»Dieser Zionismus ist in einer Sackgasse gelandet« – Interview mit Moshe Zuckermann

Moshe Zuckermann

Das nachstehende Interview mit Moshe Zuckermann veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung„.

Es erschien zuerst in italienischer Sprache in der Zeitschrift »manifesto« vom 8. November 2023. Es wurde geführt von Sveva Haertter. Die deutsche Übersetzung des Interviews stammte vorn Gewerkschaftsforum Hannover. Auf Bitten der Z-Redaktion hat Zuckermann das Interview im Januar 2024 noch einmal überarbeitet und um einige aktuelle Passagen ergänzt. Moshe Zuckermann ist ein deutsch-israelischer Soziologe und emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Er ist Autor von Büchern über den Nahost-Konflikt, darunter »Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt« (The Fate of Israel. How Zionism purses its decline). Er gehört zu der Gruppe von Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Geschichte des Holocaust, Judaistik und Nahost-Studien, die im Jahr 2021 die »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus« verfassten. In dieser Erklärung heißt es: »Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden.«

 


 

Für die Israelis stellt der 7. Oktober eine Zäsur dar. Wie tief ist sie?

»Sehr tief. Ich glaube nicht, dass ich übertreibe, wenn ich sage, dass sich die Israelis aufgrund des völligen Versagens der Armee und der Geheimdienste nicht nur vom Staat im Stich gelassen fühlen, sondern auch das Gefühl haben, dass der israelische Mythos der Sicherheit untergraben wurde. Es war nicht einmal wie im Jom-Kippur-Krieg von 1973: Damals starben Soldaten, nicht Zivilisten. Diesmal waren ganze Ortschaften völlig sich selbst überlassen und einem Angriff ausgesetzt, der nie zuvor, weder von der Hamas noch von einer anderen israelfeindlichen Gruppierung, verübt wurde. Gegenwärtig herrscht Krieg, es wurden daher noch keine Maßnahmen ergriffen, um die Regierung zu stürzen oder eine Untersuchungskommission einzusetzen, die das Militär und die Dienste zur Rechenschaft ziehen würde. Aber es ist ganz klar, dass Netanjahu für die Menschen am Ende ist, und genauso der Likud. Früher oder später wird es einen Regierungswechsel geben. Das Problem besteht indes darin, dass man sich wieder im Krieg befindet, und ich muss Ihnen nicht sagen, wie die Lage im Gazastreifen ist. Dort geschehen schreckliche Dinge. Aber der wirkliche Schock für die israelische Bevölkerung besteht in der Erschütterung des Vertrauens in die Regierung und die Armee.«

Glauben Sie, dass dies die Ursache dafür ist, dass die Regierung darauf besteht, die Hamas zu zerstören? Versucht sie auf diese Weise, ihr politisches Überleben wieder zu sichern?

»Auf jeden Fall. Sie will es garantieren, und Netanjahu ist bestrebt, es mit allen Mitteln zu erreichen. Er ist einer der gerissensten und perfidesten Politiker, die wir je hatten. Jede Manipulation, zu der er fähig ist, wird er durchführen. Netanjahu wird schon seit fast einem Jahr von der Bevölkerung kritisiert, weil klar ist, dass er das Interesse des Staates seinem Privatinteresse unterordnet. Und sein privates Interesse besteht im Moment darin, das Gerichtsverfahren, das gegen ihn läuft, zu blockieren und einem Urteil zu entgehen. Zu diesem Zweck hat er nicht mehr und nicht weniger versucht, als die Gewaltenteilung in Israel zu unterwandern. Er hat versucht, die Justiz empfindlich zu schwächen und das, was im Grunde ein Staatsstreich war, als Justizreform darzustellen. Hinzu kommt das große Scheitern. Nicht nur am 7. Oktober, sondern auch in den Wochen danach und bis zum heutigen Tag funktionieren Ministerien und Institutionen der Regierung nicht. Es ist die Zivilgesellschaft, die es übernimmt, die Dinge wieder auf die Beine zu stellen. Die Regierung ist weitgehend gelähmt und Netanjahu versucht, seine Haut zu retten.«

Von außen betrachtet scheint die israelische Gesellschaft derzeit sehr geschlossen zu sein.

»Sie ist geschlossen, aber das ändert nichts an der Beziehung zur Regierung. Der Krieg hat eine konsolidierende Wirkung. Die internen Spannungen und Gegensätze heben sich etwas auf, aber das Vertrauen in die Regierung ist so sehr erodiert, dass ich keine Chance sehe, dass Netanjahu überleben kann. Die Frage ist, wie lange er diesen Krieg weiterführen kann. Denn ich glaube nicht, dass die internationale Gemeinschaft eine allzu lange Fortsetzung des Krieges zulassen wird. Die Armee spricht von mindestens drei Monaten für die erste Phase und weiteren neun Monaten für die nächste Phase, d. h. ein Jahr Krieg. Wenn er so lange dauert, wird es früher oder später zu Unruhen in der israelischen Gesellschaft kommen. In einem Punkt ist man sich einig: Die Hamas muss vernichtet werden. Darin sind sich alle einig, und es gibt dazu auch Unterstützung von europäischen Ländern und den Amerikanern.« .

Können Zweifel und Risse in der derzeitigen mehr oder weniger bedingungslosen Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für Israel konkrete Folgen haben?

»Je länger sich der Krieg in Gaza hinzieht, desto mehr werden wir die Folgen der Bombardierungen und des Eingreifens der Bodentruppen sehen. Sehr viele Zivilisten, so viele Frauen, so viele Kinder sterben. In Israel sieht man das weniger, aber überall auf der Welt sehen wir die Bilder von Kindern, die von Bomben zerrissen werden. Es wurden nicht nur am 7. Oktober Kinder getötet, sie werden auch jetzt noch getötet. Je länger das so weitergeht, je mehr die Auswirkungen dessen zunehmen, was euphemistisch ‚Kollateralschäden‘ genannt wird, desto mehr Risse wird es in der Solidarität mit Israel geben. Früher oder später werden sogar die Amerikaner sagen: ‚Jetzt lasst uns einen Waffenstillstand anstreben‘. Und wenn es zu einem Waffenstillstand kommt und die Kriegsziele, die sich Israel selbst gesetzt hat, nicht erreicht werden, wird man sagen, dass die Regierung wieder einmal versagt hat.«

Was denken Sie über die antisemitischen Vorfälle in der Welt und welche Reaktionen gibt es in Israel? Kann der 7. Oktober die Vorstellung, Israel sei ein sicherer Ort für Juden, infrage stellen?

»Ich denke, dass Israel das Konzept des Antisemitismus instrumentalisiert, aber ich denke auch, dass dies mit der fehlenden Unterscheidung zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel zusammenhängt. Es ist möglich, dass sich bei der Kritik an Israel auch Elemente von Antisemitismus einschleichen, aber ich glaube, der Hauptgrund liegt vor allem im Zusammenhang mit dem Krieg und der vehementen Reaktion Israels auf den 7. Oktober. Es muss unterschieden werden zwischen Antisemitismus, bei dem man kategorisch gegen Juden ist, und dem sogenannten Antisemitismus, der sich auf Israel bezieht. Was hat der Jude in New York oder der Jude in Frankreich oder Italien mit dem zu tun, was Israel tut? Israel hat im Übrigen nichts gegen Antisemitismus. Das sage ich schon seit Jahren. Wenn im Ausland antisemitische Vorfälle vorkommen, ist das für Israel nicht ungünstig, man kann dies als Beleg dafür nehmen, dass Israel »der sicherste Ort für Juden« sei. Vor einigen Tagen sagte ein ehemaliger General während einer öffentlichen Podiumsdebatte: ‚Ich kenne Tausende von Israelis, die denken, dass Israel nicht mehr der sicherste Ort für Juden ist‘, und das sage ich schon seit Jahren. Der gefährlichste Ort für den Juden als Individuum ist Israel, denn solange der Konflikt im Mittleren Osten mit diesem Ausmaß an Gewalt fortgesetzt wird, kann er potenziell sogar zu einer Bedrohung für die gesamte jüdische Gemeinschaft in Israel werden. Die umliegenden Staaten, Iran, Saudi-Arabien und die anderen, sind bis an die Zähne bewaffnet.

In diesem Zusammenhang wird das Thema des Antisemitismus instrumentalisiert: Es wird nicht die Frage gestellt, warum Israel so handelt, wie es handelt, oder warum man Israel kritisch gegenübersteht bzw. warum man antisemitisch oder antizionistisch reagiert. Die Frage wird nicht gestellt, weil man den Elefanten im Raum bewusst ignoriert, nämlich das Besatzungsregime, das seit über fünfzig Jahren im Westjordanland und auf den Golanhöhen herrscht… Und obwohl sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat, ist dieser vollständig unter israelischer Kontrolle geblieben. Die Strom-, Treibstoff- und Wasserversorgung steht unter der Kontrolle Israels, und wenn Israel will, dann werden die Arbeitsmöglichkeiten für die Gazabewohner empfindlich beschränkt.

Solange dies andauert, kann Israel nicht erwarten, in Ruhe gelassen zu werden. Die Palästinenser haben ein Recht auf Widerstand. Nicht so, wie er am 7. Oktober praktiziert wurde, aber sie haben ein Recht auf Widerstand. Sie sind ein von Israel tyrannisiertes Volk, das unter repressiver Besatzung gehalten wird. Wenn man sieht, wie Israel den Gazastreifen dem Erdboden gleichmacht, kann man sich vorstellen, dass die nächste Generation von Palästinensern, die Israel zutiefst hassen wird, bereits heranwächst. Solange wir keine politische Lösung anstreben, werden sich Katastrophen wie die gegenwärtige wiederholen, Katastrophen, die wir am 7. Oktober erlebt haben und jetzt in Gaza erleben.«

Halten Sie eine Analyse für sinnvoll, in der das, was am 7. Oktober geschah, nur als Folge der Besatzung dargestellt wird? Wo liegt Ihrer Meinung nach die Grenze zwischen einer Widerstandshandlung, die auch nach internationalem Recht völlig legitim ist, und Terrorismus?

»Die Palästinenser haben prinzipiell das Recht, Widerstand zu leisten, weil sie unter Besatzung stehen. Dass es dann ausartet (es war ein Pogrom, kein Widerstand; es wurden keine militärischen Kräfte, sondern Zivilisten, Frauen, Kinder, Babys angegriffen), ist ein Exzess, der unter keinen Umständen akzeptiert werden kann.

Diese Menschen haben auf barbarische Weise gehandelt. Tatsache ist jedoch, dass die Palästinenser keine Armee haben, sondern nur Kampfformationen, die dem Guerillakrieg oder dem Terrorismus nahestehen. Sie haben keine Luftwaffe, keine Panzerverbände. Aber im Vergleich zu dem, was wir im Westjordanland während der zweiten Intifada erlebt haben, ist das, was am 7. Oktober geschah, ein Ausnahmezustand. An diesem Tag haben tatsächlich Terroristen und nicht Freiheitskämpfer gehandelt. Sie vermochten nicht, sich zurückzuhalten, immer mehr zu morden: Es gibt ein Video von einem jungen Mann, der in ein Haus eindrang und zehn Zivilisten tötete und dann zu Hause anrief, um mit seiner Mordtat zu prahlen. Er rief seinem Vater zu: ‚Gib mir deinen Segen für das, was ich getan habe‘.

Aber ich muss zwei Dinge hinzufügen: Erstens, dass Barbarei auch mit Luftangriffen begangen werden kann, Frauen und Kinder werden in Stücke gerissen; zweitens, dass die Hamas für mich nie eine Befreiungsbewegung war. Für mich sind fundamentalistische religiöse Bewegungen keine Befreiungsbewegungen. Ich bin Marxist und glaube, dass Religion keine Motivation für die Befreiung sein kann, wenn sie nicht mit Ideen der Emanzipation einhergeht. Da die Hamas religiös-fundamentalistisch bewegt ist, ist sie für mich nicht ein Jota besser als die religiösen Fundamentalisten, die wir hier haben. Die Siedler im Westjordanland sind auch nicht besser. Sie haben es freilich nicht nötig, selbst Kinder zu töten, obwohl auch das schon vorgekommen ist –, weil sie das Militär hinter sich wissen. Das Militär agiert »eleganter«, es hat Kampfflugzeuge und Panzer, mit denen es bombardiert. Aber schauen Sie, wie sich die Hamas ihren eigenen Leuten gegenüber verhält. Das indiziert schon, was für eine Gesellschaft aus einer solchen Bewegung entstehen könnte. Das Problem besteht jedoch darin, dass wenn man im größten Gefängnis der Welt lebt, man keine große Demokratie oder eine liberale Zivilgesellschaft entwickeln kann.«

Ich habe den Eindruck, dass mit einigen Aufrufen zur Mobilisierung versucht wird, die Ereignisse vom 7, Oktober zu verharmlosen oder zu verdrängen.

»Die Tatsache, dass Israel derzeit barbarische Handlungen begeht, kann unter keinen Umständen dazu führen, dass man die barbarischen Handlungen vom 7. Oktober verharmlost. Es ist eine Barbarei geschehen, und jetzt gibt es eine Reaktion, die barbarisch ist.«

Die Barbarei nimmt auf beiden Seiten zu.

»Wenn man den Gründen für die Verrohung auf den Grund gehen will, muss man sich darüber im Klaren sein, dass der israelisch-palästinensische Konflikt kein religiöser oder ethnischer Konflikt ist, sondern ein Territorialkonflikt, der mindestens 75 Jahre zurückliegt, seit es den Staat Israel gibt, aber im Grunde genommen, seit die zionistische Bewegung in den Nahen Osten kam und begann, sich dort niederzulassen. Seit fünfzig Jahren ist ein Besatzungsregime etabliert, das die Möglichkeit der Lösung ‚Zwei Völker, Zwei Staaten‘ zunichtegemacht hat. Es muss daher nach anderen politischen Lösungen gesucht werden. Solange ein politischer Ansatz fehlt, solange man den Konflikt nicht lösen, sondern – wie Netanjahu sagt –, verwalten‘ will, solange es diese Besatzung gibt, kann es nur zu weiteren Eskalationen kommen.«

Sie bezeichnen sich als einen Antizionisten.

»Ich bezeichne mich nicht als Antizionisten, ich bezeichne mich als Nicht-Zionisten. Antizionist ist, wer der Meinung ist, dass der Zionismus nie auf die Welt hätte kommen dürfen. Es gibt auch Juden, die so denken, vor allem die Ultra-Orthodoxen, die glauben, dass das Reich der Juden bzw. ein Staat Israel nicht gegründet werden darf, solange der Messias nicht gekommen ist. Es gab Zeiten, in denen die Ultra-Orthodoxen am Unabhängigkeitstag schwarze Tücher aus ihren Fenstern hängten, gleichsam als Zeichen der Trauer. Andere Antizionisten waren auch gewisse kommunistische Juden, die sogenannten Bundisten. Ich war nie Antizionist in dem Sinne, dass ich gesagt hätte, der Zionismus hätte nie das Licht der Welt erblicken dürfen. Meine Eltern haben Auschwitz überlebt, nach der Shoah war die Gründung eines Staates für Juden m. E. eine historische Notwendigkeit. Aber die Tatsache, dass diese Staatsgründung auf dem Rücken der Palästinenser geschah, mithin dass die jüdische Leiderfahrung durch einen Staat wiedergutgemacht werden sollte, der durch ein neues Unrecht gegründet und legitimiert wurde, hat mich zu der Frage veranlasst: ‚Was für ein Zionist kann ich da sein? Als ich sah, dass Israel gar keinen Frieden will, sondern nur daran interessiert ist, sinnlose Kriege zu schüren, nicht zuletzt, um Raum für jüdische Kolonien zu gewinnen, da wurde mir klar, dass ich mit diesem Zionismus nichts mehr zu tun habe.

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass der Zionismus in eine solche Sackgasse geraten ist, dass er keine Überlebenschance hat. Israel ist immer faschistischer und rassistischer geworden, es ist zu einem Apartheidstaat verkommen. Man kann darüber streiten, ob der ursprüngliche Zionismus eine koloniale Bewegung war oder nicht, aber für mich ist klar, dass das Israel, in das ich 1949 hineingeboren wurde, bereits die Nakba, die nationale Katastrophe für die Palästinenser, vollzogen hatte. Zugleich baute es eine Zivilgesellschaft auf, die ganz im Zeichen dessen stand, was die Juden im 20. Jahrhundert erlitten hatten. Der Holocaust war eine deutliche Zäsur in der jüdischen Geschichte.«

Ist es möglich, den Niedergang aufzuhalten, von dem Sie in Ihrem Buch »Israels Schicksal« sprechen?

»Ich meine den Niedergang nicht als metaphysisches oder mystisches Ereignis, sondern als etwas, das strukturell mit der historischen Praxis des Zionismus verbunden ist. Der Zionismus wollte letztlich die nach 1967 besetzten Gebiete nicht zurückgeben. Alle israelischen Regierungen, auch die von Rabin, bauten Siedlungen. Und heute haben wir es mit 650.000 jüdischen Siedlern im Westjordanland zu tun. Das heißt, wenn man die Zwei-Staaten-Lösung heute noch umsetzen will, muss man dafür sorgen, dass sich die Siedler von dort zurückziehen. Da nun Israel die Zwei-Staaten-Lösung untergraben hat (was vor allem das Lebenswerk von Ariel Sharon war), muss man nunmehr einer Tatsache ins Auge blicken: Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer ist eine binationale Struktur entstanden. Ich sage nicht Staat, ich sage Struktur. Denn in diesem Gebiet leben realiter etwa so viele Juden wie Palästinenser, wobei ich zu ihnen auch die in Israel lebenden Palästinenser sowie die im Gazastreifen lebenden zähle.

Diese Struktur kann demokratisch ratifiziert werden, um einen Staat all seiner Bürger zu schaffen. Aber wenn das nicht geschieht, dann hat sich Israel offiziell in einem Apartheidstaat eingerichtet. Da die Juden mit ihrem Staat eine Minderheit dominieren, die bereits keine Minderheit mehr ist, leben wir bereits in einer binationalen Struktur, ob wir es wollen oder nicht, ohne sie aber politisch als solche anzuerkennen. Das ist die Sackgasse, in die sich der Zionismus selbst gebracht hat und für die er keine Lösung hat, weil sich Israel offiziell als ein Apartheidstaat geriert. Deshalb sage ich, dass der Zionismus seinen eigenen Niedergang betreibt: Insofern er zu einem Apartheidstaat verkommen ist, ist er ein Paria in der Welt geworden. Früher oder später wird er sich in der Situation Südafrikas zur Zeit der Apartheid wiederfinden.«

Und glauben Sie, dass das auf der anderen Seite jemand will?

»Von den Palästinensern kann man nichts verlangen, denn sie stehen unter dem Stiefel der Israelis. Es gab einen Moment, den ich im Nachhinein als vermeintliche Utopie bezeichne, Mitte der 1990er Jahre, als Rabin und Arafat bereit waren, aufeinander zuzugehen. Arafat wäre diese Person gewesen. Und auch heute gibt es solche Menschen unter denen, die Israel gefangen hält, zum Beispiel (Marwan) Barghouti. Aber im Moment ist es nicht machbar, weil Israel, besonders unter Netanjahu, die politische Lösung von der staatlichen Tagesordnung weggefegt hat. Niemand in Israel spricht heute über die Besatzung, geschweige denn von einer politischen Lösung. Der Frieden scheint der gegenwärtigen politischen Klasse Israels die größte Bedrohung zu sein. Die nationalreligiösen faschistischen Kräfte sind inzwischen so stark geworden, dass sie nicht mehr nur ein Anhängsel, sondern zu einem dominanten Faktor in der israelischen Politik avanciert sind. Denken Sie daran, wohin Bezalel Smotrich und Ben Gvir heute gekommen sind. Ben Gvir ist ein Kahanist, ein Nachfolger von Meir Kahane, dessen KACH-Partei in den 1980er Jahren vom israelischen Parlament verboten wurde. Heute ist Ben Gvir (und seine Partei Otzma Yehudit / ‚Jüdische Stärke‘) nicht nur nicht verboten, sondern er ist Polizeiminister. Und der andere – Finanzminister Smotrich ist nicht besser als er. Ein anderes Thema ist, was die Palästinenser wollen. Doch die Palästinenser sind gezwungen, das zu wollen, was die Israelis ermöglichen. Und die Israelis machen derzeit nichts möglich.

Der z. Z. noch laufende militärische Konflikt zeichnet sich darin aus, dass Israel nicht wirklich weiß, was es für den Gazastreifen künftig will. Zwar hat man sich als Kriegsziele die Niederschlagung der Hamas und die Befreiung der israelischen Geiseln aus der Hamas-Gefangenschaft vorgenommen, aber beide Ziele scheinen im Moment unerreichbar zu sein. Man hat es bis jetzt nicht geschafft, die Hamas militärisch zu demontieren, und es ist fraglich, ob diese Zielsetzung überhaupt real ist – Hamas ist eine Idee, und eine Idee kann man nicht militärisch liquidieren. Auch das Erreichen des Ziels der Geiselbefreiung scheint in immer größere Ferne zu rücken, zumal dieses Ziel im Widerspruch zum anderen steht: Wenn man Hamas militärisch kampfunfähig gemacht hat, ist es fraglich, ob die Geiseln lebend davonkommen werden. Die politische Lösung ist von der Sicht der Netanjahu-Regierung mehr als prekär, denn man will weder der Hamas noch der PLO die Herrschaft über Gaza übergeben. Wenn es nach Netanjahu ginge, gebe es überhaupt keine politische Lösung für den Konflikt; es liegt in seinem Interesse, den Krieg so lange wie möglich weiterzuführen und die Lösung des Konflikts weiterhin von der Tagesordnung fernzuhalten. Es fragt sich gleichwohl, was die Amerikaner, vor allem aber die Palästinenser selbst wollen. Man vergesse nicht, dass zwischen der PLO und der Hamas eine Feindschaft herrscht, die sich nicht mir nichts, dir nichts unter den Teppich kehren lässt. Die Palästinenser sind innerlich von einem lange währenden Machtkampf gebeutelt. Und was die Zwei-Staaten-Lösung anbelangt – ich sehe nicht, wie sie heute noch verwirklicht werden kann. Denn sie würde implizieren, dass den Palästinensern ein Territorium zur Verfügung gestellt wird, auf welchem sie ihren Staat gründen und etablieren können. Aber welches wäre denn dieses Territorium? Es müsste das Westjordanland sein, welches aber Israel seit Jahrzehnten mit Vorbedacht jüdisch besiedelt hat, damit es eben nicht zur palästinensischen Staatsgründung kommt. Ich muss ehrlich gestehen, dass auch für mich eine reale politische Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern im Dunkeln liegt – Israel will die Zwei-Staaten-Lösung nicht, und die Palästinenser sind zu machtlos, um diese zu erwirken.

8. November 2023


Zur „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“ kommt man hier.


Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*