Dezemberanfang 1946 in Habana-Vedado auf Cuba. Bald vierzehn Jahre Exil liegen hinter August Thalheimer, nachdem der Faschismus in Deutschland an die Macht gelangte und mit der Okkupation fast ganz Europas auch ihn aus Frankreich zur Flucht nach Übersee zwang. Obwohl das Naziregime seit anderthalb Jahren nicht mehr existiert, kann der aus Württemberg stammende führende oppositionelle Kommunist seine Rückkehr nach Deutschland seitdem nicht in die Wege leiten. Wenige Monate nach Kriegsende hatte er in seiner Schrift „Die Potsdamer Beschlüsse“ scharfe Kritik an der Deutschlandpolitik der Siegermächte in Ost und West geübt. Im Hinblick auf die westlichen Alliierten ist sich Thalheimer darüber im Klaren, welches Hauptmotiv ihre Besatzungspolitik nun leitet: „Nach der zerschmetternden Niederlage des deutschen Imperialismus tritt jetzt der Krieg gegen die Sozialistische Revolution in Deutschland in den Vordergrund.“
Zum eingangs genannten Zeitpunkt bemerkt er in einem Brief an seine Schwester Bertha Thalheimer: „Du kannst Dich darauf verlassen, daß wir alles Menschenmögliche tun, um so bald wie möglich nach Europa zurückzukommen – 5 Jahre Tropenaufenthalt ohne Unterbrechung sind gerade genug. Wenn ich darüber keine Einzelheiten schreibe, so deshalb, weil ich weiß, wie viele Quertreiber hier bereit stehen, einem Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wenn sie nur irgendeinen Anhaltspunkt haben. Auch Dir würde ich sehr empfehlen, die demokratische Tugend des Misstrauens im Briefverkehr sehr viel weitgehender zu üben.“
Doch Ende Juli 1948 hält der Nervenkrieg um die Ausreise immer noch an. Die einleitenden Sätze eines Schreibens an seinen politischen Weggefährten Heinrich Brandler, der Kuba vor Jahresfrist per Schiff Richtung England verlassen konnte, sind deutlich genug: „Ich habe immer wieder verschoben, Ihnen zu schreiben, in der Erwartung, dass die Geschichte mit der Cobanidad in den jeweils nächsten Tagen in Ordnung kommen werde. Und dann auch aus Verdruss, dass immer neue Verzögerungen, Formalitäten usw. auftauchen – trotz aller Versprechungen, Zusicherungen usw. Über die Details zu schreiben, ist zu ekelhaft. Mit ein paar hundert Pesos wäre die Sache sicher längst in Ordnung, aber ich habe sie nicht. So bleibt mir nichts übrig, als den Ochsenweg weiter zu schleichen, bis die Sache endlich klappt…“.
Aber die Hoffnung erfüllte sich nicht. Knapp zwei Monate später, nachmittags am 19. September 1948, erliegt August Thalheimer einem plötzlichen Herzanfall.
In ihrer Rückantwort auf die von Brandler übermittelte Todesnachricht wertet Bertha Thalheimer in Stuttgart zu Oktoberanfang den politischen und persönlichen Verlust: „Für unsere Sache ist das ein schwerer Schlag. Und auch sonst ist es traurig, dass in der allgemeinen geistigen Verwirrung dieser klarste marxistische Kopf nicht mehr zu vernehmen ist. Er ersehnte dringendst seine Rückkehr nach hier, um hier zu wirken und seine literarischen Arbeiten fortzuführen und zum Abschluss zu bringen. Glaube mir, ich wie auch Freunde gaben uns alle Mühe, um seine Rückkehr möglich zu machen.
Aber nicht nur die Bürokratie und die allgemeine Festigung der bürgerlichen Kräfte, sondern ebenso die Arbeiterparteien tragen ihr gerüttelt Schuld an der Unmöglichkeit der Rückkehr von A. Ich kann das durch Einzelheiten nachweisen. Wäre August vor einem Jahr zurückgekehrt, so wäre diese Katastrophe nicht erfolgt. Obwohl nie eigentlich krank, spürte er doch die Unterwühlung seiner Lebenskräfte. Schrieb er doch einmal, länger wie bis 48 kann er nicht auf Cuba bleiben.“
Im Lebensweg August Thalheimers spiegeln sich die Etappen und Brüche des Aufstiegs der kommunistischen Bewegung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wider. Aufgewachsen in einem wohlhabenden Elternhaus, arbeitete Thalheimer nach seinem Studium der Sprachwissenschaft und Völkerkunde seit 1909 als Redakteur beim Parteiblatt der Göppinger SPD und wechselte nach 1912 zum Braunschweiger „Volksfreund“. Von Kriegsbeginn 1914 an unterstützte er den entstehenden „Spartakusbund“, organisatorischer Vorläufer der dann zum Jahresende 1918 konstituierten KPD. In den folgenden heftigen Klassenkämpfen formierte sich die KPD zur Massenpartei und entwickelte mit dem Konzept der Einheitsfronttaktik ab 1922/23 solche politische Stärke, dass wenigstens die erste Welle des konterrevolutionären Ansturms auf die junge bürgerliche Republik gebrochen werden konnte. Weiterreichende Energien konnte oder wollte die Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft in der Inflationszeit nicht aufbringen. Herausgedrängt aus der Führung der KPD als „Verantwortliche“ für die enttäuschten überhöhten revolutionären Hoffnungen des Herbstes 1923, zudem auf der Fahndungsliste der deutschen Polizei, verbrachten Thalheimer und Brandler mehrere Jahre „kominterniert“ in der Sowjetunion.
Aus dieser Zeit stammen einige der bekanntesten theoretischen Schriften Thalheimers. Insbesondere sind das seine Kritik am Programmentwurf der Kommunistischen Internationale, die Vortragsreihe „Einführung in den Dialektischen Materialismus“, gehalten an der Sun-Yat-Sen-Universität, und der zusammen mit Adam Deborin verfasste Sammelband „Spinozas Stellung in der Vorgeschichte des Dialektischen Materialismus“.
Nach zugespitzten, noch intern geführten Debatten über den weiteren Kurs der KPD setzten Thalheimer und Brandler in Sorge um die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Deutschland ihre Rückkehr nach dort durch und gründeten mit Anderen zur Jahreswende 1928/29 die KPD-Opposition als kommunistische Strömung mit dem Ziel, gemäß dem Konzept der Einheitsfronttaktik eine gemeinsame Abwehrfront der Arbeiterschaft gegen das Krisenelend und den erstarkenden Faschismus zu bilden. Sie befürchteten, dass der eingeschlagene ultralinke Kurs der KPD mit seiner „Sozialfaschismus“-These die Spaltung der Arbeiterbewegung vertiefen und die gemeinsame Niederlage herbeiführen würde.
Angesichts der politischen Lage kam Thalheimer im Mai 1930 zum Schluss: „Der Parlamentarismus ist für das Trustkapital in Deutschland ein Hemmnis, eine Fessel geworden, vor allem, weil er ein bestimmtes Maß von Zugeständnissen an die Arbeiterklasse erfordert (Sozialpolitik, Steuern usw.), weil er ein wesentliches Element der Unsicherheit in die kapitalistische Politik bringt. Die bürgerliche Demokratie ist weiter zur Fessel für die Trustbourgeoisie geworden, weil sie den Boden abgibt für den organisierten Widerstand der Arbeiterklasse.
Man kann die demokratischen Rechte der Arbeiter aber nur aufheben, indem man sie allgemein, für alle Klassen aufhebt. Die Kapitalherrschaft wird dadurch aber nicht geschwächt, sondern gestärkt, an die Stelle direkter aber verschleierter Kapitalsherrschaft tritt die indirekte aber offene Kapitalsdiktatur. Sie ist eine stärkere, brutalere Form der Kapitalherrschaft. Ihre moderne Erscheinung ist der faschistische Staat.“ (Gegen den Strom, 3.Jg, Nr. 19′) Dieses zu verhindern, dazu reicht allein die Agitation und Propaganda für die Einheitsfront der Werktätigen bei weitem nicht aus. Geschlossene Massenaktionen der Arbeiterschaft können nur entstehen, wenn konkrete
Tagesziele, Tageslosungen und Forderungen mit Übergangscharakter eine Realisierungschance im Interesse der Beteiligten verheißen. Und anhand ihrer eigenen Kampferfahrungen können sie prüfen, wer oder was ihrem Kampf gegen die Übergriffe des Kapitals schadet oder nützt.
Hierzu bemerkt die aus einem kollektiven Diskussionsprozess hervorgegangene „Plattform“ der KPO: „Die Reformisten haben das Bestreben, die Tageskämpfe der Arbeiter in dem Rahmen zu halten, der mit dem Bestand des bürgerlichen Staates und der kapitalistischen ‚Ordnung‘ verträglich ist, d.h. diese nicht erschüttert. Dadurch sind sie genötigt, diese Kämpfe möglichst zu vermeiden, ihre Ziele möglichst niedrig zu setzen, sie in ihrer Entfaltung zu hemmen und sie zu verraten, sobald sie in revolutionäre Gleise, d.h. in den Kampf um die Macht überzugehen drohen.
Die Reformisten gehen in bestimmten Zeitabschnitten sogar dazu über, gemeinsam mit der Bourgeoisie Reformen selbst direkt abzubauen.
Die Kommunisten kennen keine solchen Rücksichten. Sie bestimmen die Ziele der Tageskämpfe nicht entsprechend den Bedürfnissen der Erhaltung der kapitalistischen ‚Ruhe und Ordnung‘, sondern entsprechend der vorhandenen Kampfkraft der Arbeiter. Sie sind bestrebt, die Kampfkraft der Arbeiter zu steigern.“
Selbst die Außerkraftsetzung des Tarifrechts durch den Reichskanzler von Papen im September 1932 veranlasste die Verbandsspitzen des ADGB nicht, den Proteststreik auszurufen, um die überfällige Kraftprobe zu wagen. Thalheimers Mahnungen für einen situationsgerechten Einsatz der an sich noch gegebenen gewerkschaftlichen Kampfkraft verhallten. „Der politische Einsatz der Gewerkschaften ist der Hammerschlag, der dem gewerkschaftlichen Einzelkampf erst wieder eine Bresche schlagen kann. Er wird den Gewerkschaften nicht nur erst wieder die Bahn für den Lohnkampf freimachen, sondern darüber hinaus in jedem Betrieb das Ringen mit dem Unternehmer um die Leitung des Betriebes eröffnen, um die Weiterführung stillgelegter Betriebe durch Arbeiter und Angestellte, um diesen ersten praktischen Schritt des sozialistischen Auswegs aus der Wirtschaftskrise.“ („Wie schafft die Arbeiterklasse die Einheitsfront gegen den Faschismus“, 1932)
Als am Abend des 30. Januar 1933 August Thalheimer in einem Brief an den Vorstand des ADGB, der SPD und dem ZK der KPD darauf verwies, dass „die Aufgabe der Stunde die Proklamation des Generalstreiks zur Beseitigung der Hitlerregierung und der Niederkämpfung der faschistischen Hitlerbanden“ wäre, blieb dennoch die Erkenntnis unausweichlich, „den Kampf gegen den Faschismus auch im Wettlauf der Zeit vorerst verloren zu haben.“
Bevor der deutsche Faschismus mit seinem Drang nach „Lebensraum im Osten“ sechs Jahre später den Zweiten Weltkrieg auslöste, forderten insbesondere die Niederlagen der Volksfrontpolitik in Spanien und Frankreich neben den geradezu unglaublich abstrusen Schauprozessen und Gewaltmaßnahmen in der Sowjetunion gegen vermeintlichen „Verrätercliquen“ Stellungnahmen vom proletarisch-internationalistischen Standpunkt heraus. Im französischen Exil federführend in der Leitung der Internationalen Vereinigten Kommunistischen Opposition/IVKO), bestimmte August Thalheimer zielklare marxistische Positionen und warnte vor der Koalitionspolitik (Volksfront) der „stalinisierten“ kommunistischen Parteien mit bürgerlichen Demokraten, deren kapitalistische Eigentumsinteressen konsequente revolutionäre Politik unmöglich machen.
In Bezug auf die Ereignisse in der Sowjetunion durfte die Kritik die langfristigen Wirkungen auf die Zukunft des internationalen Kommunismus nicht ausblenden. Folgende Textpassage diagnostiziert bereits das Kernsyndrom des späteren Verfalls der SU, in der Thalheimer konstatiert, „dass die gegenwärtige Führung der KPdSU mit Stalin an der Spitze nicht gewillt und nicht fähig ist, mit dem System der bürokratischen Selbstherrlichkeit aufzuräumen, sondern dass sie es auf die äusserste Spitze treibt und mit den Methoden der blutigen Gewalt und des ungeheuerlichen Massenbetrugs gegen den wachsenden Druck und die angesammelte Empörung von unten zu halten und zu befestigen sucht. Diese Methoden erschüttern und zersetzen aufs Tiefste das Gefüge der Sowjetmacht. Sie versetzen dem Kommunismus die schwersten Schläge, die ihm irgendwann und von irgendwem versetzt worden sind.“ (Büro der IVKO, 1937)
Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges in Europa und Asien veränderte die politische Weltkarte weitreichend. Die Grundkonstellation der Einflusssphären hatte sich vereinfacht, damit aber auch verschärft. In Europa behielt diese im Frühjahr 1945 in der Konferenz von Jalta ausgehandelte grobe Grenzlinie von der Elbe bis zur Adria ihre Gültigkeit bis 1990. Imperialistisches und sozialistisches Lager standen sich nun unmittelbar als gegensätzliche Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme gegenüber. Dieser Gegensatz bedingte die weitere Entwicklung im innen und außenpolitischen Klassenkampf. Für Thalheimer war „der wirkliche Gegensatz (…) die kapitalistische Zielrichtung auf der einen Seite, die sozialistische auf der anderen Seite. Oder hier die Erhaltung des status quo, wo er bürgerlich ist, und damit des bisherigen Machtverhältnisses der Klassen, dort die Veränderung des gesellschaftlichen status quo in der Richtung zum Sozialismus und zur Entmachtung der bisher herrschenden Klassen. In beiden Fällen spielt die militärische und wirtschaftliche Gewalt, in offener oder versteckter Form, die entscheidende Rolle.“
Alle Kritik an den „Stalin’schen Methoden der sozialistischen Ausdehnung“, hob Thalheimer in der Broschüre „Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nach 1945“ hervor, durfte aber nicht vergessen: „Die Sowjetunion hat die Aufgabe der Eroberung Deutschlands nicht willkürlich gewählt. Sie ist die Folge des ihr von Nazi-Deutschland aufgezwungenen Verteidigungskrieges einerseits, des Verzichts darauf, den Krieg als revolutionären Krieg zu führen (aus Rücksicht auf die kapitalistischen Verbündeten, H.Z.), andererseits. Aus dieser Lage sind nur zwei Auswege denkbar: der erste, die rascheste Entwicklung der selbständigen Aktion und der Verteidigungsfähigkeit der arbeitenden Klassen in dem eroberten Lande und dann – Räumung. Der zweite umgekehrte: der Versuch, die Fremdherrschaft im Lande immer mehr auszubauen und dauernd zu machen, mit allem was dazugehört. Dieser zweite Weg könnte nur enden mit einer Katastrophe für das erobernde Land und einer tiefgehenden und lange anhaltenden Schwächung des Sozialismus und Kommunismus.“
Offensichtlich standen der „Staatssozialismus“ der Sowjetunion mit seinen barbarischen Zügen in Widerspruch zu allen Vorstellungen, die in westlich-kapitalistischen Ländern als Maßstäbe des Sozialismus im positiven Sinne galten. Aufgrund der verschiedensten Auffassungen zu dieser Frage verstand August Thalheimer es als eine grundlegende Aufgabe, für den Fortgang der sozialistischen Gesamtbewegung, deren weitertreibenden Part nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Arbeiterklassen Westeuropas einzunehmen hätten, den Charakter und damit das Verhältnis zur Sowjetunion zu klären. Ob die SU sozialistisch war oder nicht, konnte nur aus ihren materiellen inneren Voraussetzungen begriffen werden und nicht aus Programmen oder Wünschen. Unabweisbar war mit dem wachsenden Kollektiveigentum an Produktionsmitteln und Rohstoffen ein sozialistischer Entwicklungsabschnitt erreicht, dessen Fortgang neue Stufen und somit auch neue Formen des Klassenkampfs hervorrufen würde. (s. Grundlagen der Einschätzung der SU, 1946)
Mehr als einen konjunkturellen Aufschwung von der Dauer eines halben Jahrzehnts erwartete August Thalheimer in der unmittelbaren Nachkriegszeit für den Kapitalismus nicht. Aller Erfahrung nach stand für ihn fest, dass eine konsolidierte bürgerliche Demokratie nur dauerhaften Bestand auf der Basis einer neuen Blütezeit der kapitalistischen Wirtschaft haben konnte. Anzeichen ökonomischer Instabilität schienen das Gegenteil zu bestätigen. Wenige Monate vor seinem Lebensende merkt er an: „Ist es nicht für den Zustand des Weltkapitalismus im Ganzen höchst bezeichnend, dass das wirtschaftlich stärkste und fortgeschrittenste kapitalistische Land der Welt, die USA, bereits im 3. Jahre nach dem Ende des Weltkrieges in der verstärkten Produktion von Kriegsmitteln den Ausweg suchen muss, um den Abstieg des Exports und der inneren Konjunktur, der bereits eingesetzt hatte, aufzuhalten und so die Wirtschaftskonjunktur künstlich zu verlängern?“ Unterschätzte Thalheimer die Nachfragewirkung eines ausgeweiteten Massenkonsums auf den inneren, damit aber auch weltweiten Märkten wenigstens der entwickelten kapitalistischen Ökonomien? Er schien das nicht völlig auszuschließen, denn bereits Ende November 1946 äußerte er diesbezügliche Überlegungen in einem Brief an seinen dänischen Freund Mogens Boserup: „Eine gründliche theoretische Auseinandersetzung mit Keynes wäre sehr wünschenswert. Dass ‚Vollbeschäftigung‘ überhaupt unter kapitalistischen Verhältnissen zeitweilig möglich ist, hat ja der Krieg bewiesen (im übrigen schließt jeder Konjunkturzyklus einen Abschnitt der ‚Vollbeschäftigung‘ ein). Die Frage ist: 1) Ist dauernde Vollbeschäftigung unter kapitalistischen Verhältnissen möglich? Wenn ja, 2) welches sind dafür notwendige und zureichende Bedingungen? 3)Was bedeuten die Bedingungen a) für die Arbeiterklasse, b) für die Gesellschaft im ganzen?“
Tatsächlich begann die Jahrzehnte währende wachsende Integration der lohnabhängigen Bevölkerung in einen immer produktiveren Kapitalismus mit stetig erhöhtem Massenkonsumniveau, aus der die herrschende Ordnung ihre Akzeptanz gewann. Selbst die überwiegende Mehrzahl der Werktätigen in den relativ fortgeschrittensten europäischen sozialistischen Ökonomien ließ sich vom Seitenwechsel in den Kapitalismus nicht abhalten!
Wenn heute erst wieder die gesellschaftlichen Widersprüche sich krasser bemerkbar machen und niemand sich dem entziehen kann, gewinnt die von August Thalheimer vor 75 Jahren gezogene Konsequenz neue Aktualität: „Die Zeit ist gekommen für eine neue geschichtliche internationale Initiative der Arbeiterklassen Mittel- und Westeuropas. Aber das wird sich nicht von heute auf morgen verwirklichen.
Die objektiv gestellte Aufgabe subjektiv zu erfassen, sich dafür vorzubereiten und sie dann in Angriff zu nehmen, wird viel Zeit und Arbeit kosten. Die unmittelbar auszuführende Vorbereitung kann nur bestehen in der Herausbildung solcher kommunistischer Parteien Mittel- und Westeuropas, die fähig sind, ihrerseits die Macht zu erobern, zu halten und schöpferisch anzuwenden.
Die Aufgabe als solche zu erkennen, ist der Anfang zu allem Weiteren.“
Hubert Zaremba, Göttingen
Als Ergänzung veröffentlichen wir hier erneut einen kurzen Beitrag aus der Arbeiterpolitik von 1978 anlässlich des 30 Todestags von August Thalheimer:
August Thalheimer: Sozialistische Revolution in Deutschland
Am 19. September 1948 starb August Thalheimer, einer der Mitbegründer der KPD und einer ihrer Führer bis 1924, in der politischen Emigration auf Kuba – Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Grundlagen der Nachkriegsgesellschaft in der BRD möchten wir statt eines Gedenkartikels dem kritischen Leser den folgenden Auszug eines Aufsatzes von Thalheimer von 1945 zur Kenntnis bringen. Er erschien seinerzeit in einer kleinen englischen Zeitschrift (»Socialist Correspondance«).
- Prof. Salvemini, der bekannte italienische Historiker, sagte einmal, daß England und die Vereinigten Staaten zwei Kriege in Italien führten, einen gegen den nationalsozialistischen und faschistischen Imperialismus, den anderen gegen die sozialistische Revolution in Italien.
Dasselbe gilt vom Krieg gegen Deutschland. Es war ein Krieg gegen den deutschen Imperialismus und gleichzeitig ein Krieg gegen die sozialistische Revolution als den möglichen Nachfolger des Naziregimes.
Die Russen waren genötigt, darauf zu verzichten, den Krieg gegen Deutschland als einen offen und klar revolutionären Krieg zu führen. Sie mußten mit ihren Verbündeten Kompromisse schließen.
Es boten sich zwei wirksame Mittel, um eine revolutionäre sozialistische Erhebung gegen das Hitlerregime wahrend des Krieges zu verhindern.- Die Formel der »bedingungslosen Kapitulation« wurde nicht nur dem Naziregime gegenüber aufgestellt, sondern auch gegenüber jedem nachfolgenden antifaschistischem Regime. Keine Revolution war denkbar mit der Aussicht einer langjährigen militärischen Besetzung Deutschlands, der Vernichtung der nationalen Einheit und Unabhängigkeit, Annektionen im Osten und Westen, Sklavenarbeit usw. So wurde jeder Revolution ein vernünftiges Ziel genommen.
- Die Benutzung deutscher Generäle durch die Russen. Das verhinderte endgültig die Bildung revolutionärer Kerne innerhalb der regulären Armee, und ohne solche Kerne war es nicht möglich, die SS-Truppen, Gestapo usw. d.h. die gewaltige Terrormaschine der Nazis zu zerstören.
- Diese zwei Tatsachen erklären vollständig, warum die deutsche Armee bis zum Letzten kämpfte und warum es den Nazis möglich war, die Macht bis zum letzten Moment zu behalten und die traurige Tatsache, daß das deutsche Volk vom Naziregime an die Alliierten Mächte wie eine Hammelherde übergeben werden konnte.
- Nach der bedingungslosen Kapitulation hat der Kampf um Deutschland unter den Besatzungsmächten begonnen, d.h. hauptsächlich zwischen den Russen auf der einen und ihren Verbündeten auf der anderen Seite.
Es ist immer noch wahr, was Lloyd George 1917 sagte, daß der Besitz Deutschlands durch Rußland, das heißt die Verbindung der ökonomischen und militärischen Kräfte eines größeren Rußlands und Deutschlands das Übergewicht des Sozialismus für ganz Europa bestimmen wurde: es würde den Sieg des Sozialismus in kurzer Zeit sichern.
Deshalb ist der Kampf um Deutschland, der schon wahrend des Krieges begonnen hatte, entscheidend für das Schicksal des Weltkapitalismus. Daher wird er so hart und so lange wie möglich ausgefochten werden. Das Mindeste, worum es den kapitalistischen Mächten geht, ist möglichst viel Zeit zu gewinnen für das Überleben des Kapitalismus in Deutschland. - Es ist nicht möglich, hier eine ausführliche Analyse der Klassenverhältnisse in Deutschland nach der militärischen Niederlage des Naziregimes zu geben. Eine solche Analyse würde zeigen, daß die inneren Klassenverhältnisse Deutschlands vollkommen reif sind für eine sozialistische Revolution eines höheren Typs als es die russische Revolution war und jetzt ist. Aber infolge der Niederlage ohne eine vorhergehende revolutionäre Erhebung und infolge der vollständigen Besetzung des Landes können die inneren Verhältnisse sich nicht frei auswirken. Die Verhältnisse werden sehr verschieden sein zwischen den von den kapitalistischen Alliierten und den von den Russen besetzten Zonen.
- In den kapitalistischen Besatzungszonen werden alle Mittel angewendet werden, um revolutionäre Entwicklungen (sogar bürgerlich-demokratische) zu verhindern oder wenigstens hinauszuschieben und die Grundlage der kapitalistischen Wirtschalt soweit wie möglich zu erhalten für die bisher herrschenden Klassen – alles natürlich in Abhängigkeit von den Besatzungsmächten. Das allgemeine Ziel kann hier bestimmt werden als die Erhaltung eines schwachen und abhängigen kapitalistischen Deutschlands, das nicht leben kann und nicht sterben darf.
Auf die Dauer ist das unmöglich. Aber die kapitalistischen Mächte planen nicht für eine unbegrenzte Zukunft, sondern für die Gegenwart und die allernächste Zukunft.
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