum anderen als Aufmarschgebiet gegen die Sowjetunion. Aber um als Mitglied in den Westblock aufgenommen zu werden mussten noch einige Hürden übersprungen werden.
Eine Hürde war der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung während der Naziherrschaft. Diese wurde genommen mit dem Luxemburger Abkommen 1952, in dem Deutschland sich verpflichtete „Wiedergutmachung“ zu leisten durch Zahlungen für die Wiedereingliederung der überlebenden Juden, vor allem an den Staat Israel.
Die zweite Hürde waren die Reparationsforderungen der Länder, die Deutschland überfallen und zum Teil zerstört hatte. Die entscheidende Konferenz dazu fand 1952/53 in London statt unter Beteiligung aller kapitalistischen ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands, also ohne Sowjetunion und die osteuropäischen Staaten. Die Verhandlung von deutscher Seite führte an wichtiger Position der Bankier Hermann Josef Abs. Er war im Dritten Reich im Vorstand der Deutschen Bank, hatte von einer Enteignung einer jüdischen Bank profitiert und führte selbst weitere Enteignungen („Arisierungen“) durch. Außerdem war er im Aufsichtsrat der IG Farben, dem damals weltgrößten Chemiekonzern, der in Auschwitz ein Außenlager betrieb. Im Grunde also ein Schwerverbrecher, der aber von der britischen Besatzungsbehörde kurz nach dem Krieg als Fachmann wieder angeheuert worden war. Unter Führung von Abs gelang es der deutschen Delegation mit Unterstützung der USA die Reparationsforderungen sehr stark zu reduzieren. Aber die USA verlangten, dass das Luxemburger Abkommen Teil des Londoner Schuldenabkommens wird. Deutschland akzeptierte das natürlich, wenn auch im Bundestag einige Altnazis dagegen stimmten.
Damit wurde die „Wiedergutmachung“ (absurd: Wie kann man die Ermordung von sechs Millionen Juden „wiedergutmachen“ wollen?), d. h. die Unterstützung Israels, zur Vorbedingung für den Eintritt des deutschen Staates als Nachfolgerin des Dritten Reichs in den westlichen Club. Der Weg war frei für das deutsche Kapital. Es konnte jetzt mit den im 3. Reich erweiterten, modernsten Produktionsanlagen Europas den Marsch zur Exportnation Nr. 1 antreten. Man hatte den 2. Weltkrieg doch noch gewonnen.
Auf einem Geheimtreffen vom Generaldirektor im israelischen Verteidigungsministerium Schimon Peres und dem bundesdeutschen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß im Spätsommer 1957 in Bonn bekannte sich Strauß zur Verantwortung Deutschlands für das Überleben des von feindlichen Nachbarn in seiner Existenz bedrohten jüdischen Staates und stellte Rüstungshilfen samt Finanzierung in Höhe von 300 Millionen Deutsche Mark in Aussicht. Dies war acht Jahre vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen beider Staaten der Beginn einer Verteidigungskooperation, die bis heute fortbesteht.
Das ist der politische Inhalt, wenn gesagt wird: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“
Habecks „Kanzlerrede“…
… lobt die FAZ vom 3.11. Die „Bild“ einen Tag zuvor: „Historische Rede“. Der ehemalige „Bild“-Redaktionschef Reichelt spricht von „moralischer Klugheit (..) und vor allem tief berührender, aufrichtiger Empathie“. Israels Botschafter dankte Habeck für „die richtigen Worte zur richtigen Zeit“. Und auch Dietmar Bartsch von der Linkspartei meinte: „Hier hat Habeck einfach recht.“ (Zitate aus JW, 3.11.23) Von rechts bis links ein Lobgesang! Was war da so Sensationelles passiert? Habeck hatte am 1.11. auf X einen zehnminütigen Videobeitrag veröffentlicht, in dem er mit dem Satz beginnt: „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ (dazu siehe Kasten). Dazu gehöre auch „militärischer Beistand“: „Waffenlieferungen, die angefragt werden, werden erfüllt werden.“ Also: Deutschland will sich an Israels Krieg gegen Gaza beteiligen.
Dann geht er auf die Angriffe gegen jüdische Menschen in Deutschland und die „islamistischen Demonstrationen“ ein, auf denen ein unakzeptables Ausmaß an Antisemitismus vorherrsche, der „eine harte politische Antwort“ brauche. „Wer kein Deutscher ist, riskiert (…) seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel besitzt, liefert einen Grund, abgeschoben zu werden.“
Natürlich müssen wir die Angriffe gegen Juden hierzulande verurteilen. Aber was hat das mit dem israelischen Krieg gegen Gaza zu tun? Merkwürdige Logik: Weil hier jüdische Menschen angegriffen werden, ist der Krieg des Staates Israel gegen die Palästinenser zu unterstützen? Habeck vermischt hier zwei Themen, die nicht zusammengehören. Sollen wir z. B., wenn hier Muslime aus Fremdenhass angegriffen und ermordet werden, deswegen den Krieg der Türkei gegen die Kurden rechtfertigen?
Auch die Linken kriegen ihr Fett weg: „Die Solidarität mit Israel wird rasch brüchig“. Da werde dann von Linken auf den Kontext verwiesen (meint: Die Geschichte der palästinensischen Unterdrückung seit 1948 gehört nicht hierher). Aber „Kontextualisierung darf hier nicht zur Relativierung führen“. (Meint: Wenn Israelis getötet werden, ist das viel schlimmer, als wenn Israel Palästinenser tötet.) Und wer von Kolonialismus in diesem Zusammenhang redet, argumentiert antisemitisch: „Antikolonialismus darf nicht zu Antisemitismus führen.“ (Meint: Wir bedauern mit Steinmeier den Massenmord der deutschen Kolonialisten im heutigen Tansania, ist ja auch über 100 Jahre her, lehnen aber alle Forderungen nach Entschädigung ab.)
Und dann das Völkerrecht. Die Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung seien schlimm, Israel müsse sich auch an das Völkerrecht halten. „Aber wer würde solche Erwartungen an die Hamas formulieren?“ (Tatsächlich tun sie das alle, wenn sie die Hamas als Terroristen, Mörderbande bezeichnen, die sich damit nicht an das Völkerrecht hält.) Also zwei Feinde sind ausgemacht: die Islamisten und die Linken. Dabei heißt „Islamisten“ häufig Islam und Moslem. So äußerte sich der migrationspolitische Sprecher der Hamburger SPD in der „Morgenpost“ (23.10.23): „Zunächst möchte ich feststellen, dass nicht jeder Muslim ein Antisemit ist.“ Will sagen: Es gibt auch Ausnahmen. Das erinnert fatal an die Diskussionen zwischen der jüngeren und älteren Generation nach dem 3. Reich über die Judenverfolgung. Da fiel dann schon mal der Satz: „Nicht alle Juden waren schlecht. Es gab auch gute Juden.“
Dann wird Habeck Geschichtslehrer: „Der Zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg gegen Juden. Für das Naziregime war die Vernichtung des europäischen Judentums das Hauptziel.“[1] Aha! Der Eroberungskrieg in Europa, der Rassen- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion war also ein Nebenziel des faschistischen Deutschlands? Vielleicht ein Kollateralschaden? Motto: Das mit den Juden war ja schon schlecht, aber sonst … Wer das vergisst, will vielleicht an alte Großmachtpläne anknüpfen. Der Ukrainekrieg ist ja ein Anfang.
Habeck dockt im Grunde bei der AfD an, die vor einer „Islamisierung Deutschlands“ warnt. Es passt auch hervorragend zur Migrationsdebatte: schneller abschieben, Einreise verweigern. Mit den Muslimen hat man da schon mal eine Gruppe, die verdächtig ist und eigentlich nicht hierher gehört. Der CDU-Vorsitzende Merz formuliert das sehr klar. Auf die Frage, ob Deutschland Gaza-Flüchtlinge aufnehmen solle, antwortet er: „Nein. Sollte es Flüchtlinge geben, dann sind diese zunächst einmal ein Thema für die Nachbarstaaten. Deutschland kann nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.“[2]
Hier werden wieder Sündenböcke geschaffen. Auf die kann man dann alles abschieben, was schiefläuft: Wohnungsnot, Sozialabbau, Kriminalität usw.
Das hatten wir doch schon mal. Und die Linkspartei applaudiert „Kanzler“ Habeck. Da ist jeder Kompass verloren gegangen.
1 alle Zitate aus: Robert Habecks Rede zu Israel und Antisemitismus im Wortlaut | STERN.de
2 NZZ, 21.10.23
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